Die Fallen des Multikulturalismus

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2.Religion als gesellschaftliches und kulturelles Phänomen

»… dass wir vielleicht einmal die Mitschöpfer unseres Geschickes werden können, wenn wir es erst aufgegeben haben, als seine Propheten zu posieren.«

Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

Gegen den Essenzialismus

Nach jedem Attentat islamischer Prägung wird eine Komödie mit vorgefertigtem Drehbuch aufgeführt, in der ungehobelte Rassisten den Islam beschuldigen, eine intrinsisch gewalttätige Religion zu sein, während die Verteidiger vom Dienst, Muslime und Nichtmuslime, ermattet hervorheben, dass »die Gewalt nichts mit dem Islam zu tun hat«. Wir erlauben uns, einen großen Bogen um diese ausgelutschte Debatte zu machen: Was der Islam wirklich besagt, worin die Essenz des Islams besteht, das sind Fragen, die vielleicht für Theologen ein gewisses Interesse bergen, für Religionshistoriker und mit einiger Sicherheit für die Gläubigen als Individuen, aber aus laizistischer Sicht sind sie vollkommen irrelevant.

Das ist ein wenig so, als würde man angesichts des bestürzenden Phänomens der Pädophilie im katholischen Klerus1 auf der einen Seite »katholische Bastarde«2 brüllen, während man auf der anderen Seite einwendet, dass die Lehren Jesu mit Gewalt an Kindern nichts zu schaffen hätten. Die eine wie die andere Position führt zu ein und demselben Resultat, zu untätiger Erstarrung.

Aus laizistischer Sicht ist es interessant zu betrachten, ob und, wenn ja, wie die katholische Führung auf das Phänomen reagiert, welche Maßnahmen sie ergreift, inwiefern und wieweit sie mit der weltlichen Justiz zusammenarbeitet. Außerdem wäre es besonders interessant zu untersuchen, wie Priester in den Seminaren ausgebildet werden, ob irgendetwas den Ausgangspunkt für die spätere Manifestation des Phänomens darstellen könnte.3 Aus einer laizistischen Haltung heraus ist es von entscheidendem Interesse zu erfahren, was sich innerhalb der Kirche abspielt, allerdings nicht, um zu klären, ob man sich ausreichend an die »Glaubensgrundpfeiler« hält, an die »wahre Bedeutung«, gleichsam an die Quintessenz der Lehren Christi, sondern ganz prosaisch, um sicherzustellen, dass alles mit den Grundprinzipien des bürgerlichen Zusammenlebens vereinbar ist.

Alle Religionen haben im Laufe der Geschichte zur Genüge unter Beweis gestellt, dass sie durchaus in der Lage sind, sich der Liebe, dem Frieden und der Nächstenliebe zu verschreiben, genauso allerdings dem Hass, der Gewalt und dem Rassismus.4 Aus diesem Grund kann der goldene Mittelweg nicht darin liegen, eine möglichst demokratische, freiheitliche, solidarische, offene und pazifistische Auslegung der »heiligen Schriften« zu erreichen. Versuche dieser Art greifen aus einem einfachen Grund zu kurz. Es handelt sich eben bloß um Interpretationen, die also genauso erlaubt sind wie die fundamentalistischen. Im Gegenteil kann es sogar sein, dass die fundamentalistischen, da sie sich in der Regel stärker an das Wort der heiligen Texte halten, am Ende auf den ersten Blick plausibler erscheinen.

Wie Sam Harris bemerkt, sind »die Moderaten aller Glaubensrichtungen darum bemüht, die gefährlichsten und absurdesten Anteile ihrer heiligen Schriften umzudeuten oder komplett zu ignorieren – und gerade diese Bemühungen machen sie zu Moderaten. Allerdings erfordert diese Bemühung auch ein gewisses Maß an intellektueller Unaufrichtigkeit, da die Moderaten nicht in der Lage sind, zuzugeben, dass ihr ›Moderatsein‹ seinen Ursprung außerhalb des Glaubens hat. Die Türen, die aus dem Kerker skripturaler Buchstäblichkeit hinausführen, lassen sich schlichtweg nicht von innen öffnen. […] Fundamentalistische Auslegungen sind quasi per Definition umfassender und kohärenter – und daher auch aufrichtiger.«5 Dasselbe kann man natürlich über jeden heiligen Text sagen, angefangen bei der Bibel. Zum Begriff des »Moderaten« merkt der ehemalige Islamist und heutige Aktivist gegen die fundamentalistische Radikalisierung Maajid Nawaz im Dialog mit Harris an: »Seit dem Islamischen Staat erscheint selbst al-Qaida als ›moderate‹ Strömung. Der Terminus ist dermaßen relativ – gegen zunehmend schlimme Gewalttaten aufgerechnet –, dass er inzwischen bedeutungslos geworden ist. Er sagt nichts aus über die Wertvorstellungen einer Person.«6

