Deine Wahl / Your Choice - Zweisprachiges E-Book Deutsch / Englisch

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PAUSE

Wir müssen entschleunigen. Wir sind zu beschäftigt, nicht nur unseretwegen, um ein schönes Leben zu genießen, sondern um überhaupt zu leben. Um die echte Arbeit zu leisten und den wichtigen Herausforderungen zu begegnen. Wir sind einfach zu überwältigt und überstimuliert, um den Wald vor lauter Bäumen sehen zu können. Wir haben mehr denn je, wir wissen mehr denn je, wir stecken aber auch mehr denn je den Kopf in den Sand, denn mehr denn je ist dieses Mehr von allem zu viel.

[WIR BRAUCHEN EIN NEUES TEMPO.]

Also kann es sein, dass das, was wir wirklich brauchen, ein Notfall-Sabbatjahr ist. Eine Zig-Milliarden-Euro-Stiftung zur Freistellung der hellsten Köpfe, um sich darüber Gedanken zu machen, wie wir mit den großen Fragen fertig werden: der Klimakrise und dem weltweiten demokratischen Defizit und den Fragen unserer Enkel in 20 bis 30 Jahren danach, warum wir nichts gemacht haben angesichts steigender Temperaturen, dauerhafter Hitzewellen, extremer Wetterereignisse und der parallel dazu stattfindenden Ausbreitung von Despotismus und Populismus – damit unsere Antwort nicht lauten muss: Sorry, wir waren leider zu beschäftigt. Beschäftigt mit was?

In vielen Ländern wird die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) diskutiert – nur eine von vielen Möglichkeiten, die Rolle von Zeit, Arbeit und Menschen in der Wirtschaft neu zu konzipieren.

An dieser Weggabelung lässt sich noch nicht sagen, ob es der beste Weg ist, aber es ist einer, den es sich lohnt, näher zu betrachten. Und sicherlich auch nicht der einzige. Die Viertagewoche wird aller Voraussicht nach von der britischen Labour Party demnächst als Ziel formuliert werden und ist prinzipiell von einigen großen deutschen Gewerkschaften und auch amerikanischen Unternehmen anerkannt. Manche Firmen allerdings haben sie getestet und für nicht praktikabel befunden. Aber je mehr Routinetätigkeiten von Robotern und Maschinen übernommen werden, je weniger wir vor Stress unseren ruhelosen Verstand verlieren, je weniger Zeit wir für geregelte Arbeit aufwenden und dafür mehr Zeit für andere Dinge frei haben, scheinen wir Schritte in die richtige Richtung zu machen.

Unser aus dem 20. Jahrhundert übernommenes Überlebensprinzip bringt uns um. Der Schweizer Uhrenhersteller TAG Heuer wirbt schon lange mit dem Slogan und seit kurzem auch dem Hashtag »Don’t crack under pressure« (Brich unter Druck nicht zusammen). Es ist ein cleveres Wortspiel und eines, das im Kontext der abgebildeten Sportlegenden, die es sich nicht leisten können, unter Druck einzuknicken, absolut Sinn ergibt.

Aber als Mentalität für unsere heutige Gesellschaft als Ganzes ist diese Einstellung, die aus den Nachkriegsjahren entsprungen ist und wesentlich unser Denken seit den 1980er-Jahren durchdrungen hat, eine furchtbare Idee. Wenn wir wollen, dass unsere Welt, genau wie wir selbst, gesund und human ist, dann müssen wir uns gelegentlich erlauben, unter Druck auch mal nachzugeben. Wir müssen für frühe Anzeichen von Druck empfänglich sein und reagieren, um ihn zu reduzieren, um Risse im Fundament von Anfang an zu vermeiden. Und wenn die Frakturen mal da sind, tapeziert man dann einfach drüber? Oder kümmert man sich lieber gleich um die Reparatur?

Ist es möglich, eine andere Herangehensweise zu kultivieren und diese Sprünge zu feiern, sie in etwas Schönes zu verwandeln, wie im japanischen Kintsugi, wo zersprungene Objekte weder weggeworfen noch makellos wiederhergestellt werden, sondern die Sprünge mit Edelmetallen gefüllt werden, um die Geschichte des Objektes und sein Überleben zu unterstreichen?

