Endlager

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„Mein Mann pflegte immer um vier Uhr morgens aufzustehen. So vermutlich auch gestern. Genaueres kann ich Ihnen nicht sagen, denn wir haben seit vielen Jahren getrennte Schlafzimmer. Dann geht er in den Stall zum Melken. Seit Christoph den Hof leitet, ist dieser zwar für alles verantwortlich, aber Hannes hat ihm geholfen, wo immer es noch ging, vor allem beim Melken. Das dauerte dann rund eineinhalb Stunden, denn immerhin haben wir allein siebzig Milchkühe. Während mein Mann dann den Melkstand säuberte, hat sich Christoph bereits ums Füttern der Tiere gekümmert. Das Futter muss jeden Morgen frisch angemacht werden. Mais-Silage, Grünfutter-Silage, Trester und Kraftfutter, das bedeutet viel Arbeit, vor allem viel Fahrerei, bis alles im Stall verteilt ist. Vermutlich war Christoph gestern Morgen, als Sie kamen, schon nicht mehr am Hof, denn das Vieh war ja schon gefüttert.“

„Er sagte mir, er wäre nach dem Melken ins Holz, also in den Wald gefahren, um den Schneebruch zu begutachten. Aber war es dazu nicht zu früh, es war doch noch stockdunkel?“

„Doch, doch, das war um diese Zeit schon gut möglich, denn unser Schlepper ist mit Halogenleuchten ausgerüstet. Mitunter muss Christoph ja auch nachts auf den Feldern arbeiten. Außerdem kommt Christoph immer erst um zehn Uhr zur Brotzeit. Mein Mann kommt nach der Stallarbeit zum Frühstücken, denn bis dahin bin ich schon aufgestanden und richte unseren gemeinsamen Morgenkaffee her. Sie erinnern sich, als sie gestern ins Haus gestürmt sind, war ich gerade auf dem Weg in die Küche.“

Kleintaler nickte zustimmend. Alles, was Maria Behr sagte, klang plausibel und stimmte mit seinen Beobachtungen überein.

„Frau Behr, was glauben denn Sie, was gestern passiert sein könnte?“, mischte sich nun Tina Hartmann in das Gespräch.

„Ich weiß es nicht. Herr Kleintaler hat ihn ja gefunden. Ich kann nur vermuten, dass er sich entweder verletzt hat oder verletzt wurde. Aber von wem? Und vor allem weshalb?“

„Sie sagen „verletzt wurde“ – haben Sie einen Verdacht von wem?“, bohrte Tina Hartmann nach.

„Vielleicht von Jakob Lechner?“, hakte Kleintaler ein.

„Von dem bestimmt nicht, denn der traut sich nicht auf unseren Hof.“ Maria Behrs Antwort klang sehr bestimmt.

„Ich muss noch einmal mit Ihrem Sohn reden. Können Sie mir sagen, wo wir ihn jetzt finden?“

„Wir haben zwischen dem Sicklinger Berg und der Stelzer Mühle einige Wiesen gepachtet, vermutlich wird er dort sein.“

Tina und der Kommissar wandten sich bereits zum Gehen, da drehte sich Kleintaler noch einmal um.

„Ähm, Frau Behr“, er zögerte verlegen, bevor er fortfuhr, „ich möchte Ihnen noch eine persönliche Frage stellen. Sie müssen Sie aber nicht beantworten.“

„Fragen Sie ruhig, Herr Kommissar.“

„Wissen Sie, Sie sind eine, ich sag einfach mal so, eine attraktive Frau. Sie sehen so gar nicht wie eine Bäuerin aus. Und ich habe Sie, obwohl ich schon seit über fünfzehn Jahren hier meine Milch hole, noch nie im Stall arbeiten sehen.“

Frau Behr schenkte Kleintaler ein kurzes, aber bezauberndes Lächeln. „Danke, Herr Kleintaler, für das nette Kompliment, das eine Frau wie ich, die schon langsam auf die Sechzig zugeht, noch immer gerne hört. Um Ihre Frage zu beantworten, muss ich ein wenig weiter ausholen. Ich habe 1975 meinen Mann kennen gelernt. Hannes war damals ein sehr gutaussehender Mann, obwohl er schon Anfang vierzig war. Er hat mir rührend den Hof gemacht, richtig schüchtern war er. Aber ich wollte mit meinen zwanzig Jahren auf keinen Fall eine Bäuerin werden, doch den Hannes wollte ich schon. Und da hat er mir den Vorschlag gemacht, dass, wenn ich ihn heiraten würde, ich dann nur das Haus und mögliche Kinder versorgen müsste, mit der Landwirtschaft aber nichts zu tun hätte. Da habe ich dann eingewilligt und bin seine Frau geworden. Und in all den Jahren hat er sein Wort immer gehalten.“

