Endlager

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Bayerisches Staatsministerium München, 09.03.2011

des Innern

Odeonsplatz 3

80 539 München

Bewerbung vom 15.12.2010

Ihr Zeichen: 0073254/GK 010566-W

Sehr geehrter Herr Kommissar Kleintaler,

Bezugnehmend auf Ihre Bewerbung gemäß der Ausschreibung PKD/ 714 335 – D zum 15. Februar 2011 müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Bewerbung nicht berücksichtigt werden konnte.

Wir wünschen Ihnen für Ihre berufliche Laufbahn weiterhin viel Erfolg.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. G. Schneller(Staatssekretär)

„Scheiße“, dachte Kleintaler enttäuscht, „also wird es nichts mit der Dienststellenleitung. Und ich war mir so sicher, dass es klappen würde. Ich habe doch einiges vorzuweisen. Die Aufklärungsrate während meiner Leitung lag fast bei 80 Prozent. Ich habe einige neue Strukturen geschaffen, die langsam greifen, und den ganzen Laden hier modernisiert. Und das soll jetzt alles für die Katz gewesen sein? Unmöglich! Außerdem wären ein paar Euro mehr im Monat auch ganz gut gewesen. Das Leben wird sowieso immer teurer.“ Der Bleistift zerbrach zwischen seinen Fingern.

„Jetzt bin ich nur gespannt, welchen Deppen sie mir hier vor die Nase setzen werden. Marianne wird arg enttäuscht sein. Sie hätte mich sicher gerne als „Polizeichef“ hier in Waldkirchen gesehen. Aber naja, dann hat es eben nicht sein sollen.“ Er nahm einen Schluck Kaffee und spuckte blitzartig die kalte Brühe in die Tasse zurück. Während die Kaffeemaschine ihn mit einem neuen „Café crème“ versorgte, las der Kommissar die Berichte vom vergangenen Wochenende. Neben einigen Verkehrsunfällen mit Bagatellschäden, die sowieso nicht in seine Zuständigkeit fielen, fand er nur eine Wirtshausschlägerei interessant. In Altreichenau hatte man zum dritten Mal den Superstammtisch gesucht. In der Tennishalle mussten sich die besten der besten Stammtischler in den Disziplinen Maßkrugstemmen, Hau den Lukas und – neu eingeführt – im Biertragldrücken beweisen. Beim „Hau den Lukas“ schien es, vermutlich aufgrund exzessiven Alkoholkonsums, zu Unstimmigkeiten über die Bewertung gekommen zu sein, wer denn nun der Beste der Besten sei. Die Stammtischler hatten den Auftrag „Hau den Lukas“ zu ernst genommen. Zehn Kollegen hatten immerhin eine halbe Stunde gebraucht, um die raufenden Stammtischbrüder zur Ruhe zu bringen. Einige Anzeigen waren die Folge.

Kleintaler dachte erneut an die abgelehnte Bewerbung, die Absage ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er war enttäuscht, hatte er doch in den vergangenen neun Monaten einige Neuerungen auf den Weg gebracht. Der Komplex „Spurensicherung“ war von ihm dahingehend ausgebaut worden, dass zwei Kollegen nach intensiven Schulungen am Kriminaltechnischen Institut des Bayerischen Landeskriminalamtes in München nun eigenständig Spuren an einem Tatort sichern konnten, ohne auf die Kollegen aus Passau angewiesen zu sein. Sie waren in der Lage DNA-Proben zu nehmen, Formspuren zu sichern, PCR-Abgleiche zu erstellen. Selbst serologische Untersuchungen nahmen sie vor, um die Spuren menschlicher Herkunft am Tatort oder an Tatwerkzeugen nachzuweisen. Und sie arbeiteten eng mit der KTU in München zusammen. Seine „kleine Spusi“ nannte er die beiden Kollegen scherzhaft. Einen IT-Spezialisten hatte er vor Kurzem ebenfalls angefordert. Kleintalers Absicht war es, weitere Fachkompetenzen an seine Dienststelle in Waldkirchen zu ziehen, um vor allem der Polizeidienststelle in Freyung langfristig den Rang abzulaufen. Sollten seine Bemühungen nun ganz umsonst gewesen sein? Selbstmitleid überkam ihn, er fühlte sich ungerecht behandelt, Kleintaler litt wie ein Hund.

Da klopfte es zaghaft an seine Bürotür. Nachdem auf sein wiederholtes „Herein!“ die Türe immer noch geschlossen blieb, stand er auf und öffnete sie. Im fahlen Licht der Energiesparlampen, die den Flur schummrig beleuchteten, stand eine junge Frau in grüner Uniform, die Dienstmütze in den Händen drehend.