Wovon wir hier sprechen, ist, wieder mal, ein Wandel in der Herangehensweise. Eine Entspannung der Angelegenheiten. Vielleicht weniger neu als neu gedacht. Langsamer, ganzheitlicher, humaner. Es bedeutet nicht, alles abzustellen und komplett neu anzufangen, sondern den Unterschied zwischen solidem Wachstum und Wucher, ungehemmtem Wachstum zu erkennen; zwischen Auswuchs und Anstieg: in Substanz, Wohlbefinden, Struktur. In Gesundheit.

Der Vorschlag, alles zu entschleunigen oder Wachstum neu zu denken, mag vehemente Reaktionen erzeugen. Manche Leute, vor allem jene, die mit dem historischen Prinzip stets expandierender wirtschaftlicher Aktivität, also »Wohlstand«, aufgewachsen sind, werden sich tendenziell bedroht und ängstlich fühlen, dass man ihnen etwas wegnehmen möchte. Das Auto, das Steak, den Urlaub auf Mauritius. Aber darum geht es hier gar nicht.

Die Bandbreite von guter, befriedigender materieller Existenz bis hin zu Wucher – Exzess bis zum Punkt der Zerstörung – ist riesig. Und unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Prioritäten in unterschiedlichen Lebensabschnitten. Deine Arbeit mag es notwendig machen, zweimal die Woche mit dem Flugzeug zu fliegen. Vielleicht musst du deine Kinder mit dem Auto zur Schule bringen und von dort auch wieder abholen. Und vielleicht liebst du es einfach, dein Wochenende auf deinem Motorboot zu verbringen.

[WIR HABEN VON ALLEM GENUG.]

Freude, Spaß und Feuerwerk sind Teil unserer Zivilisation, sie machen uns zu Menschen. Feiere sie. Um das richtige Maß zu finden, muss man auch mal übers Ziel hinausschießen. Es ist nicht das Verhalten, das unserem Planeten wirklich Schaden zufügt. Der kommt von dauernder systematischer Überlastung, und gegen die kommen wir nicht an, wenn wir den Leuten ihren gelegentlichen Exzess verbieten wollen. Viel eher müssen wir die Struktur unserer Wirtschaft unter die Lupe nehmen wie auch einen kritischen Blick darauf werfen, was wir auf prinzipieller Ebene im Leben priorisieren, tagein, tagaus.

An dieser Stelle wollen wir zwei Punkte wiederholen und betonen:

Erstens: Knappheit. Die Idee, dass wir nicht genug Energie oder genug Wasser oder genug Raum auf dem Planeten haben, um alle zu versorgen, die ihn jetzt bewohnen, als auch für die, die in den nächsten zwei, drei Jahrzehnten noch dazukommen, ist eine Täuschung. Wir haben von allem genug. Der Planet ist reich an Wasser und Energie, und Land gibt es auch mehr als genug. Unser Problem ist, dass wir es nicht optimal nutzen, dass wir unsere Ressourcen in vielen bewohnten Bereichen der Welt überstrapazieren und dabei immer noch von fossilen Brennstoffen abhängig sind. Wir können – und wir werden – die globale Bevölkerung mit nachhaltiger, erneuerbarer Energie versorgen, und wir können – und werden – die Mittel finden, um Wüsten in fruchtbares Ackerland zu verwandeln, und wir können – und werden – die Kapazität haben, um die knapp zwei Milliarden weiteren Brüder und Schwestern willkommen zu heißen, deren Ankunft wir noch in unserer menschlichen Familie erwarten können, bevor das Bevölkerungswachstum ganz natürlich abflacht. Nicht weil alle in einem ökologischen Armageddon krepieren, sondern weil das passiert, wenn Bevölkerungen einen Sättigungsgrad an Bildung und materiellem Wohlstand erreichen.

