Sprachliche Höflichkeit

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3.2.3 Höflichkeitserziehung

Die Normvorstellungen der Kunst der guten Unterhaltung bezogen neben den detaillierten Vorschriften zu SprechstilSprechstil und WortwahlWortwahl auch para- und nonverbalpara- und nonverbales Gesprächsverhalten ein (z.B. Wohlklang der Stimme, Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit).

In Konstanze von Frankens Katechismus des guten Tones und der feinen Sitten, 1890 in 16. Aufl. erschienen, ergehen z.B. eindeutige Ermahnungen an die jungen Damen und Herren, im gesellschaftlichen Gespräch emotional gefärbte Wörter (z.B. feudal, famos, sündhaft, infam, patent, pyramidal, superbe, phänomenal sowie kolossal) sowie politische und religiöse GesprächsthemenGesprächsthemen zu vermeiden. Sie führten zu leidenschaftlicher Erregung und feindseligen Spannungen, die jeder angenehmen Unterhaltung ein Ende machen.

Trotz dieser engmaschigen sprachreglementierenden Vorschriften galt auch das bildungsbürgerliche Ideal nach wie vor dem „leichten“, von konkreten Handlungszwecken losgelösten Gespräch. Die geistreiche Konversation diente, als weitgehend selbstzweckhafter Zeitvertreib, einer sozialen Abgrenzung (nach unten) und der bildungsbürgerlichen Selbstvergewisserung (vgl. Linke 1996b).

Einen Überblick über die große Anzahl von Anstands- und ManierenbüchernAnstandsbuch in der Zeit von 1870 bis 1970 vermittelt die Studie von Krumrey (1984). Sie veranschaulicht den Wandel ungeschriebener Verhaltensnormen als Stationen des ZivilisationsprozessesZivilisationsprozess, den EliasElias (1939/1976) beschrieben hat. Die Entwicklungsstufen werden in sechs zentrale Beziehungstypen strukturiert, darunter: Beziehungen zu sich selbst (u.a. Sprachgebrauch, Gestik, Mimik, Körperhaltungen) und zu anderen Personen (je nach Alter, Geschlecht, Status, Vertrautheit) bis hin zum Gebrauch des Taschentuchs „als Gerät zur normgerechten, standardisierten Regulierung spezifischer körperlicher Äußerungen“ (Krumrey 1984, 233).

Aus dem Abschnitt über Verhaltensstandards zur Äußerung von Affekten, Gefühlen und Empfindungen seien die folgenden drei Zitate aus verschiedenen Epochen präsentiert:

Vermeide in deiner Rede alles Affektirte und Gezierte […] Sprich weder zu langsam, noch zu geschwind; weder zu laut noch zu leise, und bediene dich keiner gemeinen und zweideutigen Worte […]. Dein Vortrag gebe Zeugnis von einer gründlichen Kenntnis der Sprache und sei durchaus grammatisch richtig. (Höflinger 1885, zit. nach Krumrey 1984, 275)

Rein, korrekt, gesittet, fließend, bündig, verständlich und angenehm sind die Eigenschaften, die man beim Sprechen sich zur Gewohnheit machen soll. Rein: also dialektfrei […]. Gesittet: Ordinäre Redewendungen der Gasse sind zu vermeiden. (Adelsfeld 1899, zit. nach Krumrey 1984, 269)

Die Zugehörigkeit zur guten Gesellschaft legt auch Verpflichtungen im Gebrauch der Sprache und in der Unterhaltung auf. Sehr wichtig ist es, daß man den Personen, mit denen man spricht, frei und offen ins Auge blickt. (Bodanius 1957, zit. nach Krumrey 1984, 273)

Die schon erwähnten Tendenzen der Normierung, KodifizierungKodifizierung und InstitutionalisierungInstitutionalisierung der konversationellen Praxis setzten sich im 19. Jahrhundert verstärkt fort. Sie führen zu einer Verstärkung der technischen Momente in der Anweisungsliteratur und einer Entwicklung „von der Kunst der Konversation zur Technik der Gesprächsführung“ (NeulandNeuland 1998).