„Wollen Sie zu mir?“

„Sind Sie Kommissar Kleintaler?“ Die Frage klang schüchtern und unsicher.

„Ja, der bin ich. Kommen Sie doch bitte herein.“

Der Kommissar wies die Kollegin in sein Zimmer, bot ihr einen Stuhl an, deutete auf eine leere Tasse und fragte: „Kaffee?“

„Ja, gerne.“

Er stellte wortlos eine dampfende Tasse Kaffee vor sie hin.

„Milch und Zucker?“

„Danke, nur einen Schuss Milch, bitte.“

Nach dem ersten Schluck kam etwas Leben in die junge Frau. Wie von der Tarantel gestochen, sprang sie plötzlich auf, schlug die Hacken zusammen und salutierte.

„Entschuldigung, ich habe völlig vergessen mich vorzustellen, Herr Kommissar. Ich heiße Tina Hartmann, Polizeimeisterin zur Anstellung. Ich bin mit dem heutigem Datum Ihrer Dienststelle zugeteilt worden.“ Sie blieb stramm vor Kleintalers Schreibtisch stehen, fasste in die Innentasche ihrer Uniformjacke, zog ein zusammengefaltetes Schreiben hervor und reichte es Kleintaler.

Der Kommissar entfaltete es und grinste sie amüsiert an. „Aber um Gottes Willen, nehmen Sie doch bitte wieder Platz, Frau Hartmann. Es freut mich, dass Sie hier sind, obwohl ich offiziell von Ihrer Abordnung noch gar nichts weiß.“ Mit einer lässigen Handbewegung bat er sie, sich wieder hinzusetzen.

„So, Sie sind uns also zugeteilt worden, na dann, erst einmal herzlich willkommen in Waldkirchen. Haben Sie sich freiwillig hierher beworben oder eher nicht?“

„Doch, ja, ich wollte unbedingt nach Waldkirchen“, antwortete sie schnell, „wissen Sie, ich stamme aus Rosenau, vielleicht kennen Sie das Kaff, pardon, den Ort in der Nähe von Grafenau?“ Als Kleintaler bestätigend nickte, fuhr sie fort: „Ich habe in Grafenau mein Abitur gemacht und dann vier Semester Lehramt studiert. Deutsch und Geographie. Aber dann waren mir die Zukunftsaussichten zu schlecht. Ich habe mein Studium geschmissen und mich bei der Polizei beworben. Die haben mich sofort genommen. Bei der Bereitschaftspolizei in Nürnberg musste ich dann die Grundausbildung ableisten. Dann habe ich erfahren, dass hier ein IT-Spezialist gesucht wird. IT-Security war ein Schwerpunkt meiner Ausbildung. Und deshalb habe ich mich jetzt in meine Heimat versetzen lassen.“

Während Tina Hartmann ihren beruflichen Werdegang schilderte, hatte Kleintaler Zeit, sich seine neue Kollegin eingehend zu betrachten. Und was er sah, gefiel ihm ausgesprochen gut. Tina hatte rückenlange, brünette Haare, die einen warmen Glanz ausstrahlten und ihrem schlanken, ovalen Gesicht einen madonnenhaften Rahmen verliehen. Kleintaler fielen ihre großen, dunklen Augen auf, deren lange schwarze Wimpern sie noch größer und etwas verträumt wirken ließen. Sie hatte weiße ebenmäßige Zähne und zwei lustig wirkende Grübchen neben den Mundwinkeln, die ihr etwas Lausbubenhaftes verliehen. Langsam wanderte sein Blick tiefer. Tina hatte die grüne Uniformjacke wieder geschlossen, doch so wie sie über ihrer Brust spannte, ließ dies den Kommissar darunter einen üppigen, festen Busen vermuten. Die junge Kollegin war nicht sehr groß gewachsen, vermutlich hatte sie nur knapp die vorgeschriebe Einstellungsgröße erfüllt, aber sie war schlank, besaß eine schmale Taille und war wohl proportioniert. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, feste, aber nicht zu starke Oberschenkel zeichneten sich durch die Uniformhose ab.

Kleintaler war von seiner neuen Mitarbeiterin auf Anhieb begeistert.