Zweitens: Besitz. In Erinnerung an das, was wir oben über die Sharing Economy geschrieben haben, müssen wir uns ernsthaft fragen, was »Besitz« bedeutet und warum wir ihn wollen. Nützt er uns, oder knechtet er uns mehr, als er uns befreit? Das ist keine verkleidete marxistische Argumentation, sondern eine einfache, gerechtfertigte Frage: Wenn du ein geteiltes Auto fahren kannst, wann immer du es brauchst, warum eines besitzen? Wenn du drei Jahre in Hanoi verbringst und die nächsten vier in Sydney, musst du deine Wohnungen an beiden Orten besitzen, oder macht es Sinn, von einer zur nächsten zu hüpfen, in einem Pool geteilter Räume, als Teil einer globalen Gemeinschaft? Das ist doch nichts anderes, als zu mieten, sagst du jetzt vielleicht. Aber noch einmal: Wem gehören die gemieteten Objekte? Wir denken ein oder zwei Schritte weiter, an Dinge im gemeinschaftlichen Besitz, die nicht darauf ausgerichtet sind, eine große Menge Profit für eine kleine Menge bereits sehr reicher Menschen zu generieren, sondern tatsächlich der Gesellschaft im Ganzen zum Vorteil gereichen. »Das ist Sozialismus!«, rufst du jetzt vielleicht. Nicht, wie er im letzten Jahrhundert aufgefasst wurde. Wir reden nicht von einem System, in dem der Staat alle Kontrolle an sich reißt, sondern von Gemeinschaften von Menschen und Nutzern und Mitwirkenden, die ihre Ressourcen zusammenlegen und teilen.

Beide Ideen mögen für viele, wenn nicht eindeutig gefährlich, dann wenigstens schwachsinnig oder utopisch klingen. Alles, was wir uns vorstellen, kann real werden, und alles, was wir uns tatsächlich vorstellen, wird früher oder später real, weswegen es so wichtig ist, was man sich vorstellt. Hierbei geht es nicht um spirituelles Heraufbeschwören, es ist einfach das, was passiert: Das, worauf man sich konzentriert und worein man seine Energie steckt, das ist, was entsteht. Du bringst es hervor, indem du deinen Fokus und deine Energie und Aufmerksamkeit darauf richtest.

Und vergiss nicht das etwas banal klingende, aber nichtsdestotrotz wahre Sprichwort: »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.« Wir nehmen es dir nicht übel, wenn du jetzt meckerst: »Das ist euer Argument?« Na ja, weniger Argument als Beobachtung: Als die Finanzkrise 2008 begann, fingen die Zentralbanken auf der ganzen Welt an, Geld zu drucken wie nie zuvor, und haben bis heute, elf Jahre später, nicht damit aufgehört. Plötzlich war es möglich, weil es für nötig und sinnvoll erachtet wurde. Es ist das Sprichwort in Praxis: Es gab einen Willen, sie fanden einen Weg. Sie haben es erfunden und nannten es »quantitative Lockerung«. Plötzlich, aus dem Nichts, wurden Billionen Dollar in ein System gepumpt, das man für erhaltenswert erachtete.

[ES GAB EINEN WILLEN, SIE FANDEN EINEN WEG.]

Es ist schwer, sich vorzustellen, wie groß diese erfundene Geldmenge ist. Wenn man eine Million US-Dollar in Hundertdollarnoten stapeln würde, wäre dieser Stapel ungefähr einen Meter hoch: ungefähr die Höhe der Rückenlehne eines Stuhls. Wenn man diese Hundertdollarnoten weiter bis auf eine Milliarde Dollar stapeln würde, wäre dieser Turm einen Kilometer hoch, knapp höher als das höchste Gebäude der Welt, das Burj Khalifa in Dubai.

 

Wollte man dann mit diesen Hundertdollarnoten eine Billion erreichen – und sich dabei ins Gedächtnis rufen, dass der durchschnittliche Amerikaner von diesen Scheinen vielleicht acht oder neun in der Woche mit nach Hause nimmt, wenn er Vollzeit arbeitet –, dann würde dieser imaginäre Turm 1000 Kilometer in den Himmel ragen, zweieinhalbmal so weit, wie die International Space Station von der Erde entfernt ist. Eine Billion ist viel. Und wir sprechen davon im Plural.

