Tschinku im Gastland

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Ich will auch daran glauben, dass das Bestehen meiner Prüfung zur Mittleren Reife, bei der ich die beste Note im ganzen Distrikt bekam, mich nicht dazu motivierte, meinen Ehrgeiz so zu treiben, dass ich vom Gymnasium träumte, das die meisten so genannten Intellektuellen meiner Provinz, die Akowe, aus­gebildet hatte. Meine verständliche Motivation, immer höher und schneller in der Schule voranzukommen, mag keine Rolle für meine Entscheidung gespielt haben, mich für die Aufnahmeprüfung dieses begehrten, aber vom Wohnort meiner Großeltern weit entfernten Gymnasiums zu melden.

Ich will denken, dass das Verhalten meiner Stiefmutter mir gegenüber - der Nebenfrau meines Vaters, der Cleopatra, deren junger Charme, Liebreiz und Schönheit meinen Vater in die Polygamie trieben, obwohl er katholisch war - keine große Rolle bei dieser Entscheidung gespielt hatte.

Dass meine Stiefmutter allerlei Tricks eingesetzt hatte, damit das Vertrauen und die versteckte kindliche Liebe, die ich für meinen Vater mittlerweile entwickelt hatte, verschwand, das mag keine Rolle in meiner Entscheidung gespielt haben. Dass sie es geschafft hatte, den Stolz auf meine schulischen Leistungen und auf mein Verhalten überhaupt, den die Augen meines Vaters ausstrahlten, sinken zu lassen, damit das heimliche Einverständnis, das zwischen Vater und mir nun herrschte, zugunsten ihrer eigenen Töchter wich. Das alles mag mein Fernweh nicht verschärft haben.

Ich bin bereit zu glauben, dass die drei mühsamen und höchsterfolgreichen Jahre, die ich in diesem Bouke-Gymnasium, dieser Kaderschmiede par excellence, verbracht hatte, nicht dazu beigetragen hatten, dass ich mein Abitur auf Anhieb bestand - diese Abschlussprüfung, die für die meisten von uns damals eine Gedenkfeier geworden war, die jedes Jahr erfolglos zelebriert werden musste. Ich will annehmen, dass mein Bestehen dieser Prüfung mit einer Eins, der begehrten Mention très bien, die Entscheidung der zuständigen Behörden auf keinerlei Art und Weise beeinflusst hatte, damit mir ein Stipendium fürs Wirtschaftsstudium in Deutschland gewährt wurde.

Ich will denken, dass dieses sehr willkommene Stipendium mir gleich war, als ich sowohl meine Geliebte Laadi als auch meine von meiner Oma kurz vor ihrem Tod und ohne meine Zustimmung auserwählte Verlobte Assiou abservieren musste, weil mir klar war, dass ich nicht vor fünf Jahren zurückkommen würde und dass mein quasi fast vorprogrammierter Harem somit ein aussichtloser Hauch von Abenteuer sein sollte, in diesem Land der Vielweiberei, wo der Brautpreis - der Kopfpreis von Frauen - angesichts der offenen und manchmal unfairen Konkurrenz zwischen Männern aller Generationen immer höher getrieben war. Wie es auch sein mag, vielleicht hatten das Stipendium und das Studium mit meiner rücksichtslosen und kaltblütigen Entscheidung gar nichts zu tun.

Aber, Barka, glaubst du selbst, dass die Natur gerecht und fair wäre, wenn ich mir damals so viel Mühe gegeben hätte, damit ich bei meinem Opa aufwachse, und er mir dann nicht helfen würde, wenn er hier wäre und ich in unlösbaren Schwierigkeiten stecke und, auf gut Deutsch „vor Dreck starre“?