„Das freut mich für Sie, Frau Hartmann, dass das mit Ihrer Versetzung auf Anhieb geklappt hat. Dann sind Sie bestimmt der IT-Spezialist, pardon, die IT-Spezialistin, die ich angefordert habe. Sehr gut. Wohnen Sie wieder in Rosenau oder haben Sie sich schon in Waldkirchen niedergelassen?“

„Nein, Gott bewahre, nach Hause bringen mich keine zehn Pferde mehr. Mein Freund hat mir hier in der Passauer Straße eine kleine Wohnung besorgt. Mal schauen, vielleicht heiraten wir sogar in absehbarer Zeit.“

„Das ist ja schön, für Sie, aber auch für uns, denn dann sind Sie ja auch dienstlich in Waldkirchen jederzeit erreichbar. So, und jetzt stelle ich Sie den Kollegen vor und zeige Ihnen unsere Polizeistation. Wie Sie sehen, ist hier noch ein Schreibtisch frei, der steht zu Ihrer Verfügung. Vermutlich werden wir in Kürze einen neuen Dienststellenleiter bekommen. Sein Büro liegt genau gegenüber.“

Nach einem kurzen Rundgang durch die Dienststelle kehrten Kleintaler und Tina Hartmann eine halbe Stunde später wieder in ihr Büro zurück. Der Kommissar griff in die „Eingang“-Ablage und entnahm von einem kleinen Stapel einen rotbraunen Schnellhefter, den er der jungen Polizeimeisterin auf den Schreibtisch legte. „Frau Hartmann, wir haben seit einigen Wochen mehrere Einbrüche in Sportvereinsheime in Waldkirchen und umliegenden Ortschaften. Vermutlich stecken Jugendliche dahinter. Schauen Sie sich bitte mal die Fälle an, werten Sie Gemeinsamkeiten aus und erstellen Sie ein Täterprofil, mit dem wir arbeiten können. Und wenn Sie Fragen haben, bitte keine Scheu, ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.“ Tina Hartmann fuhr ihren Computer hoch, richtete ihren Schreibtisch ein und machte sich an die Arbeit.

Kurz nach der Mittagspause läutete das Telefon auf Kleintalers Schreibtisch. „Polizeidirektion Waldkirchen, Kleintaler“, meldete sich der Kommissar vorschriftsmäßig. „Polizeipräsidium Niederbayern, Schmitt, Grüß Gott, Herr Kleintaler, schön, dass ich Sie gleich erreiche.“ Kleintaler hüstelte nervös. „Herr Kriminaldirektor, guten Tag, was verschafft mir die Ehre?“

„Herr Kleintaler, Sie können sich vorstellen, warum ich persönlich bei Ihnen anrufe. Sicherlich hatten Sie heute Morgen die Ablehnung Ihrer Bewerbung in Ihrer Post.“

 

„Ja, hatte ich – leider.“

„Herr Kollege, ich kann Ihre Enttäuschung verstehen, aber ich versichere Ihnen, es lag nicht an mir. Ich habe alles unternommen, was mir als Polizeipräsident möglich war, um Ihre Bewerbung zu unterstützen. Sie wissen, dass ich Sie und Ihre Arbeit sehr schätze. Es war vorbildlich, wie sie die Waldkirchener Dienststelle in den vergangenen Monaten neu strukturiert haben. Und das habe ich auch so an das Staatsministerium weitergegeben. Aber leider hat es nichts genützt.“

Der Polizeipräsident senkte die Stimme.

„Unter uns gesagt, es ist hier wohl eine politische Entscheidung gefallen. Da waren andere Kräfte am Werk, und ich weiß leider nicht welche.“

„Ich werde damit leben können, oder besser gesagt, damit leben müssen.“ Kleintaler kamen seine letzten Worte sehr pathetisch vor, deshalb fragte er etwas ironischer nach: „Herr Kriminaldirektor, wer ist denn der Unglückliche, der unter mir Dienststellenleiter sein muss?“

„Hauptkommissar Dr. Hanno Bauernfeind wird am kommenden Mittwoch, also am 1. April seinen Dienst antreten. Ich persönlich werde seine Amtseinführung vornehmen. Auf Wunsch von ganz oben. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, und Kopf hoch, ich bin mir sicher, es gibt für Sie noch ganz andere Karrieremöglichkeiten.“

Nachdem der Polizeipräsident aufgelegt hatte, blickte der Kommissar seine neue Mitarbeiterin an und fragte spontan: „Frau Hartmann, kennen Sie einen Hauptkommissar Bauernfeind, Dr. Hanno Bauernfeind?“

„Aber sicher doch!“ Zur Überraschung des Kommissars kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. „Zu Beginn meiner Ausbildung war er für ein halbes Jahr bei der „BePo“, bei der Bereitschaftspolizei in Nürnberg. Ich glaube, dass er dann kurz nach Bamberg ging, bevor er nach Erlangen versetzt wurde. Aber wie kommen Sie denn auf den?“

„Hanno Bauernfeind wird am 1. April unser neuer Dienststellenleiter!“

„Ich kenne ihn eigentlich nur vom Hörensagen.“

„Wenn er tatsächlich einmal in Bamberg war, dann wissen wir gleich, um wen es sich handelt.“

Kleintaler nahm den Telefonhörer ab, und nach ein paar Sekunden hätte Tina Hartmann ein interessantes Gespräch mitverfolgen können, sofern sie denn „hellhörig“ gewesen wäre.

