Endlager

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„Guten Morgen, Schosi, wo ist der Verletzte?“, fragte Dr. Franz Stein, der Chefarzt des Waldkirchener Krankenhauses.

„Ja sapperlot, Franz, du höchst persönlich. Ist euer Personalmangel so groß, dass du selbst noch Notarzt spielen musst?“, flachste Kleintaler. Der Kommissar und der Arzt kannten sich seit vielen Jahren. Sie waren nicht nur gleich alt, sondern hatten auch am selben Tag, dem 1. Mai, Geburtstag. Beide taten Dienst in der Bergwacht und spielten miteinander Golf in Dorn und Poppenreut.

„Schmarrn, ich stand gerade bei den Sanka-Fahrern, als dein Notruf kam. Wo liegt denn der Verletzte?“

Kleintaler wies zur Brandschutztüre. „Ich hoffe, dass er überhaupt noch lebt. Vor wenigen Minuten habe ich bei ihm keinen Puls mehr gespürt.“ Er öffnete die Stalltür und ließ Dr. Stein vorangehen.

Frau Behr, die als letzte eintrat, schaltete das Licht an. Im Schein der flackernden Neonröhre glaubte Kleintaler seinen Augen nicht trauen zu können. Seine alte Milchkanne lag am Boden in der Blutlache, der Deckel neben der Stahltür, aber Johannes Behr war verschwunden. Und seine Arbeitskappe auch.

„Na, so schlecht scheint es deinem Verletzten dann doch nicht gegangen zu sein, Schosi, wenn er sich aus dem Staub gemacht hat.“ Franz Stein lachte.

„Das gibt es doch nicht. Ich habe doch keine Halluzinationen!“ Kleintaler starrte entgeistert auf den leeren Fußboden des Melkstandes.

„Franz, glaube mir, er hat hier gelegen. Schau dir doch nur die Blutlache an“, rief Kleintaler beschwörend.

„Vermutlich hat er sich am Kopf gestoßen, war kurz bewusstlos und ist jetzt dabei, seine Wunde zu versorgen.“ Der Chefarzt wandte sich an Frau Behr, die wie angewurzelt neben Kleintaler stand und gebannt auf die Blutlache starrte.

„Wo kann Ihr Mann denn sein? Ich möchte mir seine Verletzung doch gerne ansehen.“

„Vielleicht im Haus – ich weiß es nicht.“

„Wir werden ihn schon finden, denn weit wird er ja nicht kommen, mit seiner Kopfverletzung.“

Dr. Stein wies die Sanitäter an, nach dem Verletzten zu suchen. Er selbst ging mit Frau Behr zum Bauernhaus hinüber. In diesem Moment bog ein Polizeifahrzeug in den Hof ein. Kleintaler verließ den Stall und ging auf seine beiden Kollegen zu. Mit knappen Worten instruierte er Georg Stiefelbeck und Thomas Höpfner, die sich sofort an die Spurensicherung machten.

Kleintaler stand in der Mitte des Hofes neben einem graniternen Bildstock, der eine Pieta zeigte, und sah sich im Lichte des beginnenden Tages auf dem Bauernhof um. Links an den modernen Boxenlaufstall schlossen sich weitere Stallungen an, in denen die Kälber untergebracht waren. Aus großen Augen blickten ihn die erst wenige Wochen alten Tiere neugierig an, feuchte Schnauzen reckten sich nach oben, schmatzende Zungen genossen noch die letzten Reste des Kälberaufzuchtfutters. Geboren wurde häufig auf einem großen Hof, das wusste auch Kleintaler. Eine geschlossene Maschinenhalle verband die Stallungen mit dem Wohnhaus. Den Mittelpunkt des Anwesens bildete das große, fast protzig wirkende Bauernhaus. Dreigeschossig, mit trutzig wirkenden, durchgehenden Holzbalkonen hatte es Generationen beherbergt. Auf der rechten Seite ragte direkt neben der Hofeinfahrt das kreisrunde Güllebecken auf, gesichert durch ein mannshohes Drahtgeflecht. Wie ein gespenstisches Gerippe erschien der in den blauen Morgenhimmel ragende Turmmixer im frühen Sonnenlicht. Die offene Maschinenhalle bildete den Abschluss des Hofes, war Verbindungsglied zwischen Wohn- und Nutzbereich. Ladewagen, Güllefass, Heuwagen, Mähwerk und Egge konnte Kleintaler erkennen. Der Traktor, die Zugmaschine, fehlte. Der grüne, alte Unimog stand rückwärts eingeparkt in der Halle, daneben stand ein roter japanischer Kleinwagen. Die Betrachtungen des Kommissars wurden jäh von lautem Motorenlärm unterbrochen. Zwischen Bauernhaus und Maschinenhalle hatte der Hof Anschluss an einen Feldweg, der nach Schiefweg führte, und von dort bog nun ein Traktor in rasanter Fahrt auf den Hof ein und kam neben Kleintaler zum Stehen. Allein die Hinterräder mit dem großen Reifenprofil waren so hoch, dass der Kommissar das Fahrerhaus nicht berühren konnte. Die Tür der grün lackierten Fahrerkabine schwang auf und behände sprang ein junger, dunkelhaariger Mann von der Zugmaschine herunter, landete direkt neben den Kommissar.