„Danke, Frau Behr, für Ihre ehrliche Antwort. Es wird Sie sicher interessieren, wie es nun weitergehen wird. Die Staatsanwaltschaft Freyung hat offiziell ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, nachdem Ihr Mann seit nunmehr drei Tagen verschwunden ist. Meine Kollegin und ich müssen von einem Verbrechensfall ausgehen und entsprechend ermitteln. Ich bitte Sie und Ihren Sohn Christoph morgen Vormittag in unsere Dienststelle zu kommen, damit wir Ihre Aussagen protokollieren können.“

„Wir werden kommen. Und Sie, Herr Kleintaler, ermitteln Sie, denn glauben Sie mir, ich bin auch froh, wenn ich weiß, wo mein Mann ist und was ihm zugestoßen ist. Auch wenn es vielleicht das ist, woran ich jetzt noch nicht zu denken wage.“

Der Kommissar und Tina Hartmann verabschiedeten sich und fuhren weiter in Richtung Wotzmannsreut.

„Die Frau hat auf mich einen glaubhaften Eindruck gemacht“, fasste Tina Hartmann ihre Beobachtungen zusammen, als sie im Streifenwagen saßen, „oder was glauben Sie, Chef?“

„Also zunächst einmal bin ich nicht mehr Ihr Chef, Tina, und deshalb möchte ich Ihnen als der Ältere das Du anbieten. Einverstanden?“

„Danke und gerne. Soll ich Georg oder Schos zu Ihnen, pardon, zu dir sagen?“ Tina errötete tatsächlich ein kleinwenig.

„Schos passt schon. Außerdem hast du völlig recht, es klingt aufrichtig und das meiste kann ich so auch bestätigen.“

Als sie den Osterbach überquerten, wies Kleintaler nach rechts in Richtung Wotzmannsreut. „ Tina, hier, in diesem schönen Tal, soll möglicherweise schon in diesem Jahr, ein riesiger Stausee gebaut werden.“

„Ja, ich habe schon davon gehört. Mein Freund ist Möbeltischler, er hat in Oberndorf eine kleine Tischlerei eingerichtet und stellt ökologische, zertifizierte Möbel her. Außerdem hat er eine Bürgerinitiative gegründet, die „ÖZW“, die „Ökologische Zukunft Waldkirchens“. Er hat mir von dem Irrsinnsplan erzählt.“

„Jetzt haut’s mich aber um. Dann bist du die Freundin vom Felix Liggner. Den kenn ich gut, der hat vor zwei Jahren unsere Ferienwohnung neu eingerichtet. Da sieht man es mal wieder, Waldkirchen ist eben doch ein Dorf. Schau mal, da oben düngt gerade der Christoph Behr seine Wiesen.“

Wenige Minuten später parkte Tina Hartmann den Streifenwagen auf dem Feldweg neben dem grünen Traktor des Jungbauern.

„Habe die Ehre, Christoph“, begann Kleintaler vorsichtig das Gespräch, nachdem der junge Behr den Motor der Zugmaschine abgestellt und die Frontladeschaufel nach oben gerichtet hatte. „Wir haben deinen Vater leider immer noch nicht gefunden. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass er Opfer eines Verbrechens geworden ist. Aus diesem Grund muss ich dir noch ein paar Fragen stellen.“

„Herr Kleintaler, glauben Sie mir, als Sie und Ihre Kollegen weg waren, haben meine Mutter und ich jeden Winkel in unserm Hof noch einmal untersucht. Ich habe nichts gefunden, nicht den kleinsten Hinweis auf sein Verschwinden.“

„Erzähl mir mal, wie der vorgestrige Morgen so abgelaufen ist. Wann habt ihr denn mit der Stallarbeit angefangen?“

„Vater war um kurz nach vier Uhr im Stall. Ich habe noch schnell etwas gefrühstückt und war etwa eine Viertelstunde später im Melkstand. Nach einer guten Stunde habe ich dann mit dem Füttern angefangen. Es dauert, bis das alles im Stall verteilt ist. Mein Vater war etwa von Viertel nach fünf Uhr an alleine im Melkstand.“

„Und du hast ihn dann an diesem Morgen nicht mehr gesehen?“

„Nein, aber das ist nichts Außergewöhnliches. Wenn er den Melkstand gereinigt hat, geht er ins Haus, um mit meiner Mutter zu frühstücken.“