„Polizeidirektion Bamberg, Zoelle, grüß Gott.“

„Grüß dich, Manni, ich bin’s der Schosi. Wie geht’s dir denn?“

„Ja, servus Schorsch, gut geht es mir. Ich habe noch drei Arbeitstage und dann geht es ab in den Urlaub. Rosi und ich, wir fliegen für drei Wochen nach Kuba. Was meinst du, wie wir uns freuen. Aber du rufst doch sicherlich nicht an, um mir einen schönen Urlaub zu wünschen. Also raus damit, was hast du auf dem Herzen?“

„ Wie du weißt, habe ich mich hier in Waldkirchen als Dienststellenleiter beworben – und bin abgelehnt worden.“

„Das tut mir aber leid, Schorsch, den Posten hätte ich dir so sehr gegönnt.“

„Naja, ist ja halb so schlimm, aber ich habe eine Frage, Manni. Wir bekommen als neuen Chef einen gewissen Dr. Hanno Bauernfeind. Und ich habe gehört, dass der mal kurz in Bamberg war. Kennst du ihn?“

Schallendes Gelächter drang so laut aus dem Hörer, dass Tina Hartmann erstaunt aufblickte.

„Herzlichen Glückwunsch, Schorsch, ihr bekommt den größten Armleuchter, der in ganz Bayern herumläuft.“

„Komm, Manni mach‘ halblang. So schlimm kann der Kerl doch wirklich nicht sein.“

„Doch, wenn ich es dir sage. Bauernfeind ist kalt wie eine Hundeschnauze und geht bei seiner Arbeit wirklich über Leichen. Seine Kollegen verheizt er gnadenlos. Wir in Bamberg waren froh, dass er nach einem halben Jahr nach Erlangen versetzt wurde. Und was das Schlimmste ist, er hat bei allem, was er tut, vermutlich politische Rückendeckung. An den ist nicht heranzukommen. Aber weißt du, was ich mich frage? Was soll der bei euch in Waldkirchen? Der läuft doch eigentlich schon auf der Ministeriumsspur. Was macht der denn im Bayerischen Wald?“

„Manni, ich habe keine Ahnung. Unter uns gesagt, der Polizeipräsident hat Ähnliches anklingen lassen. Es soll sich um eine politisch motivierte Versetzung handeln. Ich weiß nur nicht warum?“

„Schorsch, willst du wissen, wie der Bauernfeind überhaupt Polizist wurde? Es gibt da eine tolle Geschichte.“

„Okay, schieß los Manni!“

„Dr. Hanno Bauernfeind ist eigentlich gelernter Metzger!“

„Manni, nimm mich nicht auf den Arm. Das glaubt doch kein Mensch – gelernter Metzger!“ Kleintaler schaltete nun den Lautsprecher ein, damit die junge Kollegin alles mitbekommen konnte.

Tina Hartman legte ihren Bleistift weg und begann interessiert zuzuhören.

