Fahlmann

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«Drei Wochen», sagte ich. «Das schaff ich nie!» Susanne lag auf der Couch und studierte die Fernsehzeitung. Unter dem Minirock konnte ich (erlaubter Voyeurismus) den weißen Keil ihres Höschens sehen. «Du sagst doch immer, das Studium wär so einfach. Zieh die Sache durch, dann hast dus hinter dir!» – «Ja, es ist einfach, aber ich kanns nicht!» Ich ließ mich in den Sessel fallen, auf den ihre Beine zeigten: noch mehr erlaubter Voyeurismus. Die Freibadbesuche mit Anja hatten Susannes Haut gebräunt und feine Härchen sichtbar gemacht. Sie sah gut aus, sie durfte ins Schwimmbad, und an mir ging das Leben vorüber wie ein dicker, reicher Mann mit Smoking, Zylinder und Zigarre an einem Cartoonbettler. Capart, was für ein kranker Name! Thomas Mann hätte ihn sich nicht besser ausdenken können! «Und wieso kannst du das Ding nicht schreiben?» – «Ich kanns einfach nicht.» – Susanne legte die Fernsehzeitung auf den Wohnzimmertisch, wartete. – «Früher», gestand ich, «habe ich gerne Thomas Mann gelesen … wie er die Erdbeeren … das ist ja wirklich verdammt gut geschrieben … aber alles, womit man sich an der Uni beschäftigt, wird einem vergällt … als würden sie einem Drogen ins Trinkwasser … Kommt heute was im Fernsehen?» – «Der übliche Mist.» Pause. «Ich geh nachher sowieso noch weg.» – «Noch weg», bemerkte ich matt. Bevor ich den Raum verließ, drehte ich mich um. «Ich … äh … wollt dir noch was sagen: Gut siehst du aus!» – «Danke», sagte Susanne und schlug die Fernsehzeitung auf.

Das nächste Telefonat mit Capart hatte ich vier Wochen später geführt. Nun ging ich aufs Ganze und verwickelte ihn in ein längeres Fachgespräch. «In einem literarischen Werk ist die Namensgebung nicht unproblematisch. Eine dicke Frau kann Dommel heißen, ein Luder nie Doose. Ein Bestattungsunternehmer darf nie Grahlmann heißen. Ein alter, dünner Herr mit Hermann-Hesse-Brille kann aber durchaus Grahl heißen. Ein Name wie Gotter ist eine dunkle falsche Fährte; Raumhuber kommt nie aus der Kneipe nach Hause; Kasbohn riecht; aber Karlinski geht schon wieder. Das war jetzt vielleicht ein wenig zu unsachlich …» Leise klappte mein Doppelgänger, den ich die ganze Zeit über im Flurspiegel mit reserviertem Ekel beobachtet hatte, das Telefonbuch zu. «Ein wenig zu unsachlich?», wiederholte ich fragend. – «Oh, das war keineswegs unsachlich!» – «Untersuchte man die Namen im Werk Thomas Manns unter ähnlichen Gesichtspunkten, käme vielleicht als Ergebnis heraus, dass sie strenggenommen gar nicht funktionieren dürften.» – «Aber sie tun es!», bemerkte Capart entzückt. «Jedenfalls fast immer, denn Namen wie Serenus Zeitblom, Adrian Leverkühn oder Hofbräu …» – «Ja, das ist zu dick. Viel zu dick! Äh, Hofbräu ist zu dick! Den Namen meine ich. In München da steht Hofbräus Haus!», rief ich und schämte mich über meine unterwürfige Euphorie.

Und nun, nach der fürchterlichen Begegnung im (s. o.) Aufzug des Todes, müsste ich Capart demnächst ein drittes Mal anrufen; Achim würde sich schlapplachen. Unversehens ist mein Leben zu einem langen, in der Sonne weiß glühenden Gleis geworden, auf dem ich eine Hausarbeitsdraisine durch Telefonanrufkraft wochenweise vor mir herschiebe, ohne jemals den Zielbahnhof zu erreichen, wo mich ein greiser, unartige Liedchen trällernder Capart auf einem Schrankkoffer voller Literaturlexika erwartet. Capart ist der einzige Professor in der Germanistik, der die Seminararbeiten schon während des Semesters haben will. Weshalb? Das hat doch überhaupt keinen Sinn! Aber vielleicht ist es doch zu bewältigen. Ich muss, ich muss, ich muss diese beschissene Arbeit schreiben! Dies hatte ich etwa einen Tag nach der Aufzugsfahrt mit Capart und etwa einen oder zwei Tage, bevor ich mich über den Schreibtisch beugte, um erneut über Namen nachzudenken, notiert.