„Dann muss das Unglück passiert sein, kurz bevor ich den Stall betreten habe. Ist dir etwas aufgefallen, was an diesem Morgen anders war als sonst?“

„Nö, alles war wie immer.“

„Hast du einen Verdacht, was geschehen sein könnte?“

„Nö, aber mal andersrum gefragt, stammt das Blut im Stall überhaupt von meinem Vater?“

„Ja, die DNA-Analyse war eindeutig.“

„Das heißt, dass mein Vater sich entweder selbst verletzt hat oder verletzt wurde.“

„Das ist richtig.“

„Wenn er sich selbst verwundet hätte, wäre er sicherlich ins Haus gegangen und hätte sich von meiner Mutter verarzten lassen. Aber nachdem er das nicht getan hat, bleibt nur noch eine zweite Möglichkeit übrig.“

„Auch das ist richtig, Christoph. Irgendjemand hat deinen Vater niedergeschlagen und in der Zeit, in der ich Hilfe geholt habe, hat er ihn verschwinden lassen.“

„ Aber wer könnte das gewesen sein, Herr Kleintaler?“

„Ich weiß es nicht, Christoph, aber ich werde ihn finden.“

Kleintaler wandte sich zum Gehen.

„Christoph, eine Frage noch. Treibt sich manchmal der alte Lechner in euerm Stall herum?“

„Warum? Meinen Sie, dass der etwas mit Vaters Verschwinden zu tun hat? Jetzt, da Sie es sagen, erinnere ich mich. In den letzten Wochen habe ich ihn zwei-, dreimal gesehen. Das hat mich schon gewundert, denn Vater hat ihm schon vor Jahren verboten den Hof zu betreten, und der alte Säufer hat sich tatsächlich daran gehalten.“

„Das ist ja sehr interessant. Übrigens – ich habe deine Mutter gebeten, dass ihr morgen in unsere Dienststelle kommt, um die Aussagen zu protokollieren. In Ordnung?“

„Ja, Herr Kleintaler, wir werden kommen.“

Als die beiden Polizisten in ihrem Streifenwagen saßen, bemerkte der Kommissar: „Ich glaube, um den alten Lechner werde ich mich heute noch kümmern. Tina, lass mich bitte an der Böhmerwaldstraße aussteigen. Und dann wünsche ich dir ein schönes, dienstfreies Wochenende.“

„Danke, dir ebenfalls, auch wenn du nur den Samstag frei hast. Und du weißt, wenn irgendetwas sein sollte, meine Handynummer hast du ja.“

Kleintaler drückte die Klinke der braunen Werkstatttür nieder. Die alte Schreinerei war verschlossen. „Na, dann nehme ich eben den Haupteingang!“ Er klopfte an der alten Holztür des Lechner-Hauses. Die graue Farbe war verblichen, Farbreste lösten sich, die milchige Fensterscheibe hatte einen Sprung. Die Tür war unverschlossen, Kleintaler trat in den kühlen Hauseingang. „Hallo, Herr Lechner, sind Sie zuhause?“ Der Kommissar erhielt keine Antwort. Er lauschte. Hinter der weißen Wohnungstür stöhnte jemand leise. Kleintaler klopfte noch einmal. „Herr Lechner, sind Sie da?“ Erneut erhielt er keine Antwort. Und wieder hörte er das dumpfe Stöhnen. Er drückte die Klinke nieder und öffnete die Tür. Kleintaler sah eine leere Wohnküche und trat ein. An der rechten Seite stand auf einer schäbigen, resopalbeschichteten Küchenzeile schmutziges Geschirr, mit Essensresten verkrustete Töpfe zierten den Elektroherd. Ravioli in Tomatensoße waren wohl die letzte Mahlzeit des alten Lechner gewesen. Kleintaler wandte sich nach links, dort führte ein offener Durchgang in einen Nebenraum, vermutlich das Wohnzimmer. Von dort her kam auch das Stöhnen, das nun eher einem Schnarchen glich. Auf einem flaschengrünen, zerschlissenen Sofa lag Jakob Lechner und schlief. Er trug noch immer das großkarierte Flanellhemd und die speckige, schwarze Breitcordhose. Eine Strähne weißer Haare fiel ihm ins Gesicht, der grau-weiße Stoppelbart war mehrere Tage alt. Wenn Lechner schnarchend ausatmete, bildeten sich kleine Speichelbläschen auf seinen Lippen. Im Wohnzimmer stank es nach Schnaps. Eine leere Flasche Korn lag auf dem Boden neben dem Sofa, leere Bierdosen standen auf dem Tisch. Lechner schlief offensichtlich seinen Rausch aus.