„Doch Schorsch, du hast richtig gehört, gelernter Metzger.“

„Er hat nach seinem Realschulabschluss keine Lehrstelle bekommen und musste auf Druck seiner Eltern eine Ausbildung als Metzger machen. Diesen Beruf übte er in der Nähe von Nürnberg auch bis zu seinem 25. Lebensjahr aus. Dann hatte er ein im wahrsten Sinn des Wortes umwerfendes Erlebnis. Im Großraum Nürnberg gab es Ende der neunziger Jahre den Edi-Bomber. Ein Räuber, der mit einer Gummi-Maske des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten vor dem Gesicht kleine Sparkassenfilialen überfiel und immer nach dem gleichen Schema vorging. Er stürmte in die Bank rein, warf eine selbst gebastelte, kleine Bombe und nutzte das darauffolgende Chaos, um Geld zu erpressen. Mehr als einhunderttausend Mark hat er auf diese Weise erbeutet. Und eines Tages befindet sich unser Hanno Bauernfeind in einer dieser Filialen, um vom Geldautomaten seinen Monatslohn abzuheben. Der Edi-Bomber rennt rein, wirft seine Bombe, und es zerreißt den Geldautomaten, vor dem Hanno steht. Dieser wird von einem Metallteil am Kopf getroffen, verliert das Bewusstsein und hat eine Erscheinung. Ehrenwort, er hat es mir wortwörtlich so erzählt! Eine Erscheinung! Eine gleißende Lichtgestalt erschien ihm, befahl ihm Jura zu studieren und Kriminalbeamter zu werden, um das Böse in der Welt auszurotten. Außer ein paar Schnittwunden im Gesicht fehlte ihm nichts. Aber er gehorchte seiner Lichtgestalt. Auf dem zweiten Bildungsweg hat er das Abitur nachgemacht, Jura studiert, das Studium mit einem Einser-Examen abgeschlossen, promoviert, und dann ist er tatsächlich zur Kriminalpolizei gegangen. So, und jetzt hast du ihn an der Backe. Viel Spaß, Schorsch!“

Kleintaler war sprachlos, Tina Hartmann lachte glucksend.

„Manni, das kann doch wohl nicht wahr sein. Aber danke für deine Informationen. Grüß mir Rosi herzlich, und jetzt wünsche ich euch einen schönen Urlaub.“

Nachdem der Kommissar aufgelegt hatte, sah er seine neue Kollegin etwas deprimiert an und sagte nachdenklich: „Na, Frau Hartmann, da können wir uns ja auf was gefasst machen.“

Kurz nach Dienstschluss betrat Georg Kleintaler die gemütliche Essküche in seinem Haus in der Dreisesselstraße. Seine Frau Marianne war gerade dabei, sein Lieblingsessen, Pizza „Schinken-Hawaii“, aus dem Backofen zu nehmen und in gleichgroße Stücke zu zerteilen. Ein wunderbarer Duft nach Käse und Ananas lag in der Luft und ließ Kleintaler das Wasser im Munde zusammenlaufen. Er drückte Marianne einen dicken Kuss auf die Wange und setzte sich ächzend an den liebevoll gedeckten Abendbrottisch. Ja, das war seine Marianne, vom Porzellan, über die Serviette bis zum Lieblings-Weißbierglas, es passte einfach alles zusammen.

„Gut, dass du pünktlich bist, denn erstens ist die Pizza fertig und zweitens muss ich mit dir reden. Du weißt doch, Tante Martha hat Geburtstag“, begrüßte sie ihn.

„Das trifft sich ja gut, denn ich muss auch mit dir reden, aber nicht über Tantchens Geburtstag – meine Bewerbung ist abgelehnt worden.“

Nun war es raus. Kleintaler sah seine Frau resigniert an und zuckte mit den Schultern, so als wollte er ausdrücken: Ich kann nichts dafür.

„Das tut mir wirklich leid für dich.“ Marianne umarmte ihren Schosi liebevoll und küsste ihn zärtlich. „Nimm es nicht so schwer, mein Schatz, ich liebe dich, auch wenn du nicht Dienststellenleiter wirst.“

„Und ich dachte, du wärst sehr enttäuscht, weil du es dir so stark gewünscht hattest, dass ich Chef in Waldkirchen würde.“

„Nein Schosi, wenn du nicht enttäuscht bist, dann bin ich es auch nicht, und jetzt Schwamm drüber. Die Pizza wird kalt.“

Nach dem zweiten Stück „Schinken-Hawai“ und einem großen Schluck dunklen Hefeweißbieres setzte Kleintaler die Unterhaltung fort.

„Du Marianne, es gibt noch eine Überraschung.“ Und dann erzählte er ihr ausführlich die Geschichte von Dr. Hanno Bauernfeind, dem avisierten neuen Dienststellenleiter und von dessen „Erscheinung“, so wie sie sein Bamberger Freund und Kollege ihm geschildert hatte.

„Jetzt hast du noch gut lachen“, mahnte Marianne, „aber warte erste einmal ab, ob der nicht wirklich so ist, wie Manni Zoelle ihn beschrieben hat.“

„Fast hätte ich es vergessen“, führte Kleintaler das Gespräch weiter, „wir haben eine neue Mitarbeiterin bekommen.“ Mit dürren Worten erzählte er ihr von Tina Hartmann.

„Ist sie hübsch?“, fragte Marianne neugierig.

„Naja, geht so“, wich der Kommissar aus, „aber sie ist eine große Hundefreundin.“

„Woher weißt du das denn?“ Seine Frau sah ihn fragend an.