Ist dieses Prinzip erhaltenswert? Oder hängt es an einem Lebenserhaltungssystem, das man langsam mal abschalten könnte, um die dafür verbrauchten Ressourcen für eine bessere Gestaltung der Wirtschaft und der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen? Denn das ist eigentlich der Zweck, den eine Wirtschaft erfüllen soll. Nicht sich um ihrer selbst willen zu erhalten, sondern um die Lebensqualität der darin lebenden Menschen zu steigern. Tut sie irgendetwas anderes, oder gar das Gegenteil, dann erfüllt sie nicht länger ihren Zweck und muss verändert werden.

ZURÜCKSPULEN, ABSPIELEN

Jetzt noch mal zum Überblick.

Was wir vorschlagen, ist, dass sich unsere Perspektiven ändern müssen. Um unsere Perspektiven zu ändern, müssen wir einmal tief durchatmen und erkennen, dass wir nicht einfach nur vernetzt sind, wir sind supervernetzt. Vernetztheit ist jetzt ein Seinszustand.

Deswegen sind wir auch überwältigt. Von allem. Das ist stressig, desorientierend, ja, aber tatsächlich auch die aufregendste Zeit überhaupt: Wir können Dinge tun, von denen unsere Eltern nicht träumen konnten, weil sie sie sich kaum vorstellen konnten. Wenn du dieses Buch lesen kannst, kannst du fast alles tun, was dir gefällt. Du kannst sein, wer du willst. Deine Religion, dein Geschlecht, deine Sexualität, dein Wohnort, deine Karriere: Alles ist verfügbar. Verhandelbar. Definierbar. Durch dich.

Und das bedeutet, du musst diese Entscheidungen selbst treffen, du musst entscheiden, was wichtig ist und was nicht. Wie viel Geld du brauchst, um zu existieren, und wie viel du brauchst, um glücklich zu existieren.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war mehr mehr, und es gab klare Strukturen, in die man sich einfügen konnte; jetzt musst du dir alles unterwegs zurechtlegen. Mehr ist vielleicht nicht mehr mehr, sondern fügt dir eventuell fundamentalen Schaden zu. Also ist für dich weniger vielleicht mehr.

Mit unserem heutigen Grad an Vernetztheit muss ich mir selbst die Frage stellen: Wer oder was sind all die anderen Dinge und Wesen, mit denen ich vernetzt bin? Durch die Vernetzung beeinflussen sie mich – wer oder was auch immer sie sein mögen; genau wie ich sie beeinflusse. Also ist die Frage nicht nur, wie gedeihe ich als Individuum, sondern auch, wie gedeihen wir zusammen als Organismus? Was brauche ich, um zu überleben, auf gute Weise, aber auch, was braucht das Netzwerk, von dem ich ein Teil bin, um zu überleben und gut zu überleben?

Wachstum ist nicht nur eine quantitative Angelegenheit, sondern auch eine qualitative. Egal ob eine Person, ein Netzwerk oder ein Organismus, nichts kann dauernd nur größer oder höher werden, es muss auch stärker werden. Die Substanz muss sich stabilisieren und widerstandsfähiger werden. Wachstum bedeutet nicht nur, immer mehr Geld zu verdienen und immer mehr davon auszugeben und immer mehr Dinge zu kaufen und das Bruttosozialprodukt des eigenen Landes zu erhöhen. Wachstum ist persönlich. Gemeinschaftlich. Sogar spirituell. Ob du einer Religion angehörst oder nicht, es existiert eine Quantenebene der Vernetzung, die wir langsam beginnen zu verstehen und für die wir momentan weder den richtigen Namen noch eine Erklärung haben. Deswegen betrachten wir sie noch als »spirituell«, sehr bald wird sie jedoch vollkommen erklärbar werden. Der Umstand, dass wir noch nicht wissen, was es ist, heißt nicht, dass es nicht existieren kann. Drei Viertel des bekannten Universums sind voll von dunkler Materie. Wir wissen nicht wirklich, was das ist. Aber wir wissen, dass sie existiert.