Die verschiedenen Versuche einer freiheitlichen, modernen und offenen Auslegung der heiligen Schriften einer beliebigen Religion sind darüber hinaus schon aus Prinzip diskutabel. Einerseits ist es natürlich wichtig, dass Theologen und Gläubige sich bemühen, ihren Glauben mit den Prinzipien des demokratischen Zusammenlebens in Einklang zu bringen, weil dadurch vielfältige Auslegungen der Schriften entstehen und alternative Lesarten verbreitet werden, was wiederum den Pluralismus befördert. Andererseits jedoch ist dieses Bemühen gleichbedeutend mit dem Versuch, die Menschenrechte auf einer externen Autorität zu begründen. Müssen wir denn wissen, ob die Menschenrechte mit der Bibel oder dem Koran vereinbar sind, um sie verteidigen zu können? Und was ist, wenn sich herausstellen sollte, dass sie es nicht sind? Die Grundlage für die Rechte in einer Religion suchen hieße zu der Vorstellung zurückzukehren, dass es sich dabei um Zugeständnisse handelte, egal ob seitens eines Herrschers, irgendeines Gottes oder seiner Propheten. Vielmehr ist es unerlässlich festzuhalten, dass diese Rechte selbstbegründet sind und verteidigt werden müssen, nicht weil diese oder jene Glaubensrichtung uns das vorschreibt, sondern aus sich selbst heraus. Sollten die Gläubigen darüber hinaus in ihrer jeweiligen Religion zusätzliche Gründe finden, um die Menschenrechte zu achten, umso besser. Wenn jedoch – und das ist der Knackpunkt – eine bestimmte Auslegung eines bestimmten Glaubens mit den Grundrechten aller Menschen in Widerspruch steht, muss diese Auslegung infrage gestellt werden, keinesfalls die Menschenrechte.

Alle Versuche, den »wahren« theologischen Gehalt einer Glaubensrichtung auszumachen, sind einer essenzialistischen Sichtweise eingeschrieben, sowohl im Allgemeinen auf gesellschaftliche Phänomene bezogen als auch im engeren Sinne auf religiöse. Dieser Betrachtungsweise zufolge gibt es nämlich eine reine Essenz der Botschaft einer bestimmten Religion, eine »wahre Botschaft«, die im Laufe der Geschichte verloren gegangen sei und wiederentdeckt werden müsse.

Wie Karl Popper vorgeführt hat,7 hängt der Essenzialismus aufs Engste mit einer finalistischen und deterministischen Sichtweise der Geschichte zusammen, die genau betrachtet nichts anderes tut, als uns von der Last und der Verantwortung zu befreien, das eigene Schicksal zu schreiben.

An dieser Stelle geht es stattdessen, in strikter Abgrenzung zu jedweder essenzialistischen Betrachtungsweise, um die Religionen, wie sie sich hier und heute darstellen, wie sie aktuell in der Welt wirken. Außerdem sind es immer die Personen aus Fleisch und Blut, die handeln. Sie tragen die Verantwortung für ihre Entscheidungen und Taten. Man sollte »nicht das Wesen der Lehre unter die Lupe nehmen, sondern das Verhalten derer, die sich im Laufe der Geschichte auf sie berufen haben«.8

Religionen im Diesseits

Das Interesse hier richtet sich also nicht auf den religiösen Aspekt der diversen Konfessionen, sondern auf deren öffentliche Rolle, ihre gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen, ihre Verwendung durch jene, die sich als ihre Anhänger bekennen oder die sich zu ihren Sprachrohren auf Erden machen. Nicht auf die Heilslehre, sondern auf das Verhalten, nicht auf den Glaubensgehalt, sondern auf die Praxis.