„Sie hat zwei schöne große Möpse“, fuhr Kleintaler lachend fort.

Marianne schüttelte erbost den Kopf und warf ihm einen zornigen Blick zu. Der Kommissar konnte noch lange über seinen eigenen Witz lachen. Tante Marthas nahender Geburtstag wurde wiederum völlig vergessen.

Nach dem Abendessen hatte es sich Kleintaler im Wohnzimmer auf dem Sofa bequem gemacht und verfolgte interessiert die Nachrichten der „Tagesschau“.

„Siehst du, Marianne, ich habe doch Recht gehabt“, rief er zu ihr in die Küche hinüber. „Die Reaktorkatastrophe in Japan zeigt jetzt bei uns schon ihre ersten Folgen.“

„Warum? Zieht die Radioaktivität jetzt schon zu uns?“ Mariannes Stimme klang besorgt.

„Nein, aber die Regierung hat sieben Atomkraftwerke abschalten lassen. Damit beginnt der Einstieg in den Ausstieg aus der Kernkraft. Warte nur, bald werden sich unsere Politiker darin überschlagen, wer am schnellsten die unsinnigsten Vorschläge zur Nutzung alternativer Energien unterbreiten darf.“

„Sag mal, Schosi, ist das alles nicht irgendwie verlogen? Erst verlängert man ohne Grund die Laufzeiten der Atomkraftwerke und kaum zwei Jahre später fordern die gleichen Politiker deren Stilllegung?“

„Aber sicher ist es das. Nur wer zahlt denn immer die Zeche? Das sind doch wir einfachen Bürger. Kannst du dir vorstellen, welche Rechnung uns jetzt die vier großen Stromkonzerne aufmachen werden? Kannst du dir vorstellen, welche Energiekosten jetzt auf uns zukommen werden? Und dann hoffen alle unsere Politiker, dass wir bis zu den nächsten Wahlen ihre gesamte Unfähigkeit schon wieder vergessen haben. Aber ich glaube, dass sie sich dieses Mal täuschen werden.“

Kleintaler stand mit vor Zorn gerötetem Gesicht in der Küchentür. Er hatte sich in Rage geredet. Aber er sollte Recht behalten.

Kleintaler zog leise die Eingangstür ins Schloss und den Reißverschluss seiner Fleece-Jacke zu. Es war bitterkalt an diesem Mittwochmorgen und noch immer stockfinster. „Scheiß Sommerzeit“, fluchte er. Erst vor ein paar Tagen war wieder die Uhr umgestellt worden, eine Stunde nach vorne, deshalb war es eigentlich erst Viertel nach vier Uhr morgens, obwohl das Leuchtzifferblatt auf Kleintalers Armbanduhr 05.17 Uhr, also eine Stunde mehr anzeigte. Der Kommissar dachte an eine große Leserbriefaktion in der Lokalzeitung über Sinn und Unsinn der Zeitumstellung und versprach, sich im nächsten Jahr mit einem geharnischten Schreiben an dieser Aktion zu beteiligen. Er schloss sein Auto auf, legte die alte Aluminiummilchkanne auf den Beifahrersitz, nahm den Eiskratzer aus dem Handschuhfach und begann die Windschutzscheibe frei zu kratzen.

„Hätte ich die Karre doch bloß in die Garage gestellt“, schimpfte er sich für seine Nachlässigkeit. „Die Woche geht ja gut weiter. Wer weiß, was heute noch alles passiert.“ Nach wenigen Minuten lenkte er seinen alten Passat in Richtung Färberberg. Langsam, den zahlreichen Schlaglöchern und Frostbrüchen ausweichend, fuhr er in Richtung Geier-Mühle. Er ließ den Carossasteig ebenso rechts liegen wie die Eichendorffstraße.

„Wenn der Romantik-Dichter wüsste, welche Buckelpiste seinen Namen trägt, hätte er damals sicherlich statt „Mondnacht“ „Die Achse kracht“ gedichtet. Aber dem Adalbert Stifter geht es ja noch schlechter. Die nach ihm benannte Fahrbahn hat zwar einen neuen Teerbelag, aber die ist so schmal, dass nicht einmal zwei Fahrräder ungestreift aneinander vorbeikommen, und am schlimmsten hat es den Hans Carossa erwischt. Sein „Steig“ ist höchstens eine holprige Pissrinne.“ Kleintaler hatte sich warm geärgert, als er sein Auto weit hinter der Geier-Mühle vor dem Behr-Hof parkte.