Die Mühe, unsere Identität in diesen verknüpften Systemen zu entdecken und zu definieren, erscheint uns viel größer als unser »natürlicher Zugehörigkeitssinn«, der meistens mit einem Herkunftsort, einer Familie und der lokalen Tradition verbunden ist. Und das macht auch Sinn. Denn es ist so neu, dass wir noch nicht daran gewöhnt sind. Aber wir können Dinge auch anders sehen. Wir können Wachstum auch anders begreifen als nur als Ballon, der aufgeblasen wird, bis er platzt. Wir können es auch begreifen als das Erschaffen von Charakter, Inhalt und Bedeutung. Wenn wir ständige Veränderung akzeptieren, können wir das auch für lebenslanges Lernen tun. Wenn wir die Ungewissheit akzeptieren, können wir damit auch deren Potenzial willkommen heißen.

[WIE VIEL EINER GUTEN SACHE IST GUT FÜR MICH?]

Wie viel einer guten Sache ist also gut für mich? Wann wird Medizin zu Gift? Vielleicht macht es irgendwann Sinn zu ruhen. Es geht nicht mal um Detox, sondern darum, uns selbst und unserem strapazierten System eine Pause zu gönnen. Um zu balancieren, zu atmen. Ruhig zu sein, zu denken oder auch nicht mehr zu denken und einfach zu sein. Verwechsle das nicht mit einem kompletten Ausstieg, Aufgeben oder Abwählen.

Wir wollen nicht, dass du jetzt einfach eine Tüte durchziehst und »Scheiß drauf« sagst. Wir schlagen vor, deine persönlichen Ressourcen selbst zu verwalten. Und statt nur materiellem Wohlstand hinterherzurennen, Followern, Likes, Geld, Spaß, gib dir selbst Zeit, um zu reflektieren. Dich selbst zu stärken. Erlaube dir selbst, mehr zu sein.

Mehr du.

Und zwar nicht nur deinetwegen. Sondern weil mit dir selbst mehr in Einklang zu sein bedeutet, dass du mit Mitmenschen mehr im Einklang sein kannst und auch mit dem Planeten selbst. Was wir vorschlagen, ist eine Minikatharsis. Für dich selbst und für das Allgemeinwohl.

ORIENTIERUNGSAUSSAGEN

3.1

»Als Spezies sind wir ein spektakulärer Erfolg.«


Trage diesen Wert auf folgenden Achsen ein: A, C, D.

3.2

»Unsere Rastlosigkeit ist unsere größte zivilisatorische Bedrohung.«


Trage diesen Wert auf folgenden Achsen ein: B, F, G.

3.3

»Less-tox schlägt Detox.«


Trage diesen Wert auf folgenden Achsen ein: A, B, E.

3.4

»Der Planet Erde verfügt über ausreichende Ressourcen für 12plus Milliarden Menschen.«


Trage diesen Wert auf folgenden Achsen ein: A, B, F.

ÜBUNGEN FÜR DEN WANDEL

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Wenn du deine Zeit teilen möchtest, kannst du das hier tun: https://twitter.com/C_Peterka

Kapitel 4
Geschätzte Lesezeit: 26 Minuten
Erster Abschnitt: 9 Minuten
Zweiter Abschnitt: 3 Minuten
Dritter Abschnitt: 9 Minuten
Vierter Abschnitt: 5 Minuten
WIR HABEN ENTSETZLICHE ANGST VOR UNSERER FÄHIGKEIT ZU LIEBEN
PREIS VERSUS WERT – DEN UNTERSCHIED ERKENNEN UND WISSEN, WAS ZÄHLT
KOSTEN