Hervorzuheben ist dagegen aber auch das einsetzende theoretische Interesse am Gespräch (vor allem durch v. HumboldtHumboldt) sowie die zunehmende Verwissenschaftlichung der Konversationstheorie, vor allem bei FreudFreud und SimmelSimmel. Letzterer hat in seiner Eröffnungsrede zum ersten deutschen Soziologentag 1910 über Soziologie der Geselligkeit als Spielform der Vergesellschaftung das Gespräch als den „breitesten Träger aller menschlichen Gemeinsamkeit“ (2001, 187) bezeichnet und dabei die Rolle des „TaktgefühlsTaktgefühl“ (180) hervorgehoben. Mit der gesprächshaften Wechselwirkung tritt der „Doppelsinn des Sich-Unterhaltens“ in seine Rechte – ohne ein Eigengewicht des Inhalts. Sobald die Diskussion sachlich wird und es um die Eruierung einer Wahrheit geht, verliert sie nach Simmel ihren „Charakter als gesellige Unterhaltung“ (188).

Den Gedanken vom „Glück der Konversation“ hat Schlieben-LangeSchlieben-Lange in einem Beitrag von 1983 im Rückgriff auf Konversationsethiken des 17. Jahrhunderts entfaltet. Dass das Miteinanderreden als eine besonders glückhafte Form menschlichen Zusammenlebens empfunden wird, führt sie auf die These vom „Gespräch als Ort der Synthesebildung“ zurück, losgelöst von der Bewältigung der Alltagsnotwendigkeiten und praktischer Finalitäten.1 Versteht man das Gespräch als „Ort der zeitweiligen Vereinigung unvereinbarer Identitäten“ (Schlieben-Lange 1983, 141f.), liegt das Glück im Gespräch in der Objektivierung und Bewusstwerdung durch die Versprachlichung einschließlich der Erfahrung von IdentitätIdentität und DifferenzDifferenz2 sowie in der Möglichkeit der intersubjektiven Verständigungintersubjektive Verständigung, zumal in Zeiten schwindender Gemeinsamkeiten von Wissensbeständen und Verhaltensnormen in der Moderne.

3.3 Antibürgerliche Höflichkeitskritik im 20. Jahrhundert

Mit dem Abbau der Standessschranken und ständischen Bildungsprivilegien im 19. Jahrhundert (vgl. v. PolenzPolenz 1999, 70) verblasst auch die soziale Verbindlichkeit von Höflichkeitsnormen zugunsten größerer individueller Handlungsfreiheit (vgl. Beetz 1990, 7). Elias deutet den Abbau von Verhaltensstandards und Erhöhung des gesellschaftlichen Drucks zur Selbstregulierung als InformalisierungsInformalisierung- und Individualisierungsschub (1989/2005, 60ff.).

Die Verschiebung im Spektrum höflicher Ausdrucksweisen lässt sich am besten am veränderten Gebrauch der Anredepronomina im Deutschen veranschaulichen: die Anredeformen Du und Sie indizieren nicht länger Standesunterschiede; vielmehr markieren sie situative Unterschiede von Vertrautheit und sozialer Nähe bzw. Distanz (vgl. BeschBesch 1998, 86).

Radikale Kritik erfuhren Höflichkeitserziehung und formales Höflichkeitsverhalten durch die antiautoritärenantiautoritär Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts. Höflichkeitsnormen galten als aufoktroyierte Autorität; ein „Ende der Höflichkeit“ wurde propagiert (Kerbs/MüllerKerbs/Müller 1970); bildungsbürgerliche Konventionen sollten in ihrer herrschaftsstabilisierenden und –verschleiernden Funktion entlarvt werden. Das Anredepronomen Sie wurde als den Vorstellungen egalitärer Beziehungen unangemessen empfunden; Titel wurden auch im akademischen Bereich weggelassen; ein allgemeines DuzenDuzen wurde – versuchsweise – auch gegenüber Gruppen außerhalb der Studentenschaft erprobt.

SoziologInnen diagnostizieren: Alle sagen Du, als sei das damit Gemeinte schon gegeben (vgl. z.B. Jaeggi 1978 mit interessanten Analysen zur Studentenszene im Bochum der 1960er Jahre). Zwar hat sich diese Praktik nicht durchgesetzt, wohl aber das vergleichsweise konsequente Weglassen von TitelnTitel im bundesdeutschen Sprachraum, und zwar bis heute.