Ohne Zweifel besteht eine gewisse Verbindung zwischen Heilslehre und Verhalten, zwischen Glaubensgehalt und Lebenspraxis, allerdings ist diese Verbindung keinesfalls automatisch gegeben und selbstverständlich. Ihre Herausbildung kann mitunter auf ziemlich verschlungenen Wegen stattfinden und zu unverhofften praktischen Auswirkungen führen.

Um ein Beispiel von Roy9 aufzugreifen, hat das Gebot »Du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren«10 mitnichten dazu geführt, dass der Ehebruch aus der Geschichte der christlichen Gesellschaften verschwunden ist, womit man eigentlich hätte rechnen dürfen, wenn die Beziehung zwischen Dogma und Leben einfach und unmittelbar wäre. Damit ist nicht gesagt, dass das Gebot keine Auswirkungen hat – man denke allen voran an Scheinheiligkeit und Doppelmoral –, vielmehr handelt es sich um Ergebnisse, die nicht automatisch und ausschließlich von dem normativen Gehalt des Gebots hergeleitet werden können.

Anders gesagt, heilige Schriften und der Fundus an Dogmen der einzelnen Religionen sind nicht bloß ein Verhaltenskatalog, aus dem man sich bedienen kann, sondern sie interagieren mit der Welt und der Gesellschaft, in der sie gerade zur Anwendung kommen. Man denke nur daran, wie sich die christliche Religion in zahlreichen afrikanischen Gesellschaften ausgebreitet hat und sich zu diesem Zweck jeweils zu einem gewissen Grad an bereits bestehende Glaubensrichtungen anpasste. Vergleichbares gilt auch für den Islam, der bei seiner Ausbreitung je nach Umgebung die unterschiedlichsten Formen angenommen hat.11

 

Die Religionssoziologie hat sich lange mit dem dialektischen Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft befasst. In unserem Zusammenhang muss das nicht weiter vertieft werden; es genügt, den methodologischen Aspekt aufzugreifen, zu dem diese Betrachtungen hinführen. Es gibt weder den homo islamicus, noch gibt es den homo christianus. Was es gibt, sind Menschen aus Fleisch und Blut in ihrem jeweiligen Kontext mit ihren jeweiligen Entscheidungen, für die sie, vollkommen laizistisch, die Verantwortung übernehmen (müssen).

In der Perspektive, die hier skizziert wird, ist der rein soziologische Ansatz unzureichend, weil zwischen Dogmatismus und Praxis der freie Wille liegt. Genauso wird jedoch der Essenzialismus abgelehnt, dem zufolge es eine »wahre« Religion geben müsse, und auch jede Form des Determinismus, der postuliert, das Verhalten der Menschen werde von den Umständen wesentlich bestimmt, in denen sie geboren sind und leben. »Das schreibt mir meine Religion / meine Kultur / meine Tradition vor« sind keine Argumente im öffentlichen Diskurs einer demokratischen Gesellschaft, in der von allen, ohne Ausnahme, verlangt wird, sich an die »Spielregeln« zu halten: »Jedem steht es frei, von der Revolution zu träumen, von der Abschaffung des Kapitalismus, von dem Herabstieg des Mahi und von Christus auf Erden. Ob wir uns nun als Eigentümer oder bloße Mieter empfinden, was zählt, ist, dass wir uns an den Vertrag halten.«12 In diesem Sinne muss der Dialog mit den Religionen auf der Ebene der demokratischen Spielregeln ablaufen, nicht auf der des Dogmas.

Der springende Punkt dabei ist: Wer legt diese Regeln fest? Und vor allem, was unternimmt man, wenn sie mit dem Dogma oder auch bloß bestimmten Auslegungen des Dogmas in Konflikt stehen? Die Spielregeln werden denn auch tatsächlich nicht ein für alle Mal aufgestellt, sind nicht in Stein gemeißelt, sind weder »natürlich« noch ein bloßer formaler Rahmen ohne Inhalt. Es handelt sich bei ihnen um Werte und Prinzipien, die man annehmen oder ablehnen kann, die mehr oder weniger kompatibel mit der eigenen Weltsicht und dem eigenen Glauben sein können. Der Staat – und das wird in diesem Buch vertreten – muss, sofern er demokratisch und freiheitlich bleiben will, diese Prinzipien einfordern und verteidigen, denn auf der Grundlage dieser Prinzipien werden die Grenzen zwischen dem, was akzeptabel ist, und dem, was das nicht ist, gezogen.