Der irische Autor, Schöngeist, Erzähler, Kritiker, Essayist und selbsterklärte Ästhet Oscar Wilde hatte bis 1891 mehrere Stücke geschrieben, die heute größtenteils in Vergessenheit geraten sind. Er war in der Londoner Society bereits bekannt und von gewisser Prominenz, als er sich für eine Zeit von seinem faszinierenden Szeneleben in den pittoresken Lake District im Nordwesten Englands zurückzog, wo dann die Komödie Lady Windermeres Fächer entstand. Sie brachte ihm den Durchbruch als Bühnenautor. In diesem Stück lässt er die Figur Lord Darlington die Frage »Was ist ein Zyniker?« mit den Worten beantworten: »Ein Mann, der den Preis von allem kennt, aber von nichts den Wert.«

Nicht nur traf Wildes Beschreibung eines Zynikers den Nagel genau auf den Kopf, sie schaffte es in die große Sammlung seiner berühmten Aphorismen, auf die wir, wann immer wir etwas treffend ausdrücken wollen, zurückgreifen können.

Heute, über 100 Jahre später, scheinen wir in einer Welt voller Zyniker zu leben. Voller Leute, die von allem den Preis kennen und wissen, wie man Profit maximiert, ein Schnäppchen macht und hart verhandelt, wo man einem Landwirt oder Hersteller noch ein bisschen den Preis drücken kann, ohne eine Ahnung zu haben – oder das Interesse dafür –, was die Dinge eigentlich wert sind. Wenn man sich so umschaut, scheint es überall um den Preis zu gehen, aber nirgends um den Wert.

Im Englischen hört man Menschen oft sagen, die Verhältnisse seien »wie im viktorianischen London«, was bedeuten soll, das sie besonders mies sind. Das viktorianische London war ein grässlicher Ort. Nicht ganz so schlimm für Reiche, Aristokraten und Berühmtheiten, wie Oscar Wilde eine war, obwohl selbst dann die legendäre Heuchelei der Society einen früher oder später einholen, ins Zuchthaus hinein- oder aus dem Land hinausdrängen konnte wie in Oscar Wildes Fall. Für die Armen, die Bedürftigen, die Waisen, die Bettler, die Untergebenen, die Arbeiter und die Prostituierten war es ein mieses Drecksloch, wo Kinder in Fabriken arbeiteten, wo man in den Knast geworfen wurde, wenn man einen Laib Brot für die Familie gestohlen hatte, und wo man ins Armenhaus gebracht wurde, wenn man seine Miete oder Schulden nicht mehr bezahlen konnte.

[WAS SIND DIE WAHREN KOSTEN DESSEN, WAS ICH HIER KAUFE?]

All dies gehört nicht der Vergangenheit an. Zwar in London und in anderen europäischen und nordamerikanischen Städten wie auch in vielen entwickelten asiatischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen Städten. Aber die Umstände für die Ausgebeuteten und Missbrauchten in anderen Teilen der Welt sind heute kaum besser als damals, oft sogar schlimmer. Letztendlich leben wir in einer Welt, in der manche ein T-Shirt für den Preis einer Flasche Wasser kaufen können, während viele andere für dieselbe Summe einen Zehnstundentag ableisten müssen.

Wenn du in einen Supermarkt laufen und ein Hühnchen für zwei Euro kaufen kannst, musst du dich fragen: »Wer bezahlt dafür, denn ich tue es ganz klar nicht.« Vielleicht der Landwirt? Weil es sich dabei höchstwahrscheinlich um ein Industrieprodukt handeln dürfte, wohl eher der Arbeiter im Schlachthaus. Und ganz sicherlich die Hühner. Und wenn deine Airline dir anbietet, dich für den Preis eines Guinness von Dublin nach Prag zu fliegen, sollte man sich fragen: »Wie wirkt sich das aus? Was sind die wahren Kosten dessen, was ich hier kaufe?«

Das ist die kritische Frage, die sich jeder mit Interesse an fairer, nachhaltiger, humaner und naturnaher Wirtschaft stellen und beantworten können muss: Was sind die wahren Kosten?