Aus den antiautoritären politischen Protestbewegungen des Jahres 1968 folgt auch eine sprachliche Umbruchsituation. StötzelStötzel/WengelerWengeler stellten 1995 die These von 1968 als sprachgeschichtliche Zäsur zur Diskussion; einige Jahre später wurde diese in einem Sammelband von KämperKämper, ScharlothScharloth und WengelerWengeler (2012) fortgeführt und vertieft.

Der veränderte Sprachgebrauch nahm seinen Ursprung bei linken Studierendengruppen und setzte sich fort in der Außerparlamentarischen OppositionAußerparlamentarische Opposition verschiedener sozialer Gruppierungen bis hin zu parteipolitischen Programmen. Das allgemeine Du lebt bis heute in kulturellen „GesinnungsgenossenschaftenGesinnungsgenossenschaft“ fort, sei es in der Sozialdemokratie, in ökologischen Gruppierungen oder Freizeitgesellschaften, z.B. bei Mitgliedern eines Sportstudios. Allerdings zeigen aktuelle Umfragen auch die bleibende Wertschätzung des Sie, besonders in beruflichen Kontexten (vgl. z.B. appinio 2019: „Siezen gehört immer noch zum guten Ton“).

Der HöflichkeitswandelHöflichkeitswandel im deutschsprachigen Raum kann mit AnkenbrandAnkenbrand als Wandel von einer Distanz- in eine NähehöflichkeitNähehöflichkeit beschrieben werden, als allmählicher Übergang von der traditionellen, etikettehaften DistanzhöflichkeitDistanzhöflichkeit zu einer Höflichkeit der Nähe und Vertrautheit bzw. von ihrer Simulation (Ankenbrand 2013, 90). In ihrer empirischen Studie zum Wandel von GeschäftskorrespondenzGeschäftskorrespondenz kommt die Autorin zur Unterscheidung einer aktuellen Variante von Höflichkeit, für die sie die Bezeichnung „professionelle Freundlichkeit“ als angemessener als „Nähehöflichkeit“ hält. Sprachliche Umgangsformen aus dem Kommunikationsbereich von Nähe und Vertrautheit werden in den Kommunikationsbereich der Distanz transferiert, um beim Empfänger das Gefühl individueller Wertschätzung auszulösen und kommerzielle Vorteile zu erlangen – ein taktischer Gebrauch von CamaraderieCamaraderie.

Diese Entwicklung zeigt sich heute in einer zunehmenden Tendenz der InformalitätInformalität.

3.4 Ausblicke auf Prozesse kulturellen Wandels in der Gegenwart

Die im Folgenden behandelten Tendenzen der Informalisierung und der generationellen Einflüsse hängen eng zusammen, da gerade die jüngeren Generationen stets als eine Quelle kulturellen und sprachlichen Wandels in Form von Informalisierungen wirkten.

 

3.4.1 Tendenzen der Informalisierung

Indizien für eine Informalisierung finden sich heute in vielen Lebensbereichen. Insbesondere kann hier auf eine Auflösung der Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit zugunsten der Ausdehnung eines ehedem Privaten verwiesen werden, die mit einer Ent-DistanzierungEnt-Distanzierung persönlicher Beziehungen verbunden ist.

Diese lässt sich vor allem am Wandel von Gruß- und Anredeformen einschließlich der GestikGestik und KörperspracheKörpersprache veranschaulichen. Knicks und DienerDiener sind auch für Kinder schon lange unüblich geworden; Hüte, die man lüften könnte, sind aus der Mode gekommen, von der VerbeugungVerbeugung ist in der BRD allenfalls ein leichtes Kopfneigen übriggeblieben. Wie neuere Studien belegen, nimmt die im Deutschen übliche tageszeitliche Differenzierung (Guten Morgen, Guten Tag, Guten Abend etc.) zugunsten von Kurzformen (Morgen, Tag etc.), vor allem aber zugunsten von Hallo als Passe-partout-Formel ab. Auch die nonverbalen Bestandteile des Grüßens haben sich verändert: Der WangenkussWangenkuss hat stark zugenommen, das HändeschüttelnHändeschütteln dagegen eher abgenommen (vgl. NeulandNeuland 2015).