 

„Warum nur kann Marianne keine normale Milch aus dem Tetrapack trinken? Nur wegen ihr stehe ich dreimal in der Woche eine Stunde früher auf, um frische Kuhmilch zu holen. Das macht doch sonst kein vernünftiger Mensch, nur ich Dödel lasse mir das schon seit über fünfzehn Jahren gefallen. Hoffentlich haben die Kühe wegen der Zeitumstellung nicht ihre „Milchlieferung“ verweigert. Das wäre dennertst das Höchste!“ Kleintaler grummelte immer noch vor sich hin, als er sich auf den Weg zu dem letzten Bauernhof am Rande der Stadt Waldkirchen machte, von dem er seit Jahren seine „frisch zeidelte Milli“ bezog.

Kleintaler wusste nicht, seit wie vielen Jahren der Landwirt Johannes Behr seinen Hof schon bewirtschaftete. Vor ein paar Jahren, so glaubte er sich zu erinnern, hatte der alte Behr, der schon weit in den Siebzigern stand, die Landwirtschaft an seinen einzigen Sohn Christoph übergeben. Er beteiligte sich aber immer noch an der Stallarbeit und hatte vor allem den Melkstand unter sich. Der Kommissar vermutete, dass er mit dem Milchgeld seine Rente aufbesserte.

Er durchschritt zügig das schwarze, in der Dunkelheit unheimlich und bedrohlich wirkende Eingangstor des stattlichen Vierseithofes, wandte sich dann nach links, dem modernen Boxenlaufstall zu, um durch eine kleine Tür an der rechten Seite ins Kühlhaus neben dem Melkstand zu gelangen. Draußen war es noch immer stockdunkel. Der beginnende Morgen war nur zu erahnen. Kleintaler sah kaum die Hand vor Augen. Langsam öffnete er die Brandschutztür und betrat den langen, finsteren Gang. Nur durch ein schmales Oberlicht in der Stallwand fiel ein fahler Lichtschein. Kleintaler nahm den säuerlichen, ekelerregenden Silage-Geruch wahr, spürte die warme Stallluft, die ihn wohlig umfing. Leise klapperte die metallene Milchkanne in seiner linken Hand. Bevor er die Tür zum Kühlhaus öffnen konnte, stolperte er plötzlich, fiel nach vorne und konnte sich nur durch ein blitzschnelles Abstützen davor bewahren, mit dem Kopf gegen die mit Aluminium ummantelte Kühlhaustür zu schlagen. Die Milchkanne fiel scheppernd zu Boden, der Kannendeckel löste sich und rollte leise klappernd davon. Ein heftiger Schmerz stach in sein linkes Handgelenk, ihm wurde schwarz vor Augen. Er fiel auf die Knie, und er fiel weich.

„Was liegt denn da? Verdammt noch mal, worüber bin ich eigentlich gestolpert?“ Kleintaler tastete mit der rechten Hand den Boden ab. Er spürte etwas Feuchtes, Klebriges an seiner Hand, zog sie ruckartig zurück und wischte sie vorsichtig an seiner Fleece-Jacke ab. Dann erhob er sich ächzend und zog mit der unverletzten Hand seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Mit der kleinen, daran hängenden LED-Lampe suchte er den Gang ab. In ihrem bläulichen, leuchtenden Schein sah er einen Mann gekrümmt am Boden liegen. Die wenigen grauen Haare standen ihm wirr um den Kopf, aus einer Wunde am Schädel rann Blut. Seine blaue Arbeitskappe lag daneben, eine kleine, dunkle Blutlache breitete sich langsam aus. Kleintaler erkannte den Mann sofort.

Johannes Behr hatte ihm seit über fünfzehn Jahren dreimal pro Woche zwei Liter frische Kuhmilch abgefüllt. Er bückte sich, suchte die Halsschlagader, fand keinen Pulsschlag. Johannes Behr hatte die Augen geschlossen, er war offensichtlich tot. Kleintaler fasste in seine Jackentasche und suchte nach seinem Handy. „Mist, das steckt ja zuhause in der Dienstjacke!“ Er rannte aus dem Stall, lief quer über den Hof auf die große Eingangstür des Bauernhauses zu, nahm die beiden Granitstufen mit einem Sprung und drückte die schwere Eichentür auf. Sie war unverschlossen. „Hallo, ist da jemand?“, rief er. „Ist da jemand, hallo?“ Unschlüssig hielt er inne. Er suchte nach einem kleinen Lichtspalt, nach einem kleinen Anhaltspunkt, wohin er sich wenden konnte. „Hallo, der Bauer liegt schwer verletzt im Stall! Ist jemand da? Ich muss telefonieren!“ Kleintaler hörte, wie eine Tür im ersten Stock geöffnet wurde, er nahm das Klicken des Lichtschalters wahr. Im gleichen Augenblick wurde es hell im Flur, und am oberen Treppenabsatz erschien eine schwarz gekleidete Gestalt. „Was schreien Sie denn hier so rum, junger Mann? Was wollen Sie und wer sind Sie überhaupt?“ Langsam kam eine Frau die Treppe herunter, blieb in der Mitte stehen und sah ihn vorwurfsvoll an.