„Hallo, Herr Kleintaler, was machen Sie denn noch hier? Sie holen sich Ihre Milch doch meistens schon um halb sechs und nicht erst um halb acht!“

Der Kommissar erkannte Christoph Behr, den einzigen Sohn und Hoferben. „Christoph, grüß dich, sag mal, wo kommst du denn her? Ich habe dich ja heute Morgen überhaupt nicht gesehen?“

„Nach dem Melken bin ich in unseren Wald gefahren, da liegt noch jede Menge Schneebruch, den habe ich mir angesehen, weil ich noch nicht weiß, wie ich den am besten verarbeite und ob sich das Ausholzen überhaupt lohnt. Aber jetzt im Ernst, was machen Sie noch da?“

„Christoph, hast du deinen Vater gesehen?“

„Nein, der ist nicht mitgefahren. Er ist hier am Hof geblieben. Ich weiß nicht, was er machen wollte. Viel sicher nicht, denn er ist ja nicht mehr der Jüngste. Aber was soll Ihre Frage? Ist etwas passiert?“

Kleintaler erzählt Christoph Behr nun von dem Vorfall am Morgen und dass sein Vater, trotz intensiven Suchens, noch immer verschwunden war.

Der junge Bauer schüttelte fassungslos den Kopf. „Aber Sie müssen doch etwas unternehmen, vielleicht liegt er irgendwo und kann sich nicht helfen. Herr Kleintaler, haben Sie schon im Güllebecken nachsehen lassen, vielleicht ist er dort hineingefallen? Oder er liegt irgendwo in der Umgebung in einem Bach und kommt alleine nicht mehr heraus. So tun Sie doch etwas. Ich bin mir sicher, dass mein Vater hier irgendwo am Hof ist und sich nicht helfen kann.“

„Christoph, seit zwei Stunden suchen wir deinen Vater. Wir haben keinen Winkel deines Hofes ausgelassen. Ich habe schon zehn Mann Verstärkung hier, wenn ich Glück habe, kommt die Hundestaffel aus Regensburg noch heute Vormittag. In einer Stunde überfliegt ein Hubschrauber aus Freyung den Hof mit einer Wärmebild-Kamera. Dann werden wir ihn auf jeden Fall finden. Aber vielleicht kannst du uns helfen, du musst doch wissen, wo er sich am Hof aufhalten kann?“

Mit dem Kommissar im Schlepptau machte sich Christoph Behr auf die erfolglose Suche nach seinem Vater.

Eine knappe Stunde später ertönte über dem Hof der Lärm der Rotorblätter eines Militär-Hubschraubers aus der Garnisonsstadt Freyung, der Sekunden später am kaltblauen Morgenhimmel auftauchte. Thomas Höpfner erschien neben Kleintaler und klappte seinen Laptop auf. Auf dem Bildschirm konnten sie die Arbeit der Wärmebild-Kamera mitverfolgen. Auch Christoph Behr sah neugierig auf das grün-blau-rote Farbenspiel. Er konnte jedes seiner Tiere im Stall an den roten Konturen erkennen. Eine menschliche Silhouette war jedoch nirgendwo auszumachen. Nach einer halben Stunde systematischen Überfliegens war Johannes Behr noch immer nicht gefunden. Sein Verschwinden gab nicht nur Kleintaler ein Rätsel auf.

Der Kommissar verließ gegen Mittag, nach der vergeblichen Suche, den Behr-Hof. Kurz bevor er seinen am Straßenrand geparkten Wagen erreicht hatte, kam ihm ein gebückt gehender, weißhaariger, alter Mann entgegen gewankt. Er trug ein großkariertes, rot-weißes Flanellhemd über einer abgewetzten, speckigen schwarzen Breitcordjeans. Seine Füße steckten in dicken Wollsocken, die Kleintaler deshalb erkennen konnte, weil er nur dünne, schief gelaufene Lederschlappen anhatte. Der Kommissar erkannte Jakob Lechner, den alten Schreiner.