Im wirklichen Leben (was auch immer das sein mag) schienen die Namen seltsamerweise immer zu passen. Alle Namen! Winkler konnte nur Winkler heißen, Marsitzky nur Marsitzky, und dass hinter der hübschen Jasmin der tumbe Nachname Rimbach hertrottete, passte auch irgendwie. Irgendwie, aber wie? Ich zerbrach mir nicht zum ersten Mal über dieses vertrackte Thema den Kopf, denn es war mir noch nie leichtgefallen, richtig klingende Namen für meine Protagonisten auszudenken, unaufdringliche Namen, die fest mit ihrem Wesen verschmelzen ohne ausgedacht zu wirken. Nie, aber auch wirklich nie, hätte ich eine meiner Figuren Capart genannt (außer vielleicht den langzahnigen Kutscher eines karpatischen Fürsten). In der Wirklichkeit hingegen ging dieser Name bedenkenlos durch. Komisch. Wieso sollte er dann nicht auch in einem literarischen Text funktionieren? Capart spürte das beruhigende Gewicht der Luger in der Hosentasche. Capart hatte den Berg schon oft zuvor erklommen, aber heute war ein besonderer Tag: Heute würde er Polkinger auf dem Gipfel treffen. Nur mit solchen Beispielsätzen gelang es mir, einen Namen auf Texttauglichkeit zu testen. Die Hauptperson meines Romans hatte ursprünglich heißen sollen: Eisler (zu kalt), dann Lindner (zu warm, zu wurmig), und erst nach mehreren Wochen und hunderter solcher Testsätze hatte ich einen wohltemperierten Namen gefunden, der passte, einen wunderbaren, zweisilbigen Namen, der gleichzeitig hart und dumpf klang. Vielleicht hätte ich meinen Helden auch Capart nennen können. Obwohl: Mein Held sah nicht wie ein Capart aus. Caparts waren dümmliche Greise, die sich darin gefielen, nett zu jungen Lyrikern zu sein, weil diese sie irrtümlicherweise an jüngere Versionen ihres Ichs erinnerten. Bestimmt hatte der junge Capart geschriftstellert, Selbstgereimtes im Stil Gottfried Benns, und heute schrie die Prostata. Namen. Weiter über Namen nachdenken!

Um seine charakterlosen Protagonisten zu benennen, arbeitete Winkler mit einem Namenslexikon, während ich meine Erinnerungen plünderte (ehemalige Nachbarn, Lehrer, Feinde), seltener Anagramme bastelte, noch seltener eigene Erfindungen verwendete oder, wenn gar nichts mehr ging, das Telefonbuch von Kiel bemühte. Von Kiel, damit ich nicht in Gefahr lief, den Leuten aus meinen Texten irgendwann einmal auf der Straße zu begegnen. Das Telefonbuch von Kiel, das damals immer auf meinem Schreibtisch lag, war ein wunderbares Buch voller enigmatischer Einträge wie: Mehmet Nuri Atabek, Mustafa Atak, Altanta Segelyacht, ATARI Fachhändler, Seydi Atas, Bahman Atashfeshan, Ahmet Atasoy. Nachdem Mehmet Nuri Atabek, Mustafa Atak, Atlanta Segelyacht und Ahmet Atasoy die Wüste Atas durchquert hatten, gelangten sie in eine kleine Stadt, und über den engen Gässchen und hinter dem sengenden Auge einer unbarmherzigen Sonne klappte ihr Schöpfer das Telefonbuch zu, beendete ihre Existenz, fand sich auf einem Dachboden in der süddeutschen Provinz wieder, es war später Nachmittag, und er wusste, dass er diese verfluchte Hausarbeit niemals schreiben würde. Ich zog der Schreibmaschine die Phrygiermütze (Gott, hatte ich mich bei der Lesung blamiert!) aus schwarzem Plastik über den Kopf und ging nach unten – Susanne hatte Herrenbesuch. Doch ich greife vor. Holzstufen knarrten; die Treppenhauswände waren untapeziert; den Abstieg begleiteten eine in Handhöhe angebrachte Zierleiste (links) und ein Geländer (rechts), dessen Handlauf sich rau wie die Haut eines Dickhäuters anfühlte. In unserer Wohnung lachte Susanne. Vielleicht ist Anja zu Besuch, dachte ich, aber da hörte ich ein Männerlachen. Ich setzte mich auf die Antrittsstufe, Susanne lachte, der Mann lachte, ich kniff mir ausgiebig in den Handrücken, stand endlich auf und steckte den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür.