Ein offensichtlicher Prozess des Wandels von Begrüßungskonventionen lässt sich in den Zeiten des Coronoavirus gut beobachten: Wenn man davon ausgehen muss, dass eine Person, mit der man in eine Interaktion eintreten möchte, ein gewisses Interesse daran hat, Abstand zu halten und Berührungen zu vermeiden, dann kann und muss man neue Ausdrucksformen finden, um zu kommunizieren, dass man ein friedliches Gespräch beginnen möchte und die Gesprächspartner respektiert. Die Menschen werden hier sehr kreativ; diskutiert und/oder praktiziert werden etwa verschiedene Formen von aus asiatischen Kulturen inspirierten Verbeugungen, das „Ebola-GreetingEbola-Greeting“, bei dem man die Hüften seitlich zusammenstößt, der „Wuhan-ShakeWuhan-Shake“, bei dem sich die Füße berühren, der „Fist BumpFist Bump“, bei dem man die Fäuste gegeneinander stößt, und vor allem die Berührung mit den Ellenbogen. Diese scheint sich durchzusetzen und in kürzester Zeit zum von den Umgangsformen gebotenen sowie von der Etikette akzeptierten, wenn nicht sogar vorgeschriebenen Ersatz für das zuvor in formelleren Situationen obligatorische Händeschütteln zu werden.


Abb. III.5: So ändert das Coronavirus unsere Etikette: Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher beim Ellenbogen-Gruß (t-online v.1.9.2020) (c) picture alliance/dpa / Bernd von Jutrczenka)

Dies und anderes mag als Verlust konventioneller Umgangsformen gedeutet werden; die veränderten Ausdrucksweisen können aber auch Folgen einer Internationalisierung und Globalisierung und einer Angleichung an anglo-amerikanische Umgangsformen darstellen. In seinem Text „Von der Informalität zum doing buddydoing buddy“ deutet Scharloth (2012, 41ff.) die Veränderung dieses Kommunikationsstils und veranschaulicht diesen Wandel mit linguistischen Analysen von Texten der 1968er-Bewegung im öffentlichen Raum einer Fernsehdiskussion im Kontrast zu Auflagen des Benimmbuchs des Fachausschusses für Umgangsformen in den 1970er und 1980er Jahren. Dabei belegt er eine Zunahme von Informalitätsindikatoren (z.B. Kontraktionen (auf’m), Reduktionen (nix), Elisionen (ner, en), von substandardsprachlicher, z. T. jugendsprachlicher Lexik (scheiße, verflucht, volle Pulle) und von emotionalen Ausdrücken und Befindlichkeitsäußerungen (Empfindungen von Ärger, Empörung, Ekel…) bei Diskussionsteilnehmern aus dem linksalternativen Milieu im Unterschied zu Mitdiskutanten aus dem konservativen Lager (vgl. auch Scharloth 2011 und 2015).

Zugleich wandeln sich auch die Verhaltensvorschriften für BegrüßungenBegrüßung und VerabschiedungenVerabschiedung, Anrede- und AbschlussformelnAbschlussformeln sowie TitelgebrauchTitel im Hinblick auf eine Vergrößerung des Repertoires zum Ausdruck von Vertrautheit und eine Ausweitung ihrer Gebrauchsdomänen. So wird die briefliche Anredeform Sehr verehrte, gnädige Frau [Familienname] seit der Auflage von 1988 des Benimmbuchs vom Fachausschuss für Umgangsformen nicht mehr empfohlen; stattdessen Sehr verehrte, liebe Frau [Familienname], wobei sich nur der letzte Bestandteil dieser Form bis heute erhalten hat. Ähnliches gilt für die noch in der Auflage von 1970/75 empfohlene Abschiedsformulierung Hochachtungsvoll, die seit 1988 der informelleren Formulierung Mit herzlichen/freundlichen Grüßen gewichen ist. Schließlich musste das Benimmbuch nach 1996 sein Erscheinen ganz einstellen. Scharloth schlussfolgert: „Die Dynamik der Verhaltensstandards von 1964 bis 1996 kann demnach insgesamt beschrieben werden als ein Abbau formeller und distanzierter Praktiken zugunsten eines Ausbaus von Praktiken der Vertrautheit und ihres Gebrauchs in traditionell von formalen Praktiken geprägten Domänen“ (Scharloth 2012, 50). Für diesen Kommunikationsstil als neuen Verhaltensstandard prägt der Autor die Bezeichnung doing buddy mit Vertrautheit als dominantem Beziehungsmodus, verbunden mit einer Nivellierung geschlechts-, alters- und statusspezifischer Unterschiede.1

Allerdings dauerte es, so Scharloth (2015, 217), bis in die 1980er Jahre, bis der Kommunikationsstil des AlternativmilieusAlternativmilieu seinen Einfluss auf den Sprachgebrauch der Mehrheitsgesellschaft entfaltete. Dazu trug der Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 zweifellos bei, ebenso die Übernahme von Elementen des alternativen Sprachstils in Presseorganen wie der TAZ (vgl. Schwitalla/Betz 2006 zu den verstärkten AusgleichsprozessenAusgleichsprozess von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in öffentlichen Textsorten).