„Tag, Herr Kommissar, was ist denn los beim Behr?“, krächzte er heiser. Eine dicke Schnapsfahne wabberte Kleintaler entgegen. „Ist dem Alten was passiert?“

„Was soll ihm denn passiert sein, Herr Lechner?“

„Ich weiß nicht, aber vielleicht hat sich das alte Schwein endlich sein dreckiges Genick gebrochen?“

„Sie reden aber gar nicht schön über den alten Behr, Herr Lechner. Aber Sie kommen der Wahrheit recht nahe. Johannes Behr ist seit heute Morgen tatsächlich spurlos verschwunden. Vielleicht wissen Sie, wo er sich aufhalten könnte? Sie kennen ihn doch schon recht lange und wohnen in der Nähe?“

„Keine Ahnung, außerdem ist mir das Schwein scheißegal“, brummte Lechner und wandte sich zum Gehen.

„Das glaube ich nicht, Herr Lechner, so wie Sie über ihn schimpfen. Wenn Sie etwas wissen, dann sind Sie verpflichtet, mir das zu sagen.“

„Sie haben doch keine Ahnung, Herr Kommissar.“ Mit einer abfälligen Handbewegung drehte sich Lechner um und schlurfte davon.

„Du armer, alter Säufer“, dachte Kleintaler, stieg in seinen Wagen und fuhr zu seiner Dienststelle.

Was nun folgte, war reine Routine. Ergebnislos überprüfte Tina Hartmann alle Krankenhäuser des Landkreises, dann wurde Johannes Behr bundesweit zur Fahndung ausgeschrieben. Kleintaler schickte ein Bild des vermissten Landwirts an die Presse, die es in ihrer nächsten Ausgabe veröffentlichen würde.

„Übrigens, Herr Kleintaler“, wandte sich Tina Hartmann an ihren Kollegen, „der Behr ist nicht der einzige Vermisste heute!“

„Was Sie nicht sagen! Wer ist denn noch verschwunden?“

„Sabrina Loskarn, ein neunjähriges Mädchen aus Holzfreyung, ist vorgestern Abend nicht nach Hause gekommen. Ihr Fehlen ist zunächst nicht aufgefallen, weil die Eltern dachten, das Kind würde bei der Oma in Hemerau übernachten. Die beiden Orte liegen ja nur einen Kilometer voneinander entfernt. Als aber nachts um zehn Uhr die Oma ihre Tochter noch einmal anrief, wurde das Verschwinden des Kindes bemerkt. Eine Suchaktion der Hauzenberger Polizei blieb bisher erfolglos. Mit der kleinen Sabrina ist auch ihr weißer Malteser- Hund verschwunden. Ein Bekannter von Sabrinas Eltern, der bei der Zeitung in Passau arbeitet, hat dafür gesorgt, dass bereits gestern Morgen ihr Foto in der Zeitung veröffentlicht wurde. Auch über das Regionalfernsehen wurde gestern Nacht schon nach ihr und dem Hund gesucht. Ich habe ein Bild von dem Mädchen bei mir auf dem Rechner, wenn Sie es sich anschauen wollen.“

 

Kleintaler stellte sich hinter seine junge Kollegin. Der betörend frische Duft ihres Parfüms stieg ihm in die Nase. Kleintaler schnüffelte begeistert. Dann widmete er seine Aufmerksamkeit dem Fahndungsfoto. Es zeigte das schmale, längliche Gesicht eines kleinen Mädchens, das acht oder auch zehn Jahre alt sein konnte. Rötlich blonde Locken ließen es sehr blass wirken. Allerdings gaben ihr die vielen kleinen Sommersprossen auf Nase und Wangen einen verschmitzten Gesichtsausdruck. Kleintaler kannte das Kind nicht. Er dachte an das Leid, das ihr Verschwinden ihren Eltern und Großeltern zufügte und hoffte nur, dass man sie sehr schnell und vor allem gesund und munter finden würde.

„Hoffentlich ist die Kleine mit ihrem Hund nur von zuhause abgehauen und taucht bald wieder auf“, flüsterte Tina Hartmann. „Hoffentlich behält auch hier die Statistik Recht, nach der über neunzig Prozent aller vermissten Kinder innerhalb von 48 Stunden wieder wohlbehalten zurückkommen.“

„Ihre Worte in Gottes Gehörgang.“ Kleintalers Stimme klang belegt.