Augenblicklich machte sich befangene Stille breit, kroch in sämtliche Ritzen und Winkel meines Zuhauses, kroch in die Taschen der sehnsüchtig auf den Winter wartenden Mäntel an der Garderobe, kroch sogar hinter Spiegel und Weltkarte.

«Schatz?», fragte ich halblaut, um sie zu ärgern.

«Hier!», rief Susanne. «Wir sind im Wohnzimmer.»

Neben ihr auf der Couch saß der weißhaarige Kerl, mit dem sie sich immer in der Edeka-Kantine traf. Vor ihnen auf dem Wohnzimmertisch schaute ein mit Krümeln bedecktes Papptablett aus der Tüte einer mir wohlbekannten Bäckerei. Susanne stellte ihre Tasse neben den Untersetzer. Der Kerl starrte mich mit leerem Gesichtsausdruck an, abwartend, selbstsicher, ohne den leisesten Funken Neugierde, den ich ihm gnädig als Intelligenz ausgelegt hätte. Jemand wie ihm konnte man bestimmt erzählen, Käpten Nero habe bei Trafalgar die belgische Flotte besiegt. Der Schwachkopf sah aus, als käme er direkt aus Spitzbergen. Dort arbeitete er wahrscheinlich in einem Tante-Emma-Laden, denn seine grüblerisch vorstehende Unterlippe und das ausgeprägte Kinn machten es so gut wie unmöglich, nicht an altmodische Registrierkassen zu denken. Käpten Neptun, letterte ich für eine imaginäre Idiotengazette, steckt mit seinem Atom-U-Boot Naupilus im Krakianengraben fest. Von den Ohren sichelten sich schneeweiße Koteletten zu den Mundwinkeln; die Albinohaare hatte er in modischen Gustav-Gans-Wellen zurückgegelt; an eine solche Allerweltsvisage erinnert man sich nur, wenn einem der Besitzer mit einer Machete die Hand abgehackt hat. Ungeheuerlich, dass Susanne für einen solchen Blödmann ihr Haar hochsteckte (normalerweise tat sie das nur, wenn sie freitagabends mit Anja ausging). Aber noch ungeheuerlicher fand ich es, dass mein guter Freund, der sonst so menschenscheue Om, wohlig schnurrend und mit geschlossenen Augen auf dem Schoß des Scheißkerls saß. «Tach», sagte ich ansatzweise diplomatisch.

«Das ist der Wolfgang», Susannes Hand wedelte unbehaglich in seine Richtung, streckte sich aus, zeigte auf mich: «Der Georg.»

Die Oberschenkel der beiden berührten sich auf der Couch.

«Wir kennen uns vom Sehen», sagte der Weiß-Haar-Mann.

Susanne sah ihn an, sah mich an, sah Om an.

«Ich geh mal ne Cola trinken», sagte ich. Im Flur rief ich in meiner verlockensten Jetzt-gibts-was-zu-fressen-Stimme nach Om, doch der wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich trank eine Dose kalte Cola am offenen Küchenfenster, rauchte eine Senior Service, aschte in den Hof und bedauerte Heinz, der mit Onkel Jörg einen patinierten Eichensarg mit Palmenschnitzung zum Transit trug, Turmuhren, ich dachte an Turmuhren mit Glockenspiel, jede Stunde liefen die mechanischen Abbilder von Onkel Jörg und Heinz mit einem Sarg rund, der Sarg verband Onkel Jörg in einem Winkel von 35 Grad mit Heinz’ gekrümmter Gestalt, ruckartig bewegten sich beide Figuren zum Dröhnen der Glocken, ein allegorisches Bild der Vergänglichkeit, eine ächzende, kreuzkranke Sarguhr, der Transit fuhr davon, ich hob den Blick zur Küchenlampe, die Punkte, das ist Fliegenschiss, zweite Dose. Die klebrige matte Süße der Cola harmonisierte bei Weitem nicht so gut mit der Zigarette wie Espresso. Eine Espressomaschine wäre eine lohnende Anschaffung, eines dieser ewig verschnupften Metallungetüme – aber wo das Ding hinstellen? Ich sah mich um, fand keinen geeigneten Platz, schaute wieder aus dem Fenster, hinter mir tropfte der Wasserhahn. Jemand lachte. Pause.