Einigen wir uns beispielsweise darauf, dass eine der unabdingbaren Spielregeln, die wir uns gegeben haben, in der uneingeschränkten Parität der Geschlechter und dem totalen Verbot der Geschlechtertrennung besteht, können wir dann Schwimmbäder, Biologiestunden oder sogar ganze Schulen hinnehmen, in denen genau das mit Füßen getreten wird? Die Rede ist hierbei nicht von bloßen Vorstellungen und Zuständen, die nur die muslimische Welt beträfen. Die erzkatholischen Schulen Gavia (für Mädchen) und Braida (für Jungen) im italienischen Verona etwa sind sogenannte »scuole private paritarie«13, also vom italienischen Staat anerkannte Privatschulen, die eingeschlechtlich und eng mit Opus Dei verbunden sind.

Gehen wir einmal davon aus, dass eine weitere Spielregel die Religionsfreiheit ist – was selbstverständlich auch die Freiheit impliziert, keiner Religion anzugehören oder zu einer anderen Konfession überzutreten –, dürfen wir dann hinnehmen, dass Ausgetretene in manchen Gemeinschaften geächtet werden14 und in manchen Ländern zu Haft, Körperstrafen oder sogar zum Tode verurteilt werden?

Die von Roy vorgelegte Antwort darauf ist entschieden unzulänglich. In Bezug auf die Frage etwa, wie man sich gegenüber der Union islamischer Organisationen Frankreichs (UOIF) verhalten solle, einer Organisation, die Roy selbst als fundamentalistisch beschreibt, vertritt der französische Politologe die Meinung, man müsse dieselbe Haltung einnehmen wie gegenüber katholischen Konservativen. Von diesen werde etwa im Hinblick auf den Schwangerschaftsabbruch nicht verlangt, »dass sie von der Kanzel predigen, die Abtreibung sei kein Verbrechen, sondern man bittet sie, die Hardliner nicht aufzuhetzen, dass sie die Abtreibungskliniken angreifen, kurz, sich an das Gesetz und die öffentliche Ordnung zu halten und nicht die eigenen Glaubenssätze zum Gesetz zu machen«.15 Wenn die Lage so einfach wäre, gäbe es wenig zu diskutieren. Diese Haltung – und das ist entscheidend – ist unzulänglich.

Wo genau verläuft die Grenze? Es ist sicher beruhigend zu sagen, eine Anstachelung zu Angriffen auf Kliniken sei inakzeptabel. Aber ist es beispielsweise legitim, zum Boykott der Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch aufzurufen und die Verweigerung aus Gewissensgründen seitens des medizinischen Personals zu diesem Zweck zu instrumentalisieren, wie es die katholische Kirche in Italien systematisch tut?16 Wenn es, kurz gesagt, offensichtlich keinen Sinn hat, die Gläubigen zu bitten, Rechenschaft über ihr Dogma abzulegen, muss man das größtmögliche Recht haben, sämtliche Religionen, ihre jeweiligen Gepflogenheiten und die von ihnen verbreitete Weltsicht streng und offen zu kritisieren. Hat der Priester das Recht, von der Kanzel herab die Abtreibung zu verurteilen, habe ich das Recht, öffentlich zu sagen, dass es sich dabei um eine frauenfeindliche und illiberale Haltung handelt, und diese auf der Ebene des kulturellen Diskurses und der politischen Auseinandersetzung zu bekämpfen. Davon abgesehen, sind wir denn überzeugt davon, dass der Priester (oder der Papst, ein Imam oder sonst eine Autorität irgendeiner religiösen Vereinigung) das Recht hat, Frauen, die abtreiben, mit Schuld zu beladen und sie Mörderinnen zu nennen?17 Dass er das Recht hat, und sei es »nur« im Innern eines Gotteshauses, Homosexualität als Krankheit zu bezeichnen?