„Glauben Sie, dass es zwischen den beiden Vermissten-Fällen einen Zusammenhang gibt?“

„Das ist eher unwahrscheinlich. Warum die kleine Sabrina verschwunden ist, wissen wir noch nicht. Aber den Behr, den habe ich ja noch selbst vor mir liegen sehen, ich bin ja über ihn gestolpert. Was meinen Sie, wie ich mir mein Gehirn zermartere, über das, was da vorgefallen sein könnte. Wo kann denn der Behr bloß hingekommen sein? Warum finden wir ihn nicht? Ich glaube, dass wir im Fall Behr schon jetzt von einem Verbrechen ausgehen können. Dagegen bin ich mir fast sicher, dass das Mädchen aus Holzfreyung bald wieder auftauchen wird. Im Bayerischen Wald verschwinden keine kleinen Kinder.“

Kleintaler verbreitete Zweckoptimismus.

Aber dieser denkwürdige Mittwoch hielt noch eine Überraschung für den etwas mitgenommenen Kommissar bereit. Kurz vor Dienstschluss klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch. Kriminaldirektor Schmitt war erneut am anderen Ende der Leitung.

„Guten Abend, Herr Kollege Kleintaler. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass die Amtseinführung von Hauptkommissar Dr. Bauernfeind am kommenden Freitag um zehn Uhr stattfinden wird. Kleine Besetzung: Bürgermeister, Landrat, meine Wenigkeit sowie alle Kolleginnen und Kollegen Ihrer Dienststelle. Kurze Vorstellung des neuen Dienststellenleiters, anschließend kleines kaltes Büffet. Gegen Mittag ist alles gelaufen. Sorgen Sie bitte für einen reibungslosen Ablauf. Die Ehrengäste sind eingeladen. Ich bedanke mich bereits im Voraus, bis morgen. Und noch einen schönen Abend.“ Bevor Kleintaler auch nur ein Wort „einzwicken“ konnte, hatte der Polizeidirektor bereits aufgelegt. Der Kommissar führte anschließend noch ein paar Telefonate und leitete alles für die Amtseinführung in die Wege. Dann hatte auch er genug für diesen Tag, er fuhr nach Hause.

„Schosi, du weißt schon, dass Tante Martha bald ihren 80. Geburtstag feiert“, empfing Marianne Kleintaler ihren angeschlagenen Gatten.

„Marianne, heute nicht, heute Abend will ich nur meine Ruhe und ich will nichts von Tante Marthas Geburtstag hören.“

„Warum bist du denn gar so genervt, Georg?“ Marianne funkelte ihren Mann verärgert an. Indem sie ihn mit seinem Rufnamen ansprach, signalisierte sie ihm deutlich ihre Verstimmung. Er goss sich zunächst ein dunkles Hefeweißbier ein, ließ sich in der Küche auf die Eckbank fallen, erst dann berichtete er seiner Marianne ausführlich von den vergangenen Ereignissen. Nachdem er geendet hatte, schwieg sie bedrückt.

„Du armer Kerl, was du heute alles mitgemacht hast. Und ich Dummkopf habe mich heute Morgen über dich geärgert, weil keine frische Milch im Kühlschrank war.“ Mit einem dicken Kuss leistete sie Abbitte.

„Aber sag mal, so einfach kann doch kein erwachsener Mann verschwinden. Wo kann denn der Behr nur sein? Meinst du, dass er sich vielleicht nur versteckt, um seiner Familie einen Schrecken einzujagen?“

„Ich weiß es nicht. Ich frage mich schon den ganzen Tag über, was ich verkehrt gemacht habe. Wenn ich bei ihm geblieben wäre, hätte er nicht verschwinden können. Auf der anderen Seite musste ich aber Hilfe holen. Außerdem schien er ja bereits tot zu sein, und wer muss schon damit rechnen, dass Tote so schnell wieder auferstehen? Aber, ob du es glaubst oder nicht, Marianne, weißt du, was mir noch mehr zu schaffen macht als der alte Behr? Es ist das vermisste Mädchen aus Holzfreyung. Ich bete darum, dass sie morgen gesund vor ihren Eltern steht, aber mein „Bauchgefühl“ macht mich momentan sehr unsicher.“

„Schosi“, Marianne schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, „weißt du eigentlich, dass meine Tante Martha viele Jahre als Magd und später als Haushaltshilfe auf dem Behr-Hof gearbeitet hat?“

„Nein, aber jetzt haben wir noch einen Grund mehr, sie am Wochenende zu besuchen.“