Ein weiterer Bereich, in dem sich die genannten Tendenzen zeigen, sind AnzeigentexteAnzeigentexte. Wie Linke (2000) sowie SteinStein (2015) nachweisen, haben sich die Textsortenstile selbst im Rahmen einer Distanzkommunikation in den letzten Jahrzehnten deutlich zugunsten informellerer und persönlicherer Formulierungen, einschließlich der Kundgabe von Emotionen, verändert. Während noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Familienvater – oft unter Angabe seines Berufsstandes – die Geburt eines Kindes anzeigte, wird dies im 20. Jahrhundert zunehmend gemeinsam von den gleichberechtigten Eltern und zuletzt durch das Neugeborene selbst bekannt gegeben:

Die am 26sten d.M. erfolgte glückliche Entbindung meiner Frau von einem gesunden Sohne, habe ich die Ehre, hierdurch meinen Freunden anzuzeigen. Stettin den 28sten Januar 1800.

Friedrich Koch, Direktor des Lyceums. (nach Linke 2009, 47)

Heute sehen Geburtsanzeigen natürlich ganz anders aus. Man findet beispielsweise Texte, in denen neugeborene Kinder sich mit Worten wie „Hallo, hier bin ich“ selbst in die Welt einführen, in denen umgangssprachliche Ausdrücke oder lustige Bilder verwendet werden und ähnliche Ausprägungen. Aus Gründen des Datenschutzes können wir das hier nicht dokumentieren, aber ein Blick in eine beliebige Tageszeitung reicht, um eine ganze Reihe von Unterschieden zu Texten wie dem hier zitierten zu realisieren.

Als letztes Beispiel sei hier auf den Internetgebrauch verwiesen, bei dem eine Verschiebung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit zu erkennen ist. Elektronische PostElektronische Post wird heute bewusst informell, konzeptionell mündlich formuliert. Die Anrede Guten Morgen! und der Abschiedsgruß Liebe Grüße ist in heutigen studentischen Mails an ihre ProfessorInnen üblich geworden, auch wenn diese Personen gerade nicht miteinander vertraut sind.

3.4.2 Generationelle Einflüsse

Jugendliche galten zu allen Zeiten als „Noch-Nicht-Erwachsene“, als noch nicht angepasste Objekte von Sozialisation und Erziehung. Erst mit der Entdeckung von Kindheit und Jugend als eigenständige Entwicklungsphasen wurde der Blick auf das abweichende, auch deviante Verhalten von Kindern und Jugendlichen gewechselt und die neuen und innovativen Entwicklungen in Verhalten und Habitus in den Blick genommen. Dieser Perspektivwechsel auf Jugendliche als „Neuerer“ und als „Akteure im kulturellen Prozess“ (vgl. ZinneckerZinnecker 1981, NeulandNeuland 2011) hat in den letzten Jahrzehnten zu einer bedeutsamen Aufwertung der Jugend und einem besonderen Sozialprestige des Phänomens JugendlichkeitJugendlichkeit geführt.

Dies betrifft auch den Sprachgebrauch von Jugendlichen, der von einem Objekt bloßer Sprachkritik zu einem Objekt öffentlichen Interesses wurde, wie der hohe Absatz von Jugend- und Szenewörterbüchern zeigte (vgl. NeulandNeuland 2018a). Der unkonventionelle, lockere Charakter jugendlicher Ausdrucksweisen fand mit dem Schwinden der GenerationsdifferenzenGenerationsdifferenz vermehrt Eingang in den Sprachgebrauch von Erwachsenen und trug damit zum ständigen Wandel von Jugendsprache bei.