Das ist ein altes Spiel. Einige Teile religiöser Gemeinschaften versuchen ständig, ihr jeweiliges Dogma zu einem Verhaltenskodex zu machen, der auch die sozialen Beziehungen generell normieren soll anstatt bloß das persönliche Verhältnis zur eigenen Gottheit. Dem demokratischen und freiheitlichen Staat kommt in dieser Situation die Rolle zu, die Spielregeln, also die Freiheiten und Grundrechte der einzelnen Bürgerinnen und Bürger, gegen die Religion zu verteidigen, gegen die Religion als »Struktur«, die sich anmaßt, »die politische Form der Gesellschaften zu bestimmen und die Ökonomie des gesellschaftlichen Zusammenhalts vorzuschreiben«.18

Wie jedes andere kulturelle Phänomen auch unterhalten Religionen nämlich eine Beziehung wechselseitigen Austauschs zur Gesellschaft; sie nehmen Einfluss auf sie und werden ihrerseits beeinflusst. In diesem »Spiel« des Aushandelns dürfen die Laizisten (gläubige wie nicht gläubige) keinen einzigen Schritt zurückweichen, da andernfalls die Fundamentalisten das Feld stürmen.

Religionen als gesellschaftliche Akteure zu begreifen, die vollständig in das Spiel des Aushandelns integriert sind, bedeutet, davon auszugehen, dass Religionen eben nicht, wie es die Fundamentalisten gerne hätten, monolithische Strukturen sind, die immer gleich bleiben und zu jeder Zeit und an jedem Ort unverändert sind. Vielmehr sind sie lebende Komponenten der Gesellschaft, die in einem beständigen und wechselseitigen Wandel begriffen sind. Dieser laizistische Ansatz ermöglicht es zum einen, die diversen Religionen so zu betrachten, wie sie de facto in Wirklichkeit sind, sie an ihrem Beitrag, hier und jetzt, zur Demokratie zu messen, statt sie nur so zu sehen, wie wir sie gerne hätten. Zum anderen kann man sich darauf verlassen, dass, ungeachtet ihrer aktuellen Rolle, ihr Schicksal nicht unwandelbar ist. Anders ausgedrückt, wenn eine Religion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt und in einem gegebenen sozialen Kontext eine konservative und reaktionäre Rolle einnimmt, muss man das erkennen und untersuchen, ohne gleichzeitig zu denken, dass es nicht anders sein kann. Natürlich gilt auch das Gegenteil: Eine Religion kann zu einem gewissen Zeitpunkt eine progressive und emanzipatorische Rolle innehaben, ohne dass ihr das in alle Ewigkeit ein demokratisches Gütesiegel verschaffen würde.

Tatsächlich ist es recht verbreitet, mit zweierlei Maß zu messen, wenn es darum geht, die Rolle einer Religion in einem konkreten historischen Kontext zu bewerten. Am Beispiel des Christentums bedeutet das: Betrachtet man seine progressiveren und deutlich emanzipatorischen Aspekte, werden sie üblicherweise auf die Essenz des Glaubens zurückgeführt. Geht es jedoch darum, die Gräueltaten zu verurteilen, die im Namen des Christentums im Laufe der Geschichte ausgeübt wurden – von der Hexenjagd bis zur Zwangsbekehrung –, werden auf einmal kritischer Geist und historische Analyse gezückt, um zu zeigen, dass all das nicht das Wesen des Christentums ausmache.

Akzeptiert und begreift man jedoch die Religion als kulturelles Phänomen, das in die Geschichte eingeschrieben ist, so bleibt sie genau das, im Guten wie im Schlechten. Der »Kniff«, die Verantwortung für die negativen Aspekte bloß dem historischen Kontext zuzuschieben, den wirtschaftlichen Verhältnissen und so weiter und die Religion freizusprechen, wenn es einem gelegen kommt, funktioniert nicht, da sie wie alles andere Teil der Geschichte ist.

Die Neigung, Religionen von jedweder historischen Verantwortung freizusprechen, ist nicht bloß an der religiösen Front verbreitet, sondern war – und traurigerweise ist – auch eine schlechte Angewohnheit einer bestimmten linken Einstellung, die aus dem Streben heraus, alles auf die sozioökonomische Struktur zurückbeziehen zu wollen, die gesamte kreative und aktive Macht aller »überstrukturellen« Elemente unterschätzt, zu denen eben auch die Religionen gehören.19

Privilegien der Religionen

Religionen sind Systeme von Glauben und Riten, und darin ähneln sie zahlreichen anderen Systemen von Glauben und Riten, auch kulturellen, politischen, sozialen und ideologischen. Dennoch genießen Religionen in unseren Gesellschaften einen besonderen Status, der ihnen Privilegien verleiht, die für kein anderes Glaubenssystem akzeptiert würden.