Georg Kleintaler erwachte schweißgebadet. Er sah die roten Leuchtziffern des Radioweckers. 04.17 Uhr. Im rechten Ehebett schlief friedlich Marianne. Leise und regelmäßig ging ihr Atem. Kleintaler tastete sich langsam in den frühen Tag. Draußen war es noch dunkel, aber die ersten Vögel hatten ihr Morgenkonzert bereits begonnen. „Verschwörungsgesang“, dachte Kleintaler. „Über wen werden die wohl zwitschern, doch nur über uns Menschen. Und eines Tages werden sie sich gegen uns verschwören und uns alles heimzahlen, was wir an ihrer Lebenswelt verbrochen haben.“ Langsam erinnerte sich Kleintaler, warum er aufgewacht war. Nein, aufgeschreckt war er. Der Kopf war es gewesen. Der graue Kopf mit dem abstehenden Haarkranz. Aber angefangen hatte der Traum ganz anders. Aber wie? Kleintaler schloss die Augen. Da war es wieder, das kleine blonde Mädchen mit den Sommersprossen. Es trug ein weißes Kleid. Ein Nachthemdchen? Und was hatte es in der Hand? Kleine grau-schwarz glimmernde Granitsteinchen.

Sie warf sie in die Höhe und wollte sie auffangen, doch sie fielen zu Boden. Aber da lagen sie nicht. Wo waren sie hingekommen? Das Mädchen wurde weggezogen. Johannes Behr zog sie und reichte ihr eine alte Milchkanne. Das war doch seine, die gehörte doch ihm. Was klapperte darin? Dieses Klappern wurde zum Donnern. Kleintaler hielt sich die Ohren zu. Dann wurde es still. Die Milchkanne fiel zu Boden. Behr lachte das Mädchen an. Nein, nicht Behr, ein Totenkopf lachte. Aber stand da nicht jemand im Hintergrund? Kleintaler kämpfte sich durch den Nebel des Vergessens in den Traum zurück. Die Erinnerung wurde genauer. Jakob Lechner, er hielt die Milchkanne in der Hand. Er verschloss sie mit dem blutigen Deckel, schüttelte sie, ließ sie zu Boden fallen und verschwand.

Georg Kleintaler schlief wieder ein. Als eine Stunde später der Wecker klingelte, fühlte er sich wie erschlagen. Seinen Traum hatte er jedoch schon fast wieder vergessen.

Kleintaler begann seinen Dienst an diesem Freitag pünktlich um sieben Uhr. Tina Hartmann blickte von ihrem Computerbildschirm auf, als der Kommissar sein Büro betrat und seine Jacke an den Kleiderständer hängte.

„Chef, mit offener Hose sollten Sie die Ehrengäste heute wohl besser nicht begrüßen.“ Die junge Kollegin deutete unmissverständlich in seine Richtung. Als sich Kleintaler eilig bemühte, den vermeintlich offenen Reißverschluss seiner Hose zu schließen und feststellen musste, dass dieser gar nicht offen stand, rief Tina Hartmann nur: „Ätsch, Herr Kommissar, April, April!“ Kleintaler ließ sich seufzend und kopfschüttelnd in seinen Schreibtischstuhl fallen.

„Tina, bevor Sie mich hier zum Affen machen, sagen Sie mir lieber, ob es in einem unserer beiden Fälle schon etwas Neues gibt.“

„Nein, es gibt weder von Sabrina Loskarn noch von Johannes Behr irgendeine Spur. Beide sind wie vom Erdboden verschwunden. Die Kollegen von Hauzenberg haben mitgeteilt, dass die kleine Sabrina am Montagnachmittag, so gegen 15 Uhr, mit ihrem weißen Malteser-Hündchen zu Fuß von ihrem Elternhaus in Holzfreyung nach Hemerau zu ihrer Großmutter gegangen ist. Das hat die Kleine zwei-, dreimal die Woche gemacht. Es ist ja nur ein kurzes Stück, etwa eineinhalb Kilometer. Die Kollegen haben jeden Meter ihres Weges abgesucht. Der Wald ist ebenso durchkämmt worden wie alle Straßengräben. Nichts, keine Spur, es wurde auch kein Hinweis gefunden, der auf ein Verbrechen hindeuten würde. Einfach nichts! Sie vermuten, dass sie möglicherweise in ein Auto eingestiegen ist, obwohl ihr das strengstens verboten war. Die Kollegen haben alle Nachbarn und Anwohner befragt, aber es ist überhaupt kein fremdes Fahrzeug aufgefallen.“

„Das ist schon recht merkwürdig.“ Kleintaler schüttelte nachdenklich den Kopf. „Sind Kleidungsstücke gefunden worden? Was hat das Mädchen denn überhaupt angehabt?“