Diese Formulierung verstand ich als rhetorische Frage, also schwieg ich und wartete darauf, dass mein Gegenüber entweder weitersprach oder eine richtige Frage formulierte. Da allerdings auch Jakubu schwieg, als würde er tatsächlich von mir eine Antwort erwarten, beschloss ich etwas zu unternehmen. Ich berührte den silbernen Ring, den er auf dem linken Ringfinger trug und sagte:

„Schöner Ring!“

Meine Absicht war eigentlich, die trüben Gedanken meines Freundes auf eine andere Idee, auf ein anderes Thema, zu lenken. Insbesondere wollte ich, dass er über seine eigene Familie sprach. Warum sprach er denn nicht von seiner jetzigen Situation? Das waren die Fragen, die ich mir innerlich stellte in der Hoffnung, dass er meinen billigen Psychotrick entdeckte und mir sagte: „Netter Versuch, ich weiß, dass du darauf brennst, etwas über meine Ehe zu erfahren“. Doch sowas kam nicht von seiner Seite. Ich verstand, dass ich jetzt etwas sagen musste, um das Gespräch am Laufen zu halten. Also sagte ich:

„Jakob, was ist los? Warum sprichst du nicht mehr?“

„Weil ich Jakubu heiße und nicht etwa Johannes der Täufer, die Stimme, die in der Wüste ruft. Ich spreche nur, wenn ich einen Gesprächsteilnehmer habe. Du weißt nicht mal, worüber ich bisher gesprochen habe.“

„Natürlich weiß ich das. Ich wollte dich nur nicht unterbrechen. Du sprachst gerade von deinen damaligen Freundinnen und wolltest gerade von deiner Frau sprechen. Natürlich höre ich dir zu.“

Das mit seiner Frau war natürlich gelogen. Ich wollte meinen Gesprächspartner nur auf dieses Thema bringen. Entweder hatte er mir gar nicht zugehört oder er wollte mir diesen Gefallen nicht tun. Denn anstatt von seiner Familie in Deutschland zu reden, erzählte er weiter über das Märchen mit dem Scharlatan, das mir mittlerweile peinlich war:

„Ich bin bereit, die Prophezeiung des erfreulicherweise niemals mehr aufgetauchten, namenlosen und unbekannten Scharlatans zu akzeptieren. Aber bei aller Hochachtung vor eurem Glauben und vor unserer Tradition kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich mein Opa in irgendeiner Form irgendwo hier im Wind, in der Natur, im kalten Winter herumtreiben könnte. Ich kenne doch meinen Opa. Angenommen, er wäre tatsächlich nach seinem Tod in einer europäischen Gestalt wiedergeboren, sagen wir vorsichtig wie Nietzsche, in eine „blonde Herrenbestie“, in einem Weihnachtsbaum, in einem Schäferhund oder in einem Dobermann, so wäre er längst von hier weg, um seine Lebensgefährtin nach deren Tod ausfindig zu machen. So unzertrennbar waren die beiden. Ich kenne doch meine Großeltern.

Wie auch immer, ich weiß nur eins: Mein Großvater ist nicht hier in Ommersheim. Der einzige Großvater, den es hier in Deutschland gibt, ist Opa Wagner, der Großpapa meiner Kinder, der Vater von Uta, mein Schwiegervater. Und der kann mir in meiner Ehekrise auch nicht helfen. Er darf nicht. So läuft es hier. Hier kommt der Herkules nie vorbei. Hier muss jeder Mensch seinen Augiasstall selbst reinigen. Auch hier wird die schmutzige Wäsche in der Familie gewaschen, allerdings ausschließlich in der Familie und nicht etwa in der Großfamilie. Egal wie lieb Opa Wagner seine Tochter hat, egal wie verständnisvoll er mir gegenüber ist, er darf nicht in meine Ehe eingreifen. Das nennt man hier Privatleben. Und das ist auch gut so. Denn er war auch nicht da, als ich mich mit Uta das erste Mal getroffen hatte. Als wir uns liebten, da waren weder Opa noch Oma, noch Vater, noch Mutter, noch Geschwister, noch Verwandte dabei. Soll ich Dir unsere kurze Liebesgeschichte erzählen?“

