Sprachliche Höflichkeit

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Auch Bublitz erinnert also daran, dass die Vagheit des Höflichkeitsbegriffes ein Hindernis für die linguistische Diskussion darstellt. Im Folgenden werden wir trotzdem daran festhalten. Der wichtigste Grund dafür wurde bereits angesprochen: Wir halten Höflichkeit für einen Gegenstand, der zum einen im Rahmen von sprachtheoretischen Überlegungen dazu beitragen kann, das kommunikative Geschehen besser zu erklären als dies ohne ihn möglich wäre. Zum anderen macht der Begriff deutlich, dass sich die Sprachtheorie mit Gegenständen auseinandersetzt, die auch für den alltäglichen Sprachgebrauch und für die LaienreflexionLaienreflexion darüber relevant sind. Wir verstehen Bublitz’ Hinweis allerdings als Aufforderung, einen möglichst klaren und eindeutigen Begriff von Höflichkeit 2 zu entwickeln, mit dessen Hilfe erstens die kommunikative Praxis in deren eigener Begrifflichkeit analysiert werden kann und der zweitens dazu beitragen kann, dass diese Praxis im Rahmen von wissenschaftlichen Kommunikationsmodellen erklärbar wird. Dann sollte es auch möglich sein, sprachwissenschaftlich über Höflichkeit nachzudenken, ohne unhaltbare Unterscheidungen zu treffen – ohne also (z.B.) zu behaupten, das Französische sei höflicher als das Englische.

Das zweite Argument, das gegen ein solches Vorhaben spricht, findet sich in der Einleitung der Höflichkeitsmonographie von Watts:

The present book, however, should be seen as a radical rejection of politeness2 as a concept which has been lifted out of the realm of lay conceptualizations of what constitutes polite and impolite behavior and how that behavior should be evaluated. (WattsWatts 2003, 11)

Watts lehnt es also generell ab, eine Theorie der Höflichkeit zu entwerfen. Sein Augenmerk gilt dem, was auf dem Niveau von Höflichkeit 1 passiert; er will also untersuchen, wie Höflichkeit in der sozialen Interaktion eingesetzt, kommentiert und diskutiert wird und welche Funktionen diese Thematisierungen jeweils haben. Er betont dabei sehr stark den evaluativen Charakter von Höflichkeit und hält diesen für unüberwindbar. Wenn sich also die Sprachwissenschaft mit Höflichkeit beschäftigt, dann übernimmt sie einen Gegenstand, zu dessen konstitutiven Eigenschaften es zählt, dass er von InteraktionsteilnehmerInnen verwendet wird, um (subjektiv) zu bewerten, was andere InteraktionspartnerInnen machen. Dabei bleibt auch der normative Charakter zwangsläufig immer erhalten. Wissenschaft sollte aber nicht subjektiv und normativ sein. Folglich ist es für Watts ausgeschlossen, dass es eine sinnvolle wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Höflichkeit geben kann.

Letztlich spricht aus den Bemerkungen Watts’ eine tiefe Skepsis gegenüber jeder Form von Sprachtheorie. Er sieht hier das Problem, das eine Theorie ein Modell entwickelt, im Falle der Sprache aber dazu genau den Gegenstand heranziehen muss, den sie behandelt. Eine Sprachtheorie spricht darüber, wie wir Sprache verwenden – und verwendet dafür natürlich Sprache. Sie kann also nicht wirklich von ihrem Gegenstand abstrahieren und übernimmt seine (in der Wissenschaft störenden) Eigenschaften: „Its very essence is prescriptive and normative“ (Watts 2003, 48).

Darüber könnte man lange diskutieren. Wir beharren in diesem Buch darauf, dass eine MetaspracheMetasprache möglich ist, die sich der gleichen Wörter bedient wie die ObjektspracheObjektsprache, diese Wörter aber auf klarere und theoriekonforme Begriffe verweisen. So wie man über Freiheit, Traum, Netzwerk, Gesellschaft, Demokratie und vieles andere mehr sowohl alltäglich als auch wissenschaftlich anspruchsvoll diskutieren kann, so sollte das auch für Höflichkeit möglich sein.

Wir werden also den Versuch unternehmen, empirisch zu beschreiben und theoretisch zu erklären, was SprecherInnen tun und denken, wenn sie höflich sind, welche kommunikative Funktion dies hat und welche interaktiven Effekte es bewirkt.

Die Unterscheidung zwischen Höflichkeit 1 und Höflichkeit 2 wird in der Höflichkeitstheorie nach der sog. diskursiven Wende eine gewisse theoretische Brisanz erhalten. Wir werden deswegen in Kapitel 6.5.1 darauf zurückkommen.