„Laut der Mutter trug sie braune Lederstiefel, blaue Jeans, einen leichten weißen Strickpullover und darüber eine braune Kunstlederjacke. Aber es wurde nichts gefunden, nichts was auf ein Sexualdelikt schließen ließe. Sonderbar – wo ist eigentlich der Hund geblieben? Hat den niemand bellen gehört? Auch so ein kleiner Hund gibt doch Laut, wenn seinem Frauchen etwas passiert? Das ist alles sehr merkwürdig.“

„Und im Fall Behr liegen auch keine neuen Erkenntnisse vor – oder?“ Tina Hartmann schüttelte den Kopf.

„Na ja, wenn die „Inthronisation“ von Dr. Hanno Bauernfeind vorbei ist, werde ich noch einmal mit Frau Behr und ihrem Sohn reden. Vielleicht ergeben sich dabei neue Anhaltspunkte.“

Um Viertel vor zehn Uhr hatten sich bereits alle Kolleginnen und Kollegen Kleintalers im großen Besprechungsraum eingefunden. Der Kommissar begrüßte gerade den Waldkirchener Bürgermeister Fritz Keppler, einen hageren, großgewachsenen, blassen, im Amt ergrauten Endfünfziger, als der Landrat Matthes Mandl sich zu ihnen gesellte. Schier das genaue Gegenteil. Nur mittelgroß, aber stets mallorcabraun gebrannt, mit strahlendem Lächeln und dunkel getönter, mittelgescheitelter Bubi-Frisur.

„Herr Kleintaler, was muss ich hören, der alte Behr ist seit gestern verschwunden und immer noch nicht aufgetaucht! Was ist denn da passiert?“

„Herr Landrat, wir tappen völlig im Dunkeln.“ Kleintaler zuckte bedauernd mit den Achseln.

„Aber Schos, ein Mensch kann doch nicht spurlos verschwinden“, mischte sich der Bürgermeister ein. „Schaut zu, dass ihr ihn findet, der verschwundene Behr ist Stadtgespräch Nummer eins.“

„Fritz, momentan scheint der alte Behr wirklich wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Du weißt, dass wir gestern den ganzen Tag lang das gesamte Gelände um den Behr-Hof und den Pfeffermühlbach abgesucht haben. Nichts. Von dem alten Bauern keine Spur.“

Kleintaler wollte sich gerade dem Landrat zuwenden, als Polizeidirektor Schmidt eintrat, im Gefolge ein lang aufgeschossener Mann. Das musste Dr. Hanno Bauernfeind sein. Der Polizeidirektor trat auf die kleine Gruppe zu, Kleintaler stellte den Landrat sowie den Bürgermeister vor. Schmidt machte alle mit Bauernfeind, dem neuen Dienststellenleiter bekannt. Dann begann die Amtseinführung.

Kleintaler begrüßte Ehrengäste und Kollegen und übergab dann das Wort an den Polizeidirektor. Dieser schilderte kurz den Werdegang des Polizeihauptkommissars, ging aber mit keinem Wort auf dessen „umwerfendes Erlebnis mit der Lichtgestalt-Erscheinung“ ein. Er wünschte ihm für seine zukünftige Arbeit in seiner neuen Dienststelle viel Erfolg. Bauernfeind trat nun an das Mikrophon, das auf einem kleinen Rednerpult stand, und bedankte sich artig für die freundliche Einführung. Kleintaler nutzte die Gelegenheit sich seinen neuen Vorgesetzten näher zu betrachten. Dr. Hanno Bauernfeind war mindestens zwei Meter groß und sehr schlank. Man konnte ihn getrost als dünn bezeichnen. Der schwarze Anzug war ihm viel zu weit, die Sakko-Ärmel waren dagegen viel zu kurz. Seine gesamte Erscheinung hatte etwas Vogelscheuchenartiges. Dazu passte auch der schmale, kleine Kopf, aus dem die Adlernase herausragte. Die Wangenknochen zierten jeweils zwei breite, wulstige Narben, die wie helle Pfeile auf die großen Ohren mit den lang herab hängenden Ohrläppchen zielten. Die Augenbrauen waren dicht und über der Nasenwurzel zusammen gewachsen. Dr. Hanno Bauernfeind blickte mit kalten, grünen Augen auf die versammelten Gäste. Der neue Dienststellenleiter hatte dunkelbraunes, gewelltes, kurz geschnittenes Haar. Mit heller Stimme beraumte er für 14 Uhr eine erste Dienstbesprechung an, bevor er die Anwesenden zu einem kleinen Imbiss einlud.