Bevor ich auf diese Frage antwortete, musste ich nachdenken, weil ich nicht wollte, dass mein Freund die erwähnte Ehekrise erläuterte. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm helfen konnte. Es war mir klar, dass unsere Tricks der Großfamilie, auf die Jakubu offensichtlich anspielte, hier nicht funktionieren würden: Diese Alibis in Richtung „bleibt zusammen wegen der Kinder“ oder „unsere Familien wollen, dass wir weiterhin verheiratet bleiben“ oder „ihr seid schon zu alt, um euch eine Scheidung zu leisten“ usw. - alle diese Ausreden waren hier, in dieser Gesellschaft und in diesem Zeitalter der individuellen Selbstverwirklichung, inadäquat. Das wusste ich. Deswegen überlegte ich mir eine diplomatische Formulierung:

„Ja, wenn du das nicht zu privat findest“, antwortete ich ganz schnell. „Darauf habe ich die ganze Zeit gewartet. Es interessiert mich sehr, über deine Frau und über eure Liebesgeschichte zu erfahren. Wie habt ihr euch kennen gelernt?“

- „Eigentlich gibt es nichts Interessantes zu erzählen. Unsere Liebe fing mit großer Intensität an, aber auch ganz einfach, mit mehr Bescheidenheit als Ansprüchen, wie jede Beziehung, die in einer Diskothek anfängt. Ja, ok, nun ist das Wort schon gefallen. Wir haben uns bei einem meiner seltenen Discobesuche getroffen. Eigentlich bin ich nie Nachtschwärmer gewesen, aber an dem besagten Tag konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Damals wohnte ich in einem Studentenwohnheim. Es war Weihnachtszeit. Je näher der Heiligabend kam, desto leerer wurde unser Heim. Ich hatte vorher irgendwo gelesen, dass dieser Abend auch als Familienabend gefeiert wird. Auch ich hatte mir gar keine Sorgen darüber gemacht, weil ich immer wieder nach Hause geflogen war, um dort Weihnachten und Neujahr zu feiern.

Dieses Mal entschied ich allerdings, hier zu bleiben. Ich hatte freilich nicht damit gerechnet, dass alle Hausgenossen diesen Abend in ihren Familien feiern wollten. Die anderen ausländischen Freunde, die diese Erfahrung schon gemacht hatten, hatten sich jeweils eine Gastfamilie ausgesucht, bei der sie Heiligabend verbrachten. So musste ich ihn allein im vierstöckigen Gebäude verbringen: keine Familie, kein Fest, keine geschmückte Umgebung, kein Weihnachtsbaum, keine Wünsche, keine Krippe, kein Geschenk vom Weihnachtsmann, keine Weihnachtsgans. Draußen war ohnehin niemand zu treffen. Da ich nicht einmal daran gedacht hatte, eine CD mit Weihnachtsliedern zu kaufen, war der Traum vom Christfest ausgeträumt. Ich musste mich nämlich damit begnügen, mir den Kaktus minutenlang anzuschauen, den ich auf dem Weihnachtsmarkt erworben hatte, wodurch mich der Schlaf ganz schnell überfiel. Die ganze feierliche Stimmung hatte ich somit verpasst. Immerhin konnte ich weihnachtlich schlafen, ganz tief, ungestört, ohne Alptraum, ein wohltuender Schlaf.

Am Ersten Weihnachtsfeiertag wollte ich auf keinen Fall dieselbe Erfahrung machen. Deswegen beschloss ich, in die Disco zu gehen. Ich denke, das war sogar das erste und einzige Mal überhaupt, dass ich hier in der Disco gewesen bin und, wie Uta mir später erzählte, war dies auch bei ihr der Fall. Ich dachte, ich hätte sie zuerst bemerkt, als sie unter vielen anderen Frauen in die Disco eintrat. Doch wie ich später von Uta erfuhr, soll ich ihre Aufmerksamkeit schon vor dem Eingang zur Disco auf mich gelenkt haben. Ist es nicht das, was man zuverlässig als Liebe auf den ersten Blick bezeichnet? Jedenfalls genügten ein „Hallo, ich heiße Jakubu“ und ein „Ich bin die Uta“, um uns näher zu bringen, inmitten von schrillem Tohuwabohu, lautem Blabla, mächtigem Geschrei, aggressiven Schimpfereien, Dutzenden von Dezibel usw. Die für uns beide ungewöhnliche Discostimmung hatte es nicht geschafft, unseren Flirt, unsere Annäherungsversuche, unseren gemeinsamen zögernden und zaghaften Tanz, das Austauschen von Telefonnummern und die schmerzhafte, aber höfliche Verabschiedung zu stören. Am folgenden Tag mussten sich unsere jeweiligen Telefongesellschaften und Handyanbieter auf unsere Kosten gefreut haben, so oft waren wir ans Telefon. Obwohl es Sonntag war, vereinbarten wir doch endlich ein Treffen in einem noch offenen Café; so verrückt und voneinander angezogen fühlten wir uns. Den Rest des Abends verbrachten wir dann bei Uta.