3 Höflichkeit in der Kulturgeschichte

Der folgende Rückblick kann nur äußerst kursorisch auf die reiche Tradition der Geschichte der Höflichkeit im Deutschen eingehen. Wesentlich erscheint vor allem:

 dass die Auseinandersetzung mit Höflichkeit inhaltlich ausgedehnt war auf den Bereich des menschlichen Umgangs überhaupt (conversatio) und speziell des GesprächsGespräch,

 dass diese Thematisierungen oft präskriptiv waren,

 dass sie noch vor Beginn der modernen, fachlich gebundenen Wissenschaften erfolgten und

 dass sie nationale Grenzen überschritten und auf die europäischen Höfe konzentriert waren. Von dort erklärt sich auch das deutsche Wort höflich (mhd. hovelichhovelich).

3.1 Rückblicke auf Höflichkeit in der europäischen Kulturgeschichte
3.1.1 Höflichkeit und gesellschaftlicher Wandel in der Vormoderne

Vom ausgehenden Mittelalter und der Vormoderne1 bis zur heutigen Zeit folgen die kulturellen Vorstellungen von Höflichkeit den sozialen Gesellschaftsformationen und ihrem Wandel (vgl. dazu auch Elias 1939/1976). Schon im Mittelalter diente ein komplexes System von Verhaltensnormen oder -richtlinien einerseits der SelbstdarstellungSelbstdarstellung und andererseits der AbgrenzungAbgrenzung gegenüber der Außenwelt sowie der öffentlichen InszenierungInszenierung sozialer Zughörigkeit (vgl. Watts 2003). Dies steigerte sich in der Barockzeit durch die Ausbildung von EtikettenEtikette und Zeremoniellen als gesellschaftliche StandesritualeStandesrituale. Neben der Betonung des gefälligen Wohlverhaltens spielt auch der taktische Aspekt der „KlugheitKlugheit“ im Sinne des EigennutzensEigennutzen für den Aufstieg in der höfischen Gesellschaft eine Rolle. Erst im 17. Jahrhundert, der eigentlichen Epoche der gepflegten KonversationKonversation,2 erfährt dieses Konzept eine Bedeutungsverengung: War Konversation früher auf den gesellschaftlichen Umgang allgemein bezogen – bei Hofe, später in den Salons –, so wird sie nun auf den geselligen Umganggeselliger Umgang im vertrauten, zwanglosen Gespräch eingegrenzt. Als besonderes Ideal galt dieser höfischen Epoche die ZwanglosigkeitZwanglosigkeit, die sich gleichwohl gerade erst im Rahmen strenger Sprachreglementierungen konstituieren sollte. Diese Reglementierungen bezogen sich auf Form, Inhalt sowie Modalität des sprachlichen Umgangsprachlicher Umgangs. So führte bereits GraciánGracián aus:

Die Kunst der Unterhaltung besitzen […], ist es, in der ein ganzer Mann sich produziert. Keine Beschäftigung im Leben erfordert größere Aufmerksamkeit: Denn gerade weil sie die Gewöhnlichste ist, wird man durch sie sich heben oder stürzen. (zit. nach SchmöldersSchmölders 1986, 157)

Wesentliche Entwicklungen in der europäischen Reflexion über Umgangsformen und Höflichkeit wurden in der Renaissance durch drei Texte angestoßen:

 Baldassare CastiglioneCastiglione: Il Libro del Cortegiano (1528/1987) in Italien, Deutsch: Der Hofmann (1528/1999) oder auch Das Buch vom Hofmann (1528/1986), (vgl. dazu auch Lindorfer 2009),

 Baltasar Gracián: Orácolo manual y arte de prudencia, (1647) in Spanien, Deutsch: Handorakel und Kunst der Weltklugheit (2020),

 Madame de Scudéryde Scudéry: Konversation über die Konversation (1686/1986), das erstmals 1680 in Frankreich publiziert wurde.

Diese Bücher haben dann eine Wirkung entfaltet, die weit über ihren kulturellen Ursprungskontext hinausreichte.

3.1.2 Höfische Höflichkeit

Im Barock wird der Hof zur Bühne für das Theater der Höflichkeit (und der Höfling zum Schauspieler im gesellschaftlich inszenierten Drama). Aufwendige adlige Höflichkeitsrituale zeigen sich zumal im ausgeprägten, der BeziehungsarbeitBeziehungspflege dienenden KomplimentierwesenKomplimentierwesen (vgl. BeetzBeetz 1990), aber auch in einer hochdifferenzierten KörperkulturKörperkultur (vgl. LinkeLinke 1996b). Die höfisch-politische Verhaltensstilisierung gipfelte in der ars conversationis als Teil kunstvoller Beziehungsgestaltung (vgl. GöttertGöttert 1988).