In zahlreichen Ländern sind auf offiziellen Dokumenten Fotos mit Kopfbedeckung verboten – es sei denn, die Kopfbedeckung wird aus religiösen Gründen getragen. Auf genau diese Klausel hat sich Lindsay Miller im amerikanischen Massachusetts berufen und die Genehmigung erwirkt, ein Foto verwenden zu dürfen, auf dem sie ein Nudelsieb auf dem Kopf trägt, das Symbol der bereits erwähnten Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters, der sie angehört.20

Dieser zugegeben etwas skurrile Fall macht die Privilegien erkennbar, die Religionen selbst in einer säkularisierten Gesellschaft genießen – eine religiöse Ausnahme, die längst nicht mehr toleriert werden kann. Man mag über das Beispiel mit dem Nudelsieb vielleicht schmunzeln, doch ist unser Alltagsleben voll von Situationen, in denen Religionen anders behandelt werden als alle übrigen Schulen des Denkens oder politische, philosophische und spirituelle Alternativen. Der Religion gestehen wir zu, was wir keiner anderen Sache erlauben.

Das fängt schon bei der Taufe an, der Anmeldung eines oder einer Minderjährigen zu einer Vereinigung, in der Regel in einem Alter, in dem es dem neuen Mitglied unmöglich ist, etwas bewusst zu wollen. Dieser Initiationsritus ist dermaßen verbreitet, dass er uns gänzlich harmlos erscheint. Dabei müsste man nur einmal überlegen, wie man auf Initiationsriten reagieren würde, die in einem beliebigen anderen, sprich nichtreligiösen Kontext an Neugeborenen durchgeführt werden. In einigen Ländern stellt die Taufe bereits eine Entscheidung dar, die nicht unerhebliche Konsequenzen für das Leben als Erwachsene oder Erwachsener haben kann. In Deutschland geben die Eltern nach der Geburt ihres Kindes bei den Behörden an, welcher Konfession es »angehört«. Dieser Verwaltungsakt führt dazu, dass in dem Moment, da das Kind sein erstes Gehalt ausgezahlt bekommt, automatisch die Kirchensteuer eingezogen wird. Die Steuer erhält die Kirche, für welche die Eltern das Neugeborene angemeldet haben. Dem kann man nur entgehen, indem man offiziell aus der Kirche austritt.21

 

Fälle dieser Art sind zahlreich, vom bereits erwähnten konfessionellen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen bis zur religiösen Betreuung in Krankenhäusern und Kasernen, von Pastoralbesuchen in öffentlichen Schulen und Behörden bis zur Segnung des Hauses oder bis hin zu den Sonderrechten von kirchlichen Amtsträgern in Italien, denen es erlaubt ist, selbst an Tagen, an denen Fahrverbote zur Abgasreduzierung gelten, mit ihrem Privatwagen aus »dienstlichen Gründen« zu fahren. In Italien gibt es noch das besondere System des »8 per mille« (acht Tausendstel), einer einkommensabhängigen Kirchensteuer, deren Empfänger ausgesucht werden kann. Ihr liegt ein ausgetüftelter Mechanismus zugrunde, der dafür sorgt, dass die katholische Kirche deutlich mehr Geld erhält, als ihre Gläubigen ihr ausdrücklich zukommen lassen.22

Eines der größten Privilegien der Religionen ist der von ihnen erhobene Anspruch auf »Respekt«, und zwar einen Respekt, der – das muss nicht eigens gesagt werden – viel höher ist als das, was anderen Denksystemen zugestanden wird. Blasphemie gilt als untragbare Beleidigung, als etwas viel Schwerwiegenderes als die Schmähung jeder anderen Sache, die sich nicht selbst für religiös erklärt hat. In manchen Staaten gilt Blasphemie als Straftat, in anderen wird sie sogar mit dem Tode geahndet. In Italien beispielsweise wird sie mit Artikel 724 des Strafgesetzbuches abgedeckt, wo es heißt: »Wer öffentlich mit Schmähreden oder mit Schimpfworten Gott lästert, wird mit einer Geldstrafe von 51 Euro bis 309 Euro bestraft.«23