 

Ach! Da du mich schon vor dem Erzählen des Privatlebens gewarnt hattest, fängt es jetzt aber an, privat zu werden und ich höre hier auf.

Auf jeden Fall dauerten unser Flirtabenteuer, unsere Freundschaft, unsere Affäre, unsere Beziehung, unsere Liebe kaum drei Monate. Kaum hatte das Liebesglück angefangen, uns zuzulachen, erfuhren wir, dass wir enger miteinander verbunden waren, als wir dachten: Uta war schwanger und sie wollte das Kind behalten. Wie es mit mir aussah? Wurde ich nicht mit dem wunderlichen Gedanken erzogen, ein Kind zur Welt zu bringen, sei die Seligkeit auf Erden? Ich war nur ein armer Student, na und? Sagte man nicht: „Gott pflanzt Getreide in jeden Mund, den er meistert?“. Warum soll ausgerechnet mein Kind nichts zu essen bekommen?

Ich war nicht nur mit der Entscheidung von Uta einverstanden, das Baby nicht abzutreiben, sondern ich war auch entschlossen, alles zu tun, damit das Kind nicht unehelich zur Welt kam. Ich hatte keine andere Wahl. Ich fürchtete, dass mein Kind zur Welt kommen würde, bevor wir heirateten. Ich war damals ganz frisch aus Afrika gekommen. Du weißt selber, was es bei uns bedeutet, ein uneheliches Kind zu sein: eine Missgeburt, ein Bastard. Das wollte ich meinem Kind unbedingt ersparen. Ich war naiv und dumm.

Meine Hochzeit war ein Fehler. Wir hatten alles in einem Monat geplant, von der Liebe über die Verlobung und die Hochzeit im Standesamt bis über die kirchliche Trauung hinaus, wobei die Flitterwochen kaum eine Woche dauerten. Es war ein Notfall und ich hatte keine Zeit, meiner Jugend nachzutrauern. Da die Formalitäten in Saarbrücken schwieriger zu sein schienen, waren wir nach Ommersheim umgezogen und hatten dort geheiratet. Alles war so schnell geschehen, dass ich vergessen hatte oder besser gesagt: Ich war nicht geistesgegenwärtig genug gewesen, meine Freunde einzuladen oder sie zumindest zu informieren. Ich glaube, ich wollte es im Grunde auch nicht. Ich weiß nicht, warum ich es vermieden hatte. Am Tag meiner Hochzeit war ich unglücklich. Alles geschah ohne große Feierlichkeiten: ohne Brautraub, ohne richtigen Brautwagen, ohne Brautstrauß, ohne Brautgeschenk, ohne Brautkranz. Viele Freunde von Uta waren da. Alle waren mir unbekannt. Ich war fremd in meinem eigenen Haus. Noch mehr, ich war der einzige Schwarze in einer Gruppe von mehr als dreißig Personen.