Wenn du einen Kühlschrank kaufst oder ein Auto oder einen Schnellkochtopf oder in manchen Teilen der Welt sogar ein Haus oder eine Wohnung, bekommt man eine Energieverbrauchskennzeichnung, die die Energieeffizienz des Objekts bewertet und diese auf einer Skala von A+++ bis D klassifiziert. Das ist das EU-Modell, und es gibt sicher noch andere. Wenn du aber in einen Supermarkt gehst und eine Packung Avocados kaufst, bekommst du keinerlei Hinweis darauf, welche Ressourcen erforderlich waren, um diese anzubauen, zu schützen, zu ernten, zu lagern, zu transportieren, zu verpacken, nochmals zu transportieren, auszustellen und zu verkaufen. Vermutlich wirst du sagen, dass der Supermarkt, der dir die Avocados verkauft, Gewinn machen will und daher wohl alle Kosten einberechnet hat. Aber kannst du davon wirklich ausgehen? Kannst du sicher sein, dass die Umweltkosten für die Bewässerung dieser Pflanze und dafür, sie frei von Schädlingen zu halten, wirklich bezahlt wurden? Dass alle in den Prozess von der Anschaffung bis zum Verkauf involvierten Beteiligten einen fairen Lohn erhalten?

 

Bei Tee und Kaffee sind wir Fair-Trade- und Bio-Zertifikate gewohnt. Sie sind ohne Zweifel eine gute Sache, nicht zuletzt für uns besser betuchten Konsumenten, denn sie beruhigen unser schlechtes Gewissen. Wie gut sie wirklich für die Menschen sind, denen sie helfen sollen, darüber lässt sich streiten. Wir sprachen mit einem Bio-Qualitätsprüfer in Südafrika, der sagte, dass eines der weltweit größten Lebensmittelunternehmen einfach sein eigenes Fair-Trade-Siegel erstellt hat, als die Standards eines bereits bestehenden Siegels zu strikt wurden.

Doch das ist fast nebensächlich. Entscheidend ist, dass eine Wirtschaft ein Austausch von Waren und Dienstleistungen zwischen Personen ist. Personen sind menschliche Wesen, die wiederum Teil der globalen Familie sind. Wir alle brauchen einen Platz zum Leben, brauchen Luft zum Atmen, Essen, jemanden, der uns erzieht und Bildung vermittelt, und wir brauchen eine Zukunft für uns und unsere Kinder und Kindeskinder. Wir brauchen Gesundheitsfürsorge, einen Namen und Leute, zu denen wir Beziehungen aufbauen können.

Jeder Aspekt, und zwar wirklich jeder, einer Wirtschaft, der dafür verantwortlich ist, auch nur eine dieser Komponenten den Leuten in der Produktions- oder Lieferkette eines Produktes oder einer Dienstleistung vorzuenthalten, ist nicht akzeptabel. Wenn also das T-Shirt, das du gerade trägst, von jemandem gemacht wurde, der keinen fairen Lohn erhält oder sich mit seinem Lohn keine würdevolle Unterkunft leisten oder die eigenen Kinder davon nicht auf eine Schule schicken oder sich nicht um die eigenen Eltern kümmern kann, dann solltest du dieses T-Shirt nicht tragen. Es gehört dir nicht einmal. Du hast nicht dafür bezahlt. »Hab ich wohl«, rufst du vielleicht, »ich hab sogar noch den Kassenzettel!« Aber der ist nicht das Papier wert, auf dem er gedruckt wurde.

Du hast dein T-Shirt nur dann wirklich bezahlt, wenn ausnahmslos alle in die Produktion Involvierten fair und menschengerecht behandelt und für ihre Mühen entlohnt wurden. Und wenn jeder Schaden, der dabei der Umwelt zugefügt wurde, durch geeignete Maßnahmen ausgeglichen und das Shirt am Ende nach Gebrauch verantwortlich entsorgt wurde.