Beetz stellt die damaligen DecorumsvorschriftenDecorumsvorschrift für mündliche wie für schriftliche Texte des galanten HöflichkeitsdiskursesHöflichkeitsdiskurs in seiner Studie anhand zeitgenössischer Dokumente anschaulich dar (1990). Sie reichen von Vorgaben zur Schriftgröße und Absatzgestaltung bis zu

 Sozialsemantik (u.a. elaborierte EhrerbietungEhrerbietung und Selbstbescheidenheit),

 CourtoisiewörternCourtoisiewort in rangentsprechend abgestufter Verwendung (z.B. von gnädig bis allergnädigst, von essen bis Tafel halten),

 Sozialsyntax (ich-Tilgung, Distanzgraduierung, Indirektheit, Konjunktiv und Konditionalis),

 rangentsprechender StilwahlStilwahl mit Aufwertung der AdressatInnen und SelbstdegradierungSelbstdegradierung sowie Bagatellisierung eigener Leistungen, ReferentenverschiebungReferentenverschiebung bei als kritisch empfundenen Äußerungen.

Einige dieser Merkmale weisen die folgenden Beispiele für KomplimenteKompliment auf:

Als Dank an eine Dame nach dem Tanz:


(1) Mademoiselle, Ich bin zum höchsten verbunden vor der Ehre, so sie mir dadurch erwiesen, daß sie mit meiner Wenigkeit tantzen wollen, doch bitte gehorsamst mit einem schlechten Tantz═Compagnon gütigst vor lieb zu nehmen, und die vorgegangenen Fehler zu übersehen (Beetz 1990, 215).

Ein „Bitt-Compliment an ein Frauen=Zimmer/sie nach Hause zu begleiten“:

 

(2) So ich wüßte/daß Mademoisellen nicht beschwerlich wäre/wann ich mich zu dero Begleiter angäbe/würden sie mich höchlich obligieren, wann ich die Ehre haben könnte/sie nach Hause zu führen (Beetz 1990, 228).

3.1.3 Salonkonversationelle Höflichkeit

Die höfische Etikette der Konversation und ihre zeremonielle Erstarrung im 17. Jahrhundert wurde abgelöst durch die salonkonversationelle Höflichkeitsalonkonversationelle Höflichkeit der Gemeinschaft der Gebildeten. Das Ideal der „galanten“ Konversation mit Geist und Anmut wurde dabei vom paradox anmutenden „Zwang zur Zwanglosigkeit“ dominiert. In ihrer Abhandlung Konversation über die Konversation führt Madame de Scudéry aus:

Die Konversation ist das gesellschaftliche Band aller Menschen, das größte Vergnügen der Leute von Anstand und das geläufigste Mittel, nicht nur die Höflichkeit in die Welt einzuführen, sondern auch die reinste Moral, die Liebe zum Ruhm und zur Tugend. (de Scudéry zit. nach Schmölders 1986, 166)

Mit der Aufforderung, zwanglos zu erscheinen, wird zugleich die Beachtung einer Fülle von Regeln mit höchsten stilistischen und intellektuellen Anforderungen verbunden, die die vermeintliche Spontaneität der Konversation geradezu unmöglich macht. Als Hauptregel gilt: „Sage niemals etwas, das gegen den TaktTakt verstößt“:

Um also vernünftig zu reden, kann man ganz offen sagen, daß sich in der Konversation alles sagen läßt, gesetzt, man hat Geist und Takt und bedenkt gut, wo man ist, mit wem man redet und wer man selber ist. Und obwohl der Takt absolut unentbehrlich ist, um niemals etwas Deplaziertes zu sagen, muss die Konversation dennoch so frei aussehen, als ob sie auch nicht den geringsten Gedanken zurückweise, als ob man alles sage, was einem die Phantasie eingibt […]. (de Scudéry zit. nach Schmölders 1986, 175)

Schmölders schreibt der galanten Konversation ein affektives, erotisch-kokettierendes Moment zu, das konversationelle Thema wird relativiert und der wahre Gesellschafter gegen den Typus des gelehrten Pedanten gesetzt (1979, 31f.). Die folgende Entwicklung der bürgerlichen Konversation wird wieder andere Akzente im Hinblick auf Anstand und Moral setzen.