Mein Trauzeuge, so sollte ich später erfahren, war ein Ex-Freund meiner Frau. Ich konnte nichts tun. Ich hatte keine Wahl, ich verstand sowieso wenig vom Ganzen, ich wollte nur den Skandal vermeiden. Ich war damals noch Student und wurde durch die heftige Neuigkeit in Angst und Schrecken versetzt. Ja. Ich hatte Angst davor, dass Uta Klage gegen mich erheben könnte und fürchtete Schwierigkeiten zu bekommen. Unter diesen Umständen hatte ich geheiratet. Unter diesen Umständen verkaufte ich mich und meine damalige Idealvorstellung vom Leben. Ich musste auf alles verzichten, sogar auf mein Heimatland, weil ich auf keinen Fall zurückkehren wollte, ohne mein Studium abgeschlossen zu haben. Ich hatte meine eigene Familie vergessen müssen, weil ich nicht sagen wollte, dass ich verheiratet war. Ich hatte mein Stipendium verloren, weil ich während der Ferien nicht nach Hause geflogen war, um es erneut zu beantragen. Du weißt, dass dies die einzige Bedingung war. Aber ich konnte nicht anders. Ich konnte nicht nach Hause fliegen, ohne dass meine Familie Bescheid wusste. Ich konnte meine Familie nicht besuchen, ohne ihr von meiner neuen Situation zu berichten, ohne von diesem Kind zu erzählen, das mich bald zum glücklichen Vater machen sollte, und ohne zu verraten, dass ich hier von Amors Pfeil getroffen wurde. Und selbst wenn ich das Ganze hätte geheim halten können, so hätte ich doch damit die Behörden, meine Familie, meine Verwandten, meine Freunde angelogen.

So hatte ich den Kontakt zu den Meinen verloren und versuchte, meine Vergangenheit zu vergessen. Hoffentlich ... hoffentlich haben die Meinen, meine Familie, meine Freunde, meine Verwandten ... mich nicht für tot erklärt und meine Bestattung organisiert. Aber auch das spielt keine Rolle mehr. Denn ich bin nicht mehr Jakubu Tschinku! Ich war. Ja, ja ... nein! Ein Teil von mir ist tot. Den gibt es nicht mehr. Der zweite Teil jedoch verlangt ständig den verstorbenen Teil von mir. Deswegen bin ich immer unentschlossen. Ich existiere nicht mehr. Nicht mehr ganz. Ich kann keine Entscheidung treffen, weil ich nicht mehr alle beisammenhabe. Ich habe nicht mehr alle Tassen im Schrank. Viele sind dortgeblieben, zu Hause, in Afrika. Ich kann atmen, aber ich fühle, dass eine Herzkammer zu Hause geblieben ist. Da, die linke. Mein Blut! Das läuft nur teilweise in meinem Körper. Nur im rechten Teil. Hier, fass mal an! Alle Organe auf der linken Seite, sie funktionieren nicht. Ich kann gut und richtig hören, aber ich habe den Eindruck, als fehle mir ein Gehörorgan. Auch meine Augen sehen gut. Ich sehe aber kaum. Das eine Auge, das linke da, weigert sich zu sehen. Das ist einfach in der Vergangenheit geblieben. Das sieht nur das, was damals war. Meine Kindheit, meine Schulzeit, die schöne Gymnasialzeit. Ja, es will einfach nicht die Gegenwart sehen. Auch das linke Bein und der linke Arm sind wie gelähmt, obwohl ich gut gehe und mich ohne Schwierigkeiten bewegen kann. Ich fühle es einfach. Ich bin gesund, doch sie lehnen es einfach ab, meinem Willen zu gehorchen. Ich gelte deshalb als arbeitsunfähig.

Es ist mir niemals gelungen meine Arbeitsgeber von meiner Leistung zu überzeugen. Die haben mir immer gesagt: „Herr Tschinku, ich denke, Sie wollen gar nicht arbeiten“. Das stimmt aber nicht. Ich will arbeiten, aber es geht einfach nicht. Ich bin wie ein Kind. Nein, habe ich Kind gesagt? Ich beschönige noch. Ich bin nur ein Ding. Ich erwarte jeden Tag, dass die gute Uta mir sagt: „Jakubu, tue dies! Jakubu, tue das! Steh auf! Wasche die Kinder! Geh einkaufen! Ja, ich bin ein Ding. Ich kann kaum noch denken. Ich mache nichts aus eigenem Antrieb. Auch essen tue ich nicht, wenn ich allein bin. Nur rauchen. Hast du gesehen, wie ich hier gegessen habe? Es ist so, als ob alle meine Kräfte wieder da wären, weil ich hier bin. Hier, bei dir.