»Das«, sagst du händeringend, »ist unmöglich!« Nein, ganz im Gegenteil. »Aber mein T-Shirt wäre dann zehnmal so teuer.« Exakt. Das sind die wahren Kosten. Solange du diese wahren Kosten nicht bezahlt hast, bezahlt jemand anderes dafür, was schlicht bedeutet, dass es dir nicht wirklich gehört. Es gehört allen, die dafür bezahlt haben. Mit ihrer Gesundheit. Mit ihrer Zeit. Mit ihrer Mühe. Mit ihrer Zukunft. Mit ihrer Vergangenheit.

Auch die durch CO2-Emissionen entstandenen Kosten gehören in den Preis – so viel zur Diskussion um die sicher nicht ganz unsinnige CO2-Steuer. Dies gilt unabhängig davon, ob der Preis für ein Produkt, eine Dienst- oder Versorgungsleistung, die vom privaten oder öffentlichen Sektor oder von sonst jemandem bereitgestellt wird, bezahlt wird. Und dieser »sonst jemand« zählt auch: Wenn dein Gramm Koks nicht die sozialen Kosten der Kartellkriege berücksichtigt, die Fürsorge für Waisenkinder, verwundete Kuriere und Abholzung, ist es schlicht zu billig. Allerdings wäre im Zusammenhang mit einer fairen, humanen Wirtschaft noch ein ganz anderer Fragenkatalog in Bezug auf den Drogenhandel und »War on Drugs« abzuarbeiten, der jedoch in ein anderes Buch gehört.

Wenn du also in einen Laden gehst oder einen Supermarkt oder zu einem Marktstand oder online etwas bestellst, etwas kaufst, etwas abonnierst, solltest du erwarten können, dass die wahren Kosten im Preis berücksichtigt sind. Du solltest nicht auf Fair Trade oder sonstige Siegel achten müssen, die dich wählen lassen zwischen Waren, die ausweisen, was etwas wirklich wert ist, und solchen, die das nicht tun. Die Einbeziehung des wahren Preises sollte selbstverständlich sein. Was natürlich auch bedeutet, dass man bereit sein muss, den wahren Preis zu bezahlen. Tatsächlich solltest du verlangen, den wahren Preis zu bezahlen, denn noch einmal: Wenn du ihn nicht bezahlst, bezahlt jemand anderes für den Rest. Du stehst in Schuld. Und wenn das bedeutet, dass der Preis für ein Bund Frühlingszwiebeln von 0,99 auf 3,99 Euro steigt, dann ist das eben so. Wie viele Frühlingszwiebeln brauchst du denn wirklich?

Wir als Konsumenten müssen von unseren Anbietern Transparenz verlangen – vom ersten Produktionsschritt bis zur Entsorgung: Wo kommt etwas her, wie wurde es erzeugt, bezahlt, bereitgestellt?

[ES GEHT NICHT UM SCHLECHTES GEWISSEN, ES GEHT UM VERNUNFT.]

Ein deutsches Wort, das sich an dieser Stelle als sehr treffend erweist, ist Wertschätzung. Die Schätzung von Wert. Das ist genau das, was wir brauchen. Denn, um es zu wiederholen, es geht nicht darum, alles stillzulegen, »zurück zur Natur« zu gehen oder Wachstum zu stoppen oder Wohlstand zu unterbinden. Es geht schlichtweg darum, den Unterschied zu kennen zwischen dem aufgeklebten Preisschild und dem tatsächlichen Wert einer Sache. Nicht nur finanziell gesehen, sondern auch und viel wichtiger in Bezug auf Lebensqualität, unsere eigene wie auch die der anderen.

Nicht schlechtes Gewissen, sondern Vernunft hilft wie auch die Kultivierung einer grundlegenden menschlichen Empathie gegenüber allen lebenden Wesen und gegenüber uns selbst, was nichts anderes heißt, als den eigenen Wert anzuerkennen. Auf einem Planeten, dessen Bevölkerung auf die zehn Milliarden zusteuert, von denen mehr als die Hälfte in Städten lebt, ist das Finden eines Gleichgewichts, das uns erlaubt, harmonisch miteinander zu leben und mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen auszukommen, kein Akt grenzenloser Großzügigkeit. Es ist eine Überlebensstrategie.