 

Alle uniformierten Kolleginnen und Kollegen sowie die Zivil tragenden Kriminalbeamten saßen pünktlich um 14 Uhr im kleinen Konferenzraum zusammen und unterhielten sich. Hauptgesprächsthema war natürlich der neue Dienststellenleiter, der wenig später eintrat und an der Stirnseite des Raumes Platz nahm. Kleintaler setzte sich neben ihn. Bauernfeind ergriff das Wort.

„Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie zu unserer ersten Dienstbesprechung ganz herzlich begrüßen und ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit. Mein ganz besonderer Dank gilt Kommissar Kleintaler, der in den vergangenen Monaten nach der Pensionierung von Hauptkommissar Häusl die Dienststelle vorbildlich geleitet hat, und natürlich danke ich Ihnen für die geleistete Arbeit. Sie werden sich sicherlich gewundert haben, dass ich mich hier auf diesen Posten beworben habe.“ Einige Anwesende murmelten, einige nickten zustimmend. Nun bekam Bauernfeinds Stimme einen hellen, metallischen Klang.

„Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Sicherheit Bayerns beginnt an der Grenze im Osten. Ostbayern muss ein Bollwerk gegen das hereinschwappende Verbrechen sein. Grün-roter Schlendrian, wie wir ihn in unserem benachbarten Bundesland Baden-Württemberg bald erleben werden, rot-rote Laxheit, wie wir sie seit Jahren in manchen Bundesländern der ehemaligen DDR beobachten, darf es in Bayern nicht geben. In unserem Landkreis ist die Zahl der Straftaten im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vorjahr um 3,2 Prozent zurückgegangen, aber selbst 2486 Straftaten sind zu viel. Ich weiß, Ihre Aufklärungsquote liegt bei 78,4 Prozent. Das ist gut, aber nicht gut genug.“

„Der ist ausgezeichnet informiert“, dachte Kleintaler beeindruckt, „der hat sich sehr gut vorbereitet.“

„Ich erwarte von Ihnen zukünftig eine Aufklärungsquote von 100 Prozent. Sie sind als Beamtinnen und Beamte rund um die Uhr im Dienst. Jeder, der in diesem Landkreis ein Verbrechen plant oder eines ausführt, muss wissen, dass er gefasst wird. Abschreckung ist die beste Prävention. Unsere Sicherheit, die Sicherheit Bayerns, muss notfalls mit der Schusswaffe in der Hand, muss mit Tränen und, wenn es sein muss, auch mit Blut erkämpft werden. Ich danke Ihnen, liebe Kolle- ginnen und Kollegen!“

Als Bauernfeind seine Ansprache beendet hatte, sah Kleintaler in den Augen seiner Kollegen pures Unverständnis. Mit leichtem Kopfschütteln verließen sie den Raum, um auf den Gängen die Rede des neuen Dienststellenleiters zu kommentieren. Dieser wandte sich an Kleintaler.

„Herr Kollege, bitte noch auf ein Wort.“

Kleintaler blieb stehen und sah Bauernfeind erwartungsvoll an.

„Herr Kleintaler, wie ist denn der Stand der Ermittlungen im Fall Behr?“

„Von Ermittlungen im herkömmlichen Sinn können wir eigentlich noch gar nicht reden. Johannes Behr ist seit gestern Morgen verschwunden. Er scheint verletzt zu sein. Das Blut am Stallboden gehört dem alten Bauern, das hat die DNA-Analyse bereits ergeben. Das Absuchen des Hofes mit der Wärmebildkamera blieb ohne Erfolg. Zu dem Zeitpunkt, als ich Johannes Behr gefunden habe, war vermutlich nur seine Frau auf dem Hof, der Sohn Christoph ist, nach eigener Aussage, nach dem Melken in den Wald gefahren.“

„Richtig, Herr Kollege, Sie sagen es – nach eigener Aussage. Wissen Sie, die Sache erinnert mich sehr an einen ähnlich gelagerten Fall, der als „Tyrannenmord“ für Aufsehen in der Öffentlichkeit gesorgt hat. Damals, ich glaube, es war im Jahr 2001, haben die Ehefrau, die beiden Töchter und ein zukünftiger Schwiegersohn einen 52-jährigen Landwirt ermordet, zerstückelt und den Hofhunden zum Fraß vorgeworfen. Der Landwirt soll über Jahre hinweg die gesamte Familie tyrannisiert haben.“

„Herr Dr. Bauernfeind, ich kenne den Fall, der sich in der Nähe von Augsburg ereignet hat, und möchte Sie nicht verbessern, aber die Leiche des Landwirts wurde acht Jahre später in einem Auto in der Donau gefunden, unversehrt!“

„Ach, das wusste ich nicht“, antwortete der Polizeihauptkommissar knapp, und wie es schien, beleidigt.