Es gibt etwas in dir, was mich lebendig macht. Es gibt in dir etwas, das ich brauche, etwas, was mir fehlt. Den zweiten Teil von mir finde ich hier bei dir. Ich habe Angst davor, dass ich in meinen leblosen Zustand zurückfalle, wenn ich von hier weggehe. Aber gleichzeitig habe ich es eilig, nach Hause zu fahren. Ja, sie fehlen mir schon, meine Kinder. Ich will meine Kleinen sehen, ich will sie umarmen, ihnen dienen. Ich vermisse sie schon. Ja, ich vermisse ihre Wünsche, sie sind für mich wie Befehle. Doch ich bemitleide sie auch. Ich bin alles, was sie besitzen. Aber sie wissen es nicht. Sie haben kein Zuhause, aber sie ahnen es nicht. Guck mal! Ich, ich bin Afrikaner und Uta ist Europäerin. Aber die beiden, sie haben kein Zuhause, die Unschuldigen. Ich bin ihr Kontinent, aber sie ahnen es noch nicht. Sie sind wie Fledermäuse. Erinnerst du dich an das Märchen, das unser Biologielehrer immer wieder erzählt hat?

Es handelte von einem Krieg zwischen Vögeln und Säugetieren. Doch die armen Fledermäuse wussten nicht, zu wem sie gehörten. So standen sie in der Mitte vom Schlachtfeld und bekamen Pfeile von beiden Kontrahenten ab. Kennst du noch diesen Spruch aus dem Volksmund? Er lautet ungefähr so: „Ein Kind mit mehreren Familien ist sicherlich zum Tode verurteilt. Entweder es stirbt vom Hunger oder es stirbt von zu viel Essen.“ Meine Süßen werden vor Hunger sterben. Denn niemand will sie haben, niemand außer mir. Ich bin ihr Kontinent, die Unschuldigen.

Ich weiß aber selber nicht, ob ich etwas für sie tun kann. Ich weiß nicht, was ich kann, was ich bin, was ich will, wo ich bleiben und wohin ich gehen soll. Eines weiß ich aber: Ich weiß sehr wohl noch, woher ich komme. Aus Afrika, aus Pabegou. Ich bin ein Tschinku, Sohn des Regens. Einer von denen, die jeden Morgen weder vom Kikeriki des Hahns noch vom Rappeln des Weckers aufgeweckt werden, sondern vom Gehörkitzel durch den Lobsänger, den Griot. Das weiß ich noch. Aber ich will dorthin nicht mehr zurückkehren. Ich bleibe hier. Hier bin ich zu Hause. Ich bin ein Deutscher. Nein, ein Teil von mir ist deutsch. Ich mag diesen Teil nicht, ich hasse mich. Aber ich bleibe hier, ich bin hier zu Hause.

Weißt du? Ich heiße jetzt Jakubu Benedikt Tschinku Wagner. Den Nachnamen Wagner habe ich mit meiner Hochzeit erworben. Ich hätte meine Namen behalten können, wie der Bürgermeister von Ommersheim mir erklärte. Uta meinte aber, es sei schon schlimm genug für unsere Kinder, dass sie einen schwarzen Vater haben. Wir sollten ihnen mindestens die Möglichkeit der Wahl geben, ob sie später meinen oder ihren Nachnamen tragen wollen. So kamen wir zu diesem Kompromiss.

Uta hatte Recht gehabt. Denn heutzutage werden Leute schon dann nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen, wenn allein ihr Name auf eine ausländische Herkunft hindeutet. Ein Mitbürger türkischer Herkunft sagte mir, er fände die Entscheidung gut, dass meine Kinder Wagner hießen. Auf jeden Fall freue ich mich auch darüber.

Meine afrikanischen Wurzeln habe ich aber begraben müssen. Mein Afrika war damals auf die einzigen schwarzen Freunde beschränkt, die hier wohnten und denen ich gelegentlich auf dem Campus begegnete. Auch von ihnen hatte ich mich allmählich distanzieren müssen, weil ich meine Traumwelt und meine Träumereien mit ihnen nicht teilen wollte.