 

Kleintaler trat an das Sofa, fasste den alten Mann an der linken Schulter und schüttelte ihn. „Aufwachen, Herr Lechner, wachen Sie auf. Ich muss mit Ihnen reden!“ Nach mehreren Versuchen schlug der Alte grunzend die Augen auf. Ein glasiger Blick erfasste den Kommissar. Lechner richtete sich langsam auf, dabei stieß er die leere Schnapsflasche an, die scheppernd unter das Sofa rollte. Der Alte schmatzte, leckte sich über die Lippen und fragte heiser:

„Was wollen Sie denn hier?“

„Mit Ihnen reden, Herr Lechner.“

„Und worüber?“ Endlich war der Schreiner in der Wirklichkeit angekommen. Mit zitternden Händen suchte er in den leeren Bierdosen nach einem schalen Rest, fand ihn und kippte ihn in die ausgetrocknete Gurgel.

„Über Johannes Behr, der seit drei Tagen verschwunden ist.“

„Da gibt es nichts zu reden.“

„Oh doch. Sie sind in den letzten Wochen mehrmals auf seinem Hof gesehen worden. Was wollten Sie dort?“

„Nachschauen, ob das Schwein noch lebt.“

„Johannes Behr hatte ihnen doch verboten, den Hof zu betreten? Warum eigentlich?“

„Weil er Angst hatte, dass ich ihn umbringen würde. Tierische Angst um sein kleines bisschen beschissenes Leben!“

„Hätten Sie denn einen Grund gehabt ihn zu ermorden?“

„Einen? Hunderte!“

Jakob Lechner lachte heiser auf und blickte Kleintaler aus bösen, rotgeäderten Augen an. Für einen kurzen Moment blitzten seine Pupillen, dann verschleierte sich sein Blick wieder, wirkte glasig.

„Nennen Sie mir nur einen, Herr Lechner.“

„Ich denke nicht daran, Herr Kommissar. Ich habe mein Bündel Leben verschnürt und gedenke nicht, auch nur einen Knoten noch zu lösen.“

„Was haben Sie am vergangenen Mittwochmorgen um fünf Uhr gemacht?“

„Wie immer meinen Rausch ausgeschlafen, Herr Kommissar. Glauben Sie es oder glauben Sie es nicht, mir ist das scheißegal.“

„Warum hassen Sie Johannes Behr?“

„Es waren einmal zwei kleine Buben, die mit neun Jahren Blutsbrüder wurden. Jahrzehnte später stehen sie sich als Todfeinde gegenüber. Dazwischen liegen zwei Leben. So einfach ist das, Herr Kommissar!“

Jakob Lechner rollte sich wieder auf dem Sofa zusammen. Er drehte Kleintaler den Rücken zu. Das Gespräch war beendet.

Tina Hartmann drehte den Wasserhahn auf. Mit sprudelndem Zischen schoss der heiße Strahl dampfend aus dem Brausekopf. Sie ließ das Handtuch, das sie sich um ihre schlanke Hüfte geschlungen hatte, zu Boden fallen und stieg in die Duschkabine. Dann zog sie den Plastikvorhang zu, um eine Überschwemmung in ihrem kleinen Badezimmer zu vermeiden. Sie drehte sich unter dem Wasserstrahl. Die heißen Rinnsale, die an ihrem Körper herunterglitten, verursachten ein wohliges Gefühl, das Tina genoss. Erst nach einigen Minuten griff sie nach der Shampoo-Flasche, die auf einer Eckkonsole in der Dusche stand. Sie drückte einen Klecks der weißen, nach Flieder duftenden Lotion in ihre linke Hand und begann langsam ihre Haare einzuschäumen. Beim Ausspülen hielt sie die Augen geschlossen. Mit einem Badeschwamm seifte sie anschließend ihren wohlgeformten Körper ein. Plötzlich nahm sie neben dem Rauschen der Dusche ein zusätzliches Geräusch war, das wie das Zufallen einer Tür geklungen hatte. Sie lauschte, hielt inne, hörte aber nichts. Sie löste die Handbrause aus der Halterung, um bequem den Seifenschaum von ihrem Körper spülen zu können. Dabei drehte sie der Badezimmertür den Rücken zu. Diese öffnete sich langsam. Tina sah aus den Augenwinkeln einen Schatten. In diesem Augenblick wurde der Duschvorhang weggezogen. Tina sah einen Mann vor sich stehen und zielte mit der Handbrause reflexartig auf seinen Körper.