Wie aktuelle Studien vom Umgang Jugendlicher mit sprachlicher Höflichkeit zeigen, bevorzugen Jugendliche informellere Formen des sprachlichen Umgangs und jugendtypische Ausdrucksformen von Höflichkeit jenseits von Konventionen und Etikette, was später noch genauer ausgeführt wird (vgl. Kapitel 8, Ausblick). Es steht zu erwarten, dass solche generationellen Einflüsse die angesprochenen Informalisierungstendenzen im öffentlichen Sprachgebrauch verstärken werden, wie es sich im Wandel von Gruß- und Abschiedsformaten schon ankündigt.

4 Ausdrucksformen sprachlicher Höflichkeit im Deutschen
4.1 Höflichkeit und Sprache

Höflichkeit wird in vielen Fällen auch oder vor allem sprachlich realisiert. Man kann wortlos einer Dame die Tür aufhalten, sich wortlos vor jemandem verbeugen oder jemandem im Bus Platz machen und ihn oder sie dabei anlächeln. Das alles ist sicherlich höflich. In sehr vielen prototypischen Beispielen für Höflichkeit gehört aber eine sprachliche Äußerung dazu; eine Begrüßung wird normalerweise verbal vollzogen, ein Dank oder eine Entschuldigung sind ohne die Verwendung einer rituellen Formel oder eines performativen Verbs zumindest umständlich und vielleicht mehrdeutig.

Hier stellt sich die Frage, wie die Höflichkeit einer bestimmten Äußerung mit den von den SprecherInnen verwendeten Wörtern, PhrasemenPhrasem, grammatischen Strukturen, Satztypen, Betonungen oder sonstigen sprachlichen Mitteln zusammenhängt. Konkreter gefragt: Muss man, wenn man GesprächspartnerInnen höflich kritisieren möchte, eine Formel wie mit Verlaub verwenden? Muss man eine Bitte in einen Fragesatz verpacken, die höfliche Anrede wählen, den Konjunktiv verwenden oder Lexeme wie bitte, wenn man höflich sein möchte? Es ist keineswegs klar, ob diese und andere sprachlichen Strukturen einen notwendigen oder sogar hinreichenden Grund dafür darstellen, dass eine Äußerung als höflich angesehen werden kann.

So gut wie alle neueren Beiträge über Höflichkeit verweisen auf die Einsicht „[…] no linguistic structure can be taken to be inherently polite“ (WattsWatts 2003, 168); sie gehen davon aus, dass Höflichkeit nicht eine Eigenschaft von Wörtern und Sätzen, sondern von Ausdrücken und Äußerungen, also Wörtern und Sätzen im Kontext, ist. Ähnlich formulieren es KádárKádár/HaughHaugh: „[…] politeness does not reside in particular behaviours or linguistic forms, but rather in evaluations of behaviours and linguistic forms“ (Kádár/Haugh 2013, 57). Die Verwendung des Konjunktivs in einer Bitte (Könntest du mir die Zeitung vorlesen?) wäre damit weder notwendig noch hinreichend, um diese Sprechhandlung als höflich zu qualifizieren. Die Höflichkeit oder der Grad an Höflichkeit hängt vielmehr entscheidend davon ab, wer wo wann zu wem so etwas in welcher Umgebung sagt und wie die Äußerung von den AdressatInnen oder auch von BeobachterInnen bewertet wird.

Das ist einleuchtend, sollte aber nicht dazu führen, dass der sprachliche Aspekt unterschätzt wird. Die Annahme, dass die Höflichkeit einer Äußerung auch davon abhängt, ob bestimmte sprachliche (grammatische, lexikalische, phraseologische usw., aber auch phonetische/prosodische) Strukturen verwendet wurden, ist gut begründet. „Zum Ausdruck der Höflichkeit gibt es viele sprachliche und außersprachliche Formen“ (WeinrichWeinrich 1993, 102). Schon Kindern wird beigebracht, dass die Verwendung von Wörtern wie bitte oder danke in vielen Situationen einen entscheidenden Unterschied ausmacht. Es gibt im Deutschen wie in allen anderen Sprachen ganz offensichtlich sprachliche Formen, die auch oder vor allem die Funktion haben, eine Äußerung so zu konturieren, dass die AdressatInnen eine Botschaft auf der Beziehungsebene rezipieren, die dann dazu führen kann, dass sie die SprecherInnen oder zumindest deren Äußerungen als höflich klassifizieren.