3.2 Entwicklung und Bedeutung der bürgerlichen Höflichkeitbürgerliche Höflichkeit in Deutschland
3.2.1 Bürgerliche Natürlichkeit

Wesentliches Moment in der Entwicklungsgeschichte des 19. Jahrhunderts bildet der Aufstieg des BürgertumsBürgertum. Die personenorientierte Geselligkeit tritt zugunsten einer sachlichen Objektivierung des Zusammenlebens in den Hintergrund; ein komplexeres Sozialgefüge ist an die Stelle der adligen StändegesellschaftStändegesellschaft getreten und hat mit der Notwendigkeit sozialer Neuorientierung auch den Bedarf an RatgeberliteraturRatgeberliteratur gesteigert.

Mit der Emanzipation des Bürgertums und dem grundlegenden Strukturwandel der Öffentlichkeit und dem Wandel sozialer Werte (vgl. Habermas 1962/1971) ist auch eine andere Form von Höflichkeit verbunden, die den Kontrast von AdelAdel und Bürgertum zum Ausdruck bringt. Die bürgerliche Natürlichkeit wird der höfisch-zeremoniellen Etikette entgegengesetzt, die als künstlich und übertrieben empfunden wird; mit der „AfectationAfectation“ kontrastiert eine „Höflichkeit des Herzens“, die zugleich eine egalitäre Höflichkeit und innere Sittlichkeit unter Seinesgleichen ist.


Abb. III.1: Daniel Nikolaus Chodowiecki (1779): Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens

In den höfischen und salonkonversationellen Geselligkeitsvorstellungen des 17. Jahrhunderts dominierte das Idealbild der geistreichen und galantengalant Konversation als Heilmittel gegen den ennui. Demgegenüber legten die Anstands- und Konversationslehren der bürgerlichen Öffentlichkeit im Deutschland des 18. Jahrhunderts besonderes Gewicht auf schlichtere Formen natürlicher, „wahrerer“ Höflichkeit der gesitteten Lebensart und des guten Tonsguter Ton in allen Lebenslagen.

In diese Zeit fällt, wie BeschBesch schildert, auch der Wandel der HöflichkeitspronominaHöflichkeitspronomen im Deutschen, und zwar von einer „Sozialrang-AnredeSozialrang-Anrede“ zu einer „Anrede, die Beziehungsverhältnisse markiert“ (Besch 2000, 2615). Als Anredepronomina fungieren nun Du und Sie und zum Teil auch Ihr, während es noch längere Zeit dauerte, bis die ursprünglich herrschaftlichen nominalen Anreden Herr, Frau, Fräulein gesamtgesellschaftlich üblich wurden.

Die moralisch-aufklärerischen Lebenslehren des 18. Jahrhunderts fanden ihren publizistischen Niederschlag in „moralischen Wochenschriften“ sowie in einer großen Anzahl von KonversationslehrenKonversationslehre, nach Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer Gesprechspiele (1968-69/1644) u.a., Christian Thomasius’ Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit und Von der Klugheit, sich in alltäglicher Conversation wohl aufzuführen (1971/1710).


Abb. III.2: Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprechspiele (1644)

Daneben trugen die Erfindung der KonversationslexikaKonversationslexikon (BrockhausBrockhaus 1796 – 1808) sowie die ansteigende Zahl von Unterhaltungsspielen zur Normierung, Kodifizierung und Institutionalisierung der konversationellen Praxis bei (Schmölders 1986, 59ff.).

AnstandsbücherAnstandsbuch und Konversationslehren des 19. Jahrhunderts erfüllen einerseits neben ihrer vordergründigen Funktion der praktisch-handwerklichen Nutzbarkeit die weitergehenden Funktionen einer Selbstvergewisserungslektüre über Geselligkeitsformen. Andererseits fungieren sie als Aufstiegshilfe (so Linke 1996b, 88), und zwar durch die Einübung in öffentliche und private Formen bürgerlicher Geselligkeit, deren symbolische Ordnung sie durch die Modellierung der konversationellen Umgangsformen gleichsam mitkonstituieren halfen. Bürgerliche Höflichkeit wird so zum symbolischen Medium der SelbstverständigungSelbstverständigung und der IdentitätsstiftungIdentitätsstiftung.

Diverse Beispiele dafür werden in Linke (1996a) angeführt, darunter etwa Martin Schmeizel: Die Klugheit zu leben und zu conversiren, zu Hause, auf Universitäten und auf Reisen (1737). „Cautelen, die man fleißig zu practicieren“ habe, werden über den Ablauf und die Topik von Gesprächen aufgelistet (z.B.: das liebe Wetter, neue Sachen, Staats- und geistliche Sachen, Nachfragen nach des anderen Zustand und schließlich bei hoffärtigen Frauenzimmern: ihr Kleid loben und davon reden).