„Verdammt noch mal, Tina, nimm die Brause weg, ich werde ja pitschnass!“

„Felix, du Depp, hast du mich erschreckt! Es geschieht dir ganz recht, wenn du jetzt nass wirst. Hau ab und verschwinde aus meinem Badezimmer!“

Während Tina den Wasserhahn zudrehte, schlich Felix Liggner, einem begossenen Pudel gleichend, aus dem Badezimmer seiner Freundin. Tina stieg aus der Dusche, trocknete sich mit einem großen, karamellfarbenen Badetuch ab, zog sich einen flauschigen, weißen Bademantel an und band sich ein Handtuch als Turban um die nassen Haare. Dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Felix, der nur mit einer Boxershorts bekleidet, wie ein Häuflein Elend, auf der Wohnzimmercouch saß. So hatte er sich seinen Überraschungsbesuch nun wirklich nicht vorgestellt. Seine tropfnassen Kleidungsstücke lagen neben ihm.

Er stand auf, als Tina ins Zimmer trat, zog sie sanft in seine Arme und küsste sie zärtlich.

„Entschuldige, mein Liebling, dass ich dich so überfallen habe. Aber ich hatte solche Sehnsucht nach dir. Außerdem habe ich den ganzen Tag über keine einzige SMS von dir bekommen. Da wollte ich einfach nachschauen, ob es dich überhaupt noch gibt.“

Tina hauchte ihrem Felix einen Kuss auf die Nasenspitze.

„Es tut mir so leid, dass ich dich nass gespritzt habe, aber ich bin wirklich zu Tode erschrocken, als du den Duschvorhang weggezogen hast. Ich kam mir vor wie Janet Leigh, kurz bevor sie auf Antony Perkins trifft.“

„Jetzt lass dich erst einmal von mir trocken rubbeln. So quasi als kleine Entschädigung für den Duschangriff.“ Felix wollte gerade mit der Rubbelarbeit beginnen, als Tina ihn von sich schob.

„Das könnte dir so passen. Jetzt behalte mal deine Hände bei dir und gib mir lieber deine nassen Sachen. Die schmeiße ich für ein paar Minuten in den Trockner, und dann mein Lieber, kannst du mich zum Abendessen einladen.“

Eine halbe Stunde später saßen sie beim Italiener im Baronhof und gaben ihre Bestellung auf. Während sie auf ihr Essen warteten, erzählte Tina ihrem Freund von dem vermissten Johannes Behr.

„Was, dem Christoph sein Vater ist verschwunden? Da wird sich die ganze Familie freuen, endlich haben sie ihre Ruhe vor ihm.“

„Sag mal Felix, was soll das denn heißen? Kennst du die Familie etwa?

„Aber sicher doch. Der Christoph ist genauso alt wie ich, wir sind gemeinsam in die Grundschule gegangen. Nach der vierten Klasse habe ich dann das Gymnasium hier besucht, und der Christoph musste auf die Hauptschule. Obwohl er bestimmt viel schlauer war als ich. Aber sein Vater hat es nicht zugelassen. Er brauchte eine billige Arbeitskraft auf dem Hof.“

„Dumm gelaufen für ihn. Aber sag mal, gehört ihm der Hof eigentlich? So wie seine Mutter heute Nachmittag sagte, scheint er der Bauer zu sein.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Sein Vater ist ja schon sechsundsiebzig, das heißt aber noch lange nicht, dass er den Hof schon an den Christoph übergeben hat. Er ist so ein verquerer Eigenbrötler, der hat sich bestimmt noch ein paar Trümpfe in der Hand behalten, mit denen er den Christoph triezen kann.“

„Ich kann gar nicht glauben, was du da sagst, denn weder seine Mutter noch Christoph selbst haben anklingen lassen, dass sie unter dem Alten gelitten hätten. Weißt du, wenn das wirklich so ist, dann könnte das ein mögliches Motiv für das plötzliche Verschwinden des alten Behr sein.“

„Meinst du jetzt, dass der Alte sein Verschwinden nur vorgetäuscht hat, um seine Familie zu ärgern?“ Felix schüttelte verwundert den Kopf. „Nein, das kann ich nicht glauben.“

„Es ist aber auch genauso gut möglich, dass die Familie ihn hat verschwinden lassen, um an den Hof zu kommen.“ Tina nickte bestätigend. „Ich glaube, morgen früh muss ich erst einmal mit Schos Kleintaler reden.“

„Den Schos, ach so, ihr seid also schon beim Du angekommen. Das ging ja schnell.“ Felix sah seine Tina mit einem schiefen Blick an.