„Ich bin gerade auf dem Weg zu Frau Behr, um sie noch einmal zu den Vorgängen vom gestrigen Morgen zu befragen. Ich werde Sie selbstverständlich auf dem Laufenden halten.“

Als Kleintaler sein Büro betrat, wäre er in der Tür beinahe mit Tina Hartmann zusammengestoßen, die ihn anlachte und ihm einen Zettel unter die Nase hielt.

„Sabrina Loskarn ist wieder aufgetaucht! Die Kollegen aus Hauzenberg haben es gerade gemailt.“

Kleintaler fiel ein zentnerschwerer Stein vom Herzen. Erleichtert und glücklich fragte er: „Wo hat die Kleine denn gesteckt? Ist sie gesund oder ist ihr etwas zugestoßen?“

„Sie ist zwar etwas geschwächt, aber ansonsten gesund. Und auch ihrem Hund ist nichts passiert.“

„Ja, aber wo ist sie denn gewesen? Hatte sie sich irgendwo versteckt?“

„Nein, Chef, nichts dergleichen. Es ist eine ganz merkwürdige Geschichte. Wenn ich die Mail richtig gelesen habe, dann gibt es zwischen Holzfreyung und Hemerau in Richtung des Rußingberges im Wald einen alten verfallenen Bauernhof, von dem nur noch der Keller stehen geblieben ist. Anscheinend hat sich ihr Hund losgerissen und ist durch die morschen Dielen in den Keller gestürzt. Als die kleine Sabrina ihn befreien wollte, ist sie selbst hinunter gefallen. Aus eigener Kraft ist sie dann nicht mehr herausgekommen. Die Polizisten haben beim ersten Mal dort gar nicht nach ihr gesucht. Als heute Morgen das ganze Gebiet noch einmal durchsucht und mit einer Wärmebildkamera überflogen wurde, konnte sie gefunden werden.“

„Na, Gott sei Dank, wenigstens ist dieser Fall glücklich ausgegangen. Kommen Sie, statten wir der Frau Behr noch einmal einen Besuch ab, vielleicht bringt sie uns in unserem Fall weiter.“

Eine halbe Stunde später passierten Tina Hartmann und Kommissar Kleintaler mit ihrem Streifenwagen die Einfahrt zum Behr-Hof. Sie stiegen die beiden Granitstufen zum Bauernhaus empor und klopften an die schwere Eichentür. Maria Behr öffnete schon nach wenigen Augenblicken, bat die beiden ins Haus und führte sie in eine große, modern eingerichtete Wohnküche, wo die Beamten Platz nahmen. Maria Behr blieb stehen und sah Kleintaler erwartungsvoll an.

„Haben Sie meinen Mann gefunden?“

„Nein, Frau Behr, wir haben noch immer keine Spur von ihm. Haben Sie eine Ahnung, wo er sich befinden könnte.“

Sie schüttelte traurig den Kopf.

„Mein Sohn und ich, wir haben noch einmal unseren gesamten Hof, alle Stallungen und Scheunen auf den Kopf gestellt. Wir haben nichts gefunden. Ich zermartere mir den Kopf, was überhaupt passiert sein könnte und ob er irgendwo hineingefallen ist, aber nichts, nichts. Ich bin mit meinen Nerven völlig am Ende.“

Kleintaler betrachtete die schlanke Frau. Sie trug einen knielangen dunkelblauen Rock, dazu eine passende dunkelblaue, blickdichte Strumpfhose. Die Seidenbluse war hellblau, eine marineblaue Strickjacke hatte sie über die Schultern geworfen. Maria Behr war wirklich eine elegante Frau, und nichts an ihr erinnerte an eine Bäuerin. Der Kommissar schätzte sie auf Mitte fünfzig. „Sie muss in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen sein, denn sie sieht heute noch sehr attraktiv aus“, fasste Kleintaler seine Betrachtung zusammen, bevor er auf den eigentlichen Grund seines Besuchs zu sprechen kam.

„Frau Behr, können Sie meiner Kollegin und mir sagen, wie der gestrige Morgen denn so abgelaufen ist, damit wir rekonstruieren können, was überhaupt vorgefallen sein könnte.“ Tina Hartmann hatte ihr Notizbuch aufgeschlagen und begann mitzuschreiben.