 

Leech bringt diese Intuition in die Form einer Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Typen von Höflichkeit. In einer älteren Arbeit (Leech 1983) spricht er von absoluter versus relativer Höflichkeit, in einem späteren Werk (LeechLeech 2014, 15ff.) von pragmalinguistischer versus soziopragmatischer Höflichkeitsoziopragmatische Höflichkeit. Mit dem ersten Teil der Begriffspaare ist gemeint, dass manche Sätze auch ohne Kenntnis des Kontexts als höflich angesehen werden können: „Pragmalinguistic politeness is assessed on the basis of the meaning of the utterance out of context […]“ (Leech 2014, 16). In diesem Sinne kann eine Äußerung mehr oder weniger höflich sein, das Gegenteil von höflich wäre nicht-höflich. Vielen Dank wirkt in der Regel höflicher als Danke, die Abwesenheit jeglicher Dankesformel in Kontexten, in denen sie erwartbar wäre, betrachtet Leech als nicht-höflich. Der zweite Terminus der Begriffspaare bezieht sich dann auf die kontextsensitiven Formen von Höflichkeit, in denen die sprachliche Form nicht als wichtigste Erklärungsgrundlage für die Evaluation der Äußerung herangezogen werden kann: „[…] social judgements of politeness depend not just on the words used and their meanings but also on the context in which they are used […]“ (Leech 2014, 17). In diesem Sinne gibt es ein situationsangemessenes Ausmaß an Höflichkeit und – als Alternative – ein höheres oder ein zu niedriges Ausmaß. Wenn SprecherInnen höflicher sind als es in der Situation erforderlich ist, werden sie als höflich empfunden, tun sie weniger, dann sind sie nicht nicht-höflich, sondern unhöflich. Die Unterscheidung mag im Einzelnen schwer nachvollziehbar und diskussionswürdig sein – angefangen bei der Frage, ob es sinnvoll ist, von Äußerungen ohne Kontext zu sprechen. Wir übergehen hier solche Diskussionen und beschränken uns auf den Hinweis, dass bei so gut wie allen Äußerungen, die aus dem einen oder anderen Grund als höflich angesehen werden, die sprachliche Form eine gewisse Rolle spielt.

In diesem Kapitel werden wir der Frage nachgehen, wie der Grad an Höflichkeit einer Äußerung mit ihrer sprachlichen Realisierung zusammenhängt. Dabei beziehen wir uns vor allem auf das Deutsche. Nach einem Blick auf die Thematisierung von Höflichkeit in ausgewählten Grammatiken werden wir einige Phänomene näher betrachten, vor allem die pronominale Anredepronominale Anrede, den KonjunktivKonjunktiv PräteritumPräteritum als Höflichkeitsform, RoutineformelnRoutineformel und schließlich Höflichkeit als Stil. Diese kleinen Fallstudien repräsentieren auch die verschiedenen Ebenen der sprachlichen Formen: die morphosyntaktische, die lexikalische, die phraseologische Struktur von Sätzen bzw. Äußerungen sowie die pragmatische Ebene von Sprechhandlungen als kommunikative Einheiten. Die Einteilung dient auch dazu herauszufinden, auf welcher Ebene der sprachlichen Organisation Höflichkeit angesiedelt werden muss und ob und in welcher Hinsicht man davon ausgehen kann, dass Höflichkeit im Deutschen und in anderen Sprachen sprachlich enkodiert ist. Dabei können wir leider nicht auf die phonetische/prosodische Struktur von Äußerungen eingehen; wir können hier nur auf die Bedeutung dieser Ebene hinweisen.

Die zentrale Frage wird dabei immer sein, inwieweit das jeweilige Phänomen notwendig und/oder hinreichend ist, um eine Äußerung höflich zu machen, welchen Beitrag die „Höflichkeitsform“ für die Erklärung von Höflichkeit geben kann, ob Höflichkeit ein Bestandteil der Bedeutung von Wörtern, Mehrwortlexemen oder morphosyntaktischen Formen ist und wie man erklären kann, dass gerade diese Formen als höflich angesehen werden können. Mit anderen Worten: Wie ist der Zusammenhang zwischen dem Grad an Höflichkeit einer Äußerung auf der einen und der Form ihrer sprachlichen Realisierung auf der anderen Seite darstellbar?