„Ist mein lieber Felix vielleicht ein bisschen eifersüchtig?“

Er wurde einer Antwort enthoben, denn die Bedienung stellte das köstlich duftende Essen auf den Tisch.

Der Samstagmorgen begann strahlend. Marianne und Georg Kleintaler genossen das erste Frühstück in diesem Jahr auf ihrer Terrasse. Während der Kommissar aufmerksam den Lokalteil der Tageszeitung studierte, tunkte seine Frau genüsslich ein Croissant in ihre Kaffeetasse und biss herzhaft von dem vollgesogenen Gebäckstück ab.

„Du Schosi“, murmelte sie mit vollem Mund, „wann fahren wir denn heute zu Tante Martha?“

„Ich würde sagen, gleich nach dem Frühstück“, antwortete Kleintaler ohne von seiner Lektüre aufzublicken. Der Fall Johannes Behr hatte es bis auf die Titelseite geschafft. Unter der Schlagzeile „Bauer verschwindet in Sekunden! – Unglück oder Familientragödie?“ wurde von dem vermeintlichen Schicksal des Waldkirchener Landwirts berichtet. Kleintaler wurde ebenso als Zeuge wie als ermittelnder Kommissar zitiert. Auch an nichtssagenden Bildern mangelte es nicht. Im Lokalteil reihte der Redakteur Spekulation an Spekulation, in der Hoffnung, die Sensationslust seiner Leser auch nur halbwegs befriedigen zu können. Eine Aufnahme von Kleintaler und Tina Hartmann gefiel dem Kommissar allerdings wirklich gut. Seine Kollegin beugte sich bei der Suche mit der Wärmebildkamera über den Laptop, dabei war sie von schräg hinten zu sehen, was ihre weiblichen Rundungen – wie Kleintaler fand – besonders gut zum Ausdruck brachte. Kleintaler konnte sich lange nicht von der Betrachtung des Bildes losreißen.

Der Kommissar blätterte weiter. Dass Sabrina Loskarn von der Hauzenberger Polizei aus dem verfallenen Bauernhof gesund befreit worden war, fand nur in einem kleinen Artikel Beachtung. Kleintaler erinnerte sich noch einmal an seinen merkwürdigen Traum, als ihn Mariannes Stimme in die Wirklichkeit zurück riss.

„Schosi, bist du fertig mit dem Frühstück? Kann ich den Tisch abdecken?“ Ihr Mann faltete bedächtig die Zeitung zusammen und fragte: „Interessiert dich denn überhaupt nicht, was in unserem Blättchen steht?“

„Eigentlich nicht, denn alles, was wichtig ist, hast du mir ja schon erzählt.“ Enttäuscht über das Desinteresse seiner Frau stand der Kommissar auf und schlichtete sein Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine. „Also packen wir’s! Auf zu Tante Martha! Hoffentlich gibt’s zu Mittag ihren deftigen Schweinebraten.“ In diesem Augenblick klingelte Kleintalers Handy.

„Guten Morgen, Tina, schon so früh auf?“

„Ja sicher, bei dem Wetter.“

„Was gibt es denn Wichtiges?“

„Frau Behr und ihr Sohn waren gerade da und haben ihre Aussagen gemacht und die Protokolle unterschrieben. Aber das ist nicht der Grund, warum ich anrufe.“

„Sondern?“, unterbrach Kleintaler seine Kollegin.

„Ich habe mich gestern Abend mit meinem Freund Felix über Christoph Behr unterhalten. Die beiden sind miteinander in die Grundschule gegangen. Felix hat behauptet, dass der alte Behr ein ganz merkwürdiger Sonderling ist, der den Christoph unter Druck gesetzt hat, wo immer er nur konnte. Außerdem ist es möglich, dass er ihm den Hof noch gar nicht übergeben hat. Und wenn das stimmt, könnte das doch ein Motiv sein, den Alten verschwinden zu lassen. Ich werde gleich mal das Grundbuchamt in Freyung anrufen, irgendjemand wird ja wohl Jour-Dienst haben.“

 

„Mach das. Ich kümmere mich um den Christoph und werde ihn einfach fragen, wem in dieser Familie was gehört. Hat übrigens der Einsatz der Hundestaffel etwas Neues ergeben, die eigentlich schon am Mittwoch kommen sollte, aber erst gestern erschienen ist?“

„Ich habe vor ein paar Minuten in der Dienststelle angerufen. Nichts Neues. Auch die Befragung der Nachbarn hat nichts ergeben. Niemand hat etwas bemerkt. Na ja, der Hof liegt aber auch weit weg vom Schuss. Also nichts, keine Spur von dem alten Behr. Na ja, dann warten wir halt ab.“