„Was ist los? Wer ist verletzt? Mein Mann? Oder der Christoph?“

„Der Bauer liegt schwer verletzt im Stall. Ich muss telefonieren und Hilfe holen, verstehen Sie. Den Notarzt, es ist dringend! Wo ist denn ein Telefon?“ Die Frau hastete die übrigen Stufen hinunter, stand nun neben ihm, blickte ihn überrascht und ängstlich an. „Was sagen Sie, was ist mit meinem Mann? Wo ist er denn? Verletzt sagen Sie! Wo denn? Sagen Sie doch was!“ Ihre dunkle Stimme zitterte, ihre Lippen bebten.

„Ich muss telefonieren? Wo ist denn verdammt noch mal ein Telefon?“

Die Frau fasste Kleintaler am Ärmel seiner Fleece-Jacke, öffnete rechts eine Zimmertür und schob den Kommissar hinein. Sie machte Licht, und Kleintaler sah auf einem kleinen Tischchen ein altertümliches Tastentelefon stehen. Er riss den Hörer von der Gabel und wählte die Notrufnummer. In knappen Worten schilderte er, wo was geschehen war. Dann unterbrach er die Verbindung und wählte erneut, diesmal die Nummer seiner Dienststelle. Tina Hartmann meldete sich. „Tina, hören Sie, hier Kleintaler. Ich bin auf dem Behr-Hof, der liegt hinter der Geier-Mühle. Schicken Sie mir sofort die „kleine Spusi“ vorbei. Ich glaube, hier ist etwas Schreckliches passiert.“

„Wen soll ich Ihnen schicken, Herr Kleintaler, die kleine Susi? Wer ist das?“

„Oh Gott, die ist ja neu bei uns, die kann ja noch gar nicht wissen, was ich meine“, durchfuhr es Kleintaler, und laut antwortete er: „Schicken Sie mir die Kollegen Stiefelbeck und Höpfner, die wissen dann schon, worum es geht!“ Er legte den Hörer auf die Gabel und wandte sich zum Gehen. Da schüttelte Frau Behr ihn am Arm, sie hielt ihn zurück. „Was ist mit meinem Mann? Was ist denn Schreckliches passiert? Wo ist er denn überhaupt? So antworten Sie mir doch, bitte“, flehte sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Kleintaler betrachtete sie kurz, etwas irritierte ihn. In ihrem langen, schwarz-seidenen Morgenmantel schien Frau Behr schmal und zerbrechlich. Ihr schmales, blasses Gesicht wirkte im Kontrast zu den schulterlangen, nach außen gewellten, kastanienbraunen Haaren, die nur von ein paar silbernen Fäden durchsetzt waren, beinahe durchsichtig. Obwohl es erst halb sechs Uhr am Morgen war, sah sie nicht verschlafen aus. Das Haar war frisiert und das frische Rot ihrer Lippen ließ eine Spur von Lippenstift erahnen. Vor Kleintaler stand eine immer noch schöne, beinahe aristokratisch wirkende Frau, deren Füße in schwarzen Samtpantoletten steckten. Und jetzt wusste der Kommissar, was ihn irritierte: So sah keine Bäuerin aus, die ein Leben lang hart gearbeitet hatte.

Kleintaler konnte sich jedoch dunkel daran erinnern, dass schon seine Frau Marianne immer gesagt hatte, die „Behrin“, so wurde sie unter den Waldkirchenern genannt, sei sehr viel jünger als ihr Mann und halte nicht viel von der Bauernarbeit. Offenbar hatte Marianne wie immer recht gehabt.

„Kommen Sie mit!“ Der Kommissar packte die Frau am Handgelenk. „Ihr Mann ist vermutlich schwer verletzt, er liegt im Melkstand. Ich hoffe, der Notarzt kommt bald!“ Er zog sie mit sich.

Gerade als sie den Stall betreten wollten, raste der Krankenwagen mit lautem Sirenengeheul die Auffahrt hinauf und hielt mit quietschenden Reifen neben dem Kuhstall. Sanitäter und Arzt sprangen aus dem Wagen.