Sieht man einmal vom persönlichen Glauben ab, wird wahrscheinlich kaum jemand bestreiten, dass die genaue Definition von »Gott« – »divinità« (Gottheit) im italienischen Beispiel – eine ziemlich mühsame Angelegenheit ist. Der Richterstand in Italien hat sie auf sich nehmen müssen, um festzulegen, wo die Grenzen des Gesetzes verlaufen. Dabei wurde beschlossen, dass das (in Italien relativ geläufige) Fluchen auf die Madonna keinen Tatbestand darstellt, da es sich bei ihr strenggenommen nicht um eine »Gottheit« handele. Offensichtlich darf die Mutter Gottes also folgenlos geschmäht werden. Es ist nicht zu übersehen, wie archaisch diese Gesetze sind, die einen vollkommen unzeitgemäßen, privilegierten Sonderstatus der Religionen aufrechterhalten. Ein Einwand könnte lauten: Wer eine Gottheit beleidigt, beleidigt doch aber die religiösen Empfindlichkeiten derjenigen Personen, die an diese Gottheit glauben. Andererseits liegt jedoch auch auf der Hand, dass der Geltungsbereich des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Kritik – das in einem freiheitlichen Staat immer so weitreichend wie möglich sein muss und erst bei Verleumdung oder der Anstiftung zu Straftaten an seine Grenzen stößt – nicht von jemandem festgelegt werden darf, der oder die sich angesichts solcher Kritik beleidigt fühlt.24 Dieses Argument deckt einmal mehr unsere Tendenz auf, religiöser Empfindlichkeit eine höhere Achtung entgegenzubringen als jedem anderen philosophischen oder spirituellen Empfinden. Ich selbst bin Atheistin und fühle mich tagtäglich beleidigt von vielen religiös gefärbten Ausdrücken, aber ich würde mir im Traum nicht anmaßen, mein persönliches Empfinden in dieser Sache zum Maß des Gesetzes machen zu wollen.

Die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum vertritt die Meinung: »Die religiösen Praktiken zu kritisieren – wenn man befunden hat, dass ablehnende Menschen nicht gefährdet sind – ist üble Nachrede und ungehörig. Wir alle haben Ansichten über die Religion anderer Menschen, die wir für uns abwägen und mit unseren Freunden diskutieren.«25 Diese allem Anschein nach harmlose Aussage stellt in Wahrheit einen äußerst schwerwiegenden Schlag gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Vitalität des öffentlichen Diskurses dar, der nur dann wirklich gesund ist, wenn er in aller Öffentlichkeit – und nicht bloß unter Freunden – jedwedes Thema ansprechen kann. Das schließt die religiösen Überzeugungen jedes einzelnen Mitglieds der politischen Gemeinschaft mit ein.

In den meisten Fällen sind solche Privilegien ein Vermächtnis der Konkordatsregelungen, die jedoch, wie Peña-Ruiz feststellt, »keine Rechtsprechung und die Grundlage für eine klerikale Zurückeroberung werden dürfen: Es wäre paradox, den versöhnenden Gehalt der Laizität gegen sich selbst zu richten und aus Zugeständnissen Rechte zu machen.«26

Die Konkordatsregelungen, wie sie mit gewissen Unterschieden in zahlreichen Ländern bestehen, sind das Ergebnis der langen und noch nicht abgeschlossenen Geschichte der Säkularisierung der politischen Institutionen. Und heute stoßen wir an ihre Grenzen. Die bloße Tatsache, dass Religionen – und nur sie – Abkommen mit dem Staat treffen dürfen, stellt für sich betrachtet bereits ein Privileg dar. Die ursprünglich für die katholische Kirche getroffene Regelung des Konkordats wurde in Italien ausgeweitet auf ein System von Verträgen mit anderen Konfessionen, die als »intese« bezeichnet werden. Dadurch ist ein Modell der Privilegierung auf zwei Ebenen entstanden: Die katholische Kirche steht über den anderen Religionen und diese wiederum stehen über allen übrigen Glaubenssystemen, Weltanschauungen, Ideologien und spirituellen Alternativen. Durch das Konkordat27 und die »intese« sind Religionen in Italien in den Genuss einer Reihe von Vorzügen gekommen, die keiner anderen gesellschaftlichen, spirituellen oder vereinsähnlichen Struktur je zugesprochen wurden. Ähnlich ist die Situation in vielen europäischen Ländern.