„Also dann wünsche ich dir noch ein schönes Wochenende.“

Das graue Teerband durchzog in sanften Mäandern den im strahlenden Licht der Vormittagssonne sich wiegenden, in frühlingshaftem Saft stehenden Wald. Gleißend ungestüm warfen die jungen Birkenblätter ihr helles Grün den dunklen, ernsthaft mahnenden, weil ewig wirkenden Tannen entgegen. Allein die noch heller glänzenden Buchentriebe maßregelten sie in leichter Konkurrenz. Der Wald blühte ein grünes, wogendes Meer, über dem ein dünner Schleier gelben Blütenstaubs lag. Kleintaler liebte den Wald – in allen Jahreszeiten. Langsam lenkte er seinen alten Passat durch die Senke des Saußbachtales, linker Hand erhob sich der Kirchstein. Den steilen Anstieg in Richtung Ödhof nahm sein Wagen flott und ohne Probleme. Dann bog er in Richtung Stocking ab und fuhr weiter nach Neidlingerberg. Gleich am Ortseingang befindet sich an der linken Straßenseite ein großes, altes Bauernhaus. Mehrfach modernisiert, der alten Funktion entbunden, dient es heute als Wohnhaus. Hier wohnte Tante Martha. Drei Ferienwohnungen waren in einem Anbau hinzugefügt worden. Kleintaler stellte seinen Wagen in der großen Auffahrt ab. Marianne und er stiegen aus und standen wenig später in einer großen Wohnküche der angehenden Jubilarin gegenüber.

„Ihr habt euch ja lange nicht mehr sehen lassen, aber trotzdem herzlich willkommen“, begrüßte Martha Gabler ihre beiden einzigen noch verbliebenen Verwandten.

„Das ist ja ein netter Empfang, für jemanden, der fast jeden Tag nach dir schaut“, antwortete Marianne in gespielter Empörung.

„Grüß dich, Tante Martha!“ Kleintaler nahm die Tante seiner Frau in den Arm und küsste sie auf beide Wangen. „Wie geht es dir?“

„Mir geht es so, wie es einer alten Frau halt geht. Aber du, Georg, scheinst ja momentan mächtig viel Arbeit am Hals zu haben, wenn man der Tageszeitung glauben kann.“

„Da hast du wirklich Recht, über zu wenig Arbeit kann ich mich nicht beklagen.“

„Das mit dem alten Behr, das hat mich sehr getroffen, ich habe sogar seine Frau angerufen, um ihr ein wenig Trost zu spenden in dieser schweren Zeit.“

„Woher kennst du denn die Maria Behr?“ Kleintaler sah sie fragend an.

„Ja, weißt du das denn nicht mehr, ich habe doch über zwanzig Jahre auf dem Behr-Hof gearbeitet. Die Maria kenne ich zwar nicht besonders gut, denn als sie den Johannes geheiratet hat, war ich ja schon nicht mehr auf dem Hof. Aber ich habe einmal ein paar Wochen bei ihr ausgeholfen, als der Johannes im Krankenhaus lag. Ich dachte mir, dass ich ihr damit eine Freude mache und sie vielleicht etwas trösten kann. Von meiner Zeit auf dem Behr-Hof erzähle ich dir später, jetzt machen wir uns erst einmal eine schöne Tasse Kaffee, und dein geliebter Schweinebraten ist auch schon im Ofen.“

Kleintaler rührte mit dem Löffel nervös in seiner Kaffeetasse, während Marianne und Tante Martha sich über den Ablauf der bevorstehenden Geburtstagsfeier unterhielten. Als sie gerade dabei waren, das Festtagsmenü durchzugehen, hielt es den Kommissar nicht länger auf seinem Stuhl. Mit einem Ruck sprang er auf, stellte die Kaffeetasse laut scheppernd auf den Küchentisch und wandte sich an Martha Gabler.

„Du Martha, entschuldige, wenn ich euer bestimmt sehr wichtiges Gespräch unterbreche, aber ich möchte dich schon noch einiges fragen, was deine Zeit auf dem Behr-Hof betrifft.“

„Schosi, jetzt lass uns erst einmal unsere Sachen besprechen, dann bist du dran.“ Marianne gefiel die Unterbrechung überhaupt nicht und das machte sie ihrem Ehemann auch resolut klar.