Die Internalisierung von Höflichkeit ist Aufgabe einer gesellschaftlichen Bildung. Der HöflichkeitserziehungHöflichkeitserziehung kommt daher nach bürgerlichen Vorstellungen ein besonderer Stellenwert zu.

3.2.2 KniggeKnigge

Eingeleitet durch die beiden in diesem Sektor wichtigsten deutschen Texte Über den Umgang mit Menschen (1788) von Adolf Freiherr Knigge sowie Das ideale Gespräch (1797) von Christian Garve ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland ein bedeutender Anstieg der Anstandsliteratur zu verzeichnen. Hier liegen also die Ursprünge einer bestimmten Form der Thematisierung von Höflichkeit, die bis heute wirkmächtig ist, wie wir in Kapitel. 2.2 gesehen haben.

Das Werk von Knigge unterscheidet sich allerdings grundlegend von früheren sowie späteren Anstandslehren; es stellt eine Zäsur in der Geschichte der deutschen Höflichkeit dar, gerade weil es keine BenimmfibelBenimmfibel sein will. Auch findet sich keine vergleichbare Entwicklung im zeitgenössischen Europa, zumal nicht in Frankreich, das damit auch seine Vorbildfunktion für höfliches Verhalten einbüßte.

Die Entstehung des Werkes ist eng verbunden mit der sozialen Differenzierung der bürgerlichen Gesellschaft, die anstelle der Modellfigur des HofmannesHofmann verschiedene gesellschaftliche Stände unterschied und den Kaufmann zur neuen Modellfigur erhob. Es ist das Verdienst Knigges, diese Pluralität von sozialen Positionen und Interaktionsanforderungen mit einer Differenzierung von HöflichkeitsstilenHöflichkeitsstil in Verbindung zu bringen. Sein Anliegen zielt aber nicht auf Unterscheidung im Sinne von Ausgrenzung, sondern gerade umgekehrt auf soziale IntegrationIntegration. Diese soziale Differenzierung zeigt sich deutlich in der Gliederung des Werkes:


Abb. III.3: Über den Umgang mit Menschen. Inhaltsverzeichnis der 18. Originalausgabe, Hannover und Leipzig (1908, XIII/XIV)

Die „Lebenslehre“ Knigges als Angehöriger des Adelsstandes verdankt sich sowohl der Reflexion höfischer als auch bürgerlicher Gesellschaftserfahrungen. Sein Werk stellt ein bürgerliches Gesellschaftsprojekt dar, „das die Erziehung der Person zu größerer sozialer Integrations- und kommunikativer Interaktionsfähigkeit ins Zentrum stellt“ (PittrofPittrof 1991, 165). „Wichtig ist“, so MontandonMontandon in seiner Einleitung (1991b, 15), „dass der neue Umgang eine allgemeine Kommunikation ermöglicht, die sich weit mehr auf universelle Werte der Integrierung gründet als auf Prinzipien des Ausschlusses.“

Als ein besonderes Gesellschaftsritual galt im gehobenen Bürgertum exemplarisch die VisiteVisite, der „AnstandsbesuchAnstandsbesuch“, für den ein ganzer Verhaltenskodex im Hinblick auf Anlässe, Zeitdauer, Sitzordnung, Gesprächsablauf, Redeverteilung, Themenwahl, Begrüßungs- und Verabschiedungsfloskeln verabredet wurde. Die Pädagogin und Frauenrechtlerin Marie Calm schreibt dazu in ihrem 1886 erschienenen Werk Die Sitten der guten Gesellschaft: „Der Anstandsbesuch oder die ‚Visite‘, wie man früher sagte, um diesen kurzen Besuch von anderen längeren zu unterscheiden, hat den Zweck, die Beziehungen zwischen Personen, die gesellig miteinander verkehren, aufrecht zu erhalten und bei besonderen Gelegenheiten sich gegenseitig seine Teilnahme auszusprechen.“

Anlässe (z.B. freudige, traurige, Zuzug in fremde Umgebung), Zeitpunkte (zwischen 12.30 und 13 Uhr) und Dauer (20 bis 30 Minuten) und Besuchstoilette (kurzes Kleid mit passendem Umhang, Hut und Handschuhe, bei Herren dunkler Oberrock und dunkle – nicht schwarze – Handschuhe, Überzieher, Stock und Schirm sind nicht salonfähig …usw.) sind genau vorgeschrieben. Um den zeitgenössischen Höflichkeitsnormen zu entsprechen, musste man sich daran halten.


Abb. III.4: Die Sitten der guten Gesellschaft. Aus: Calm 1886 (Wikipedia zeno/org) [12.08.2020]