Aus laizistischer Sicht sind Religionen nur einer von vielen Bestandteilen der Zivilgesellschaft und müssen daher genauso behandelt werden wie jeder andere gesellschaftliche Akteur. Als wichtiges Element der Gesellschaft haben sie genau dasselbe Recht wie alle anderen, im öffentlichen Raum aufzutreten, an dem sie jedoch privat teilhaben, also ohne jeden Anspruch, ihn zu strukturieren. Der italienische Jurist Stefano Rodotà unterstreicht, dass in vielen gesetzlichen Regelungen Italiens die Religion stets mit anderen Dimensionen in Verbindung gebracht und als freie Meinungsäußerung gewertet wird, während sie tatsächlich – dank der Absurdität der Konkordatsregelung – eine privilegierte Stellung genießt.28

Der laizistische Staat hat nun einmal die Pflicht, sich zum Garanten für die Freiheit aller Bestandteile der Zivilgesellschaft zu machen, einer Freiheit, die gewährleistet werden muss, solange sämtliche Gemeinschaften sich im Rahmen des Gesetzes und der Verfassungsprinzipien bewegen. Diese Garantie gilt natürlich unter denselben Bedingungen auch für Religionen. Deren Anspruch jedoch, einen privilegierten Status gegenüber anderen Bereichen der Zivilgesellschaft einzunehmen, muss mit aller Vehemenz abgelehnt werden, zumal dieser Status ihnen Privilegien einräumt, die für andere Gruppen oder Gemeinschaften unvorstellbar wären.

Die Theokratie ist unter den Gesellschaftsordnungen der extremste Fall, was die Vermengung von Religion und öffentlicher Macht angeht, aber auf der langen Strecke, die sich zwischen der Theokratie und einem vollständig laizistischen Staat dehnt, existieren die unterschiedlichsten Varianten. Es genügt nicht, keine Staatsreligion zu haben, um behaupten zu können, ein Staat sei laizistisch. Ein Land, das entweder einer Religion eine wie auch immer geartete privilegierte Stellung gegenüber anderen Religionen zuerkennt oder Religionen im Allgemeinen eine solche Stellung gegenüber anderen spirituellen Alternativen einräumt, missachtet zum Teil die Gleichberechtigung aller Bürger. Das betrifft die allermeisten westlichen Länder, die sich zwar auf der erwähnten Strecke deutlich abseits der Theokratie ausmachen lassen, gleichzeitig jedoch – das eine mehr, das andere weniger – noch ein gutes Stück von der vollendeten Laizität entfernt liegen.

Dabei darf natürlich weder die schiere Anzahl der Gläubigen, ihr »Mehrheitscharakter«, noch das wirtschaftspolitische Gewicht einer Religion ein Argument für ihre privilegierte Behandlung sein. Die Gewissens- und Religionsfreiheit ist nämlich eines der Menschenrechte, das jeder einzelnen Bürgerin und jedem einzelnen Bürger zusteht, und deren Rechte gelten jeweils genauso viel wie die aller anderen, selbst wenn jemand der einzige Anhänger einer Religion sein sollte.

Es geht also nicht darum, Religionen aus dem öffentlichen Raum auszuschließen, sondern darum, ihnen keine privilegierte Stellung einzuräumen, keinen zusätzlichen Wert.29 Jedes Individuum gestaltet sein Leben nach den eigenen Überzeugungen und Werten, und viele Gläubige orientieren sich in ihrem Alltag an ihrer Religion. Das ist vollkommen in Ordnung und niemand darf jemand anderem verweigern, sich seine Wertvorstellungen selbst auszusuchen. Der Staat als solcher darf jedoch keine Religion besser behandeln als irgendein anderes Werte- oder Glaubenssystem, weder eine bestimmte noch eine gewisse Auswahl und auch nicht alle.

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