Tante Martha kam Kleintalers Einmischung aber durchaus willkommen, denn sie hasste alles, was sie in den Mittelpunkt zu stellen drohte, und ihrem 80. Geburtstag sah sie deshalb mit sehr gemischten Gefühlen entgegen. So nahm sie ihre Nichte am Arm und beauftragte sie, sich um den Schweinebraten, vor allem aber um die Reiberknödel und den Krautsalat zu kümmern. Etwas eingeschnappt begann Marianne mit der Küchenarbeit, während Martha Gabler und Georg Kleintaler am Wohnzimmertisch Platz nahmen. Seiner Tante fiel das Hinsetzen sichtlich schwer, denn für ihre Körpergröße von 147 Zentimeter waren 95 Kilogramm entschieden zu viel. Sie aber schien mit ihren Proportionen glücklich zu sein, denn Martha war stets gut gelaunt. Die weißen Haare trug sie kurz geschnitten und dauergewellt. Unter den dunklen Augenbrauen, die ihrem Aussehen zunächst große Ernsthaftigkeit verliehen, lachten lustige dunkelbraune Augen, eingerahmt von einem dichten Kranz tiefer Lachfalten. Und wenn sie lachte, und Tante Martha lachte oft, dann warf sie ihre Heiterkeit allen anderen zu und verscheuchte deren Sorgen.

Als Martha sich in ihrem Lesesessel zurecht geräkelt hatte, strahlte nur noch ihr großgeblümtes, grau-gelbes Frühlingskleid Unruhe aus. Sie selbst saß ruhig und entspannt da, sie wartete auf die Fragen ihres „Schwipp-Neffens“. Kleintaler sah sie lange nachdenklich an, bevor er die erste Frage stellte.

„Also, du hast mehr als zwanzig Jahre auf dem Behr-Hof gearbeitet? Wie kam das denn?“

„Oh, Georg, da muss ich weit ausholen. Ich weiß auch gar nicht mehr, ob ich alles richtig zusammenbekomme. Es ist ja immerhin schon lange her und ich bin ja nicht mehr die Jüngste. Manchmal lässt mich mein Gedächtnis schon ganz schön im Stich.“

„Martha, ich will ja nur so einen Überblick, nicht deine ganze Lebensgeschichte in allen Einzelheiten.“

„Ich glaube aber, Georg, darauf wird es hinauslaufen.“

„In Ordnung, dann erzähl einfach mal so drauf los. Ich hör dir gerne zu.“

Martha dachte nach, sie überlegte, sammelte sich.

„Wie du ja weißt, wurde ich in Reichenberg, in Nordböhmen geboren, das liegt heute in Tschechien. Als dann der Krieg zu Ende war, begann die Vertreibung der Deutschen aus den Sudetengebieten. Umsiedelung nannten es die Tschechen selbst. Irgendwie kann ich heute verstehen, dass sie uns damals loswerden wollten, denn die Nazis haben sich ihnen gegenüber ja nun wirklich nicht sehr fein benommen. 40 Kilogramm Gepäck durfte jeder Flüchtling mitnehmen, dann wurden wir in Viehwaggons eingesperrt und abtransportiert. Mein Transport sollte eigentlich nach Nürnberg gehen, aber dann bin ich in Passau gelandet. Wie du weißt, sind meine Eltern im Krieg ums Leben gekommen, und so stand ich mutterseelenallein in Passau am Bahnhof. Nach zwei Tagen im Auffanglager wurden wir auf die Bauernhöfe in der Umgebung verteilt. Ich kam nach Waldkirchen. Da blieb ich dann auch. Die ersten fünf Jahre arbeitete ich als Magd auf dem Strey-Hof, aber die haben mich nicht gut behandelt. Viel Arbeit und wenig zu essen für das „Flüchtlings-Mesch“. Dann habe ich gehört, dass der alte Behr, also der Vater von dem Johannes, eine Magd sucht. Im Herbst 1949 habe ich dort angefangen zu arbeiten. 1968 habe ich den Josef kennen gelernt, Mariannes Onkel. Der hatte hier eine kleine Landwirtschaft und arbeitete den Sommer über im Steinbruch. Ein Jahr darauf, im Oktober, war dann unsere Hochzeit.“

Martha grinste schelmisch. „Das hat damals schon für Aufsehen gesorgt, denn der Josef und ich, wir waren ja nicht mehr die Jüngsten. Er war schon zweiundvierzig und ich immerhin schon achtunddreißig. Aber frisch verliebt waren wir beide. Außerdem war ich nur eine Vertriebene, und er immerhin ein einheimischer Bauer. Ich besaß nichts, er aber einen kleinen Hof. Und du weißt ja, Georg, geheiratet wurde hier „von Sach zu Sach“. Das habe ich dem Josef dann sein Leben lang hoch angerechnet, dass er mich genommen hat.“

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