 

Einige Stunden später: Ich erinnere mich mit Wehmut an unsere Küche. Ein Fenster (mein Fenster!) in der Westwand (Hof), ein Fenster (anderes Fenster) in der Südwand (Straße), dazwischen die vollgebröselte Hochebene des Kiefernholztischs, den uns Heinz zur Hochzeit gezimmert hat. Ich lasse den Blick über die Nordwand des erinnerten Raums gleiten: Östlich der Küchenlokomotive, deren einzelne Wagons «Herd», «Spüle» und «Kühlschrank» heißen, führt die nördliche der beiden Türen in den Wohnungsflur; über der bewegungslosen Lokomotive schweben Hängeschränke als Holzgewölk, dazwischen das kalkfenstrige UFO des Boilers. Ein demütigendes Doppellachen ertönt hinter der Tür in der Ostwand, der Tür zum Wohnzimmer; Susannes melodisches Gelächter zerrissen von rauhem Belfern. Lachte Susanne, es tut weh, daran zu denken, warf sie den Kopf in den Nacken. Die Haut spannte sich an ihrer Kehle und vertiefte die Grube zwischen den Schlüsselbeinrändern. Gott sei dank ist Jens unten bei Mutter und macht mit ihr seine idiotischen Hausaufgaben. Ich hatte befürchtet, dass Susanne den Burschen irgendwann einmal anschleppen würde, eine Eisenstange über den Kopf, nimm dies, du Bastard einer räudigen Spitzbergenschlampe! Packt mal an, Freunde, wir legen ihn zu ner dürren Oma in den Sarg. «Die Alte ist verdammt schwer», wundern sich die Sargträger. «Weitermachen!», rufe ich, sie geben Seil nach, der Kasten rumpelt hinab ins Erdloch, Amen. Nur ins Krematorium darf der Sarg nicht kommen, denn von dort nehmen wir alle Särge wieder mit, bevor Onkel Jörgs Mitverschwörer die Toten auspacken und auf großen Pappkartonstücken in den Hänsel-&-Gretel-Backofen schieben. «Eine Schande ist das!», hatte sich Onkel Jörg gerechtfertigt, als wir nach meinem ersten Arbeitstag im Beerdigungsinstitut Gebr. Fahlmann ein Bierchen im Büro tranken. «Man kann doch keinen Kiefernsarg, der 1.228,– DM wert ist, verbrennen lassen!» Ich verstand sofort.

«Du verkaufst die Särge also wieder, als wären sie ungebraucht?» – «Armin war nie damit einverstanden, aber du musst doch zugeben, dass die Leute dafür bezahlen, den Sarg, den sie gekauft haben, nie wiederzusehen. Sie wollen damit nichts mehr zu tun haben. Und ob der Sarg nun verbrannt wird, oder ob ich ihn an den nächsten Kunden weiterverscherbele, ist doch schnuppe!» Onkel Jörg setzte die Bierflasche an. Er hatte die Angewohnheit, die Augen beim Trinken zu schließen. Er hob die Flasche zum Mund und mit dem ersten Schluck schlossen sich die Rollos der Augenlider, um sich erst wieder zu öffnen, wenn sich der Flaschenhals von den Lippen gelöst hatte. «Ohne Sarg gibts weniger Asche», erklärte Onkel Jörg und öffnete die Augen, «aber die Jungs kippen deshalb was aus ner anderen Urne bei, damit niemand was auffällt. Keine Bange. Die halten dicht.» – «Habt ihr das immer schon so gemacht?» – «Nein.» Im Zeitlupentempo drehte sich ein Bleistift in Onkel Jörgs prächtig behaartem Ohr. «Dein Vater sah das, wie gesagt, etwas anders. Aber», Fingernagel schnippst gelben Krümel von Bleistiftspitze, «du musst doch zugeben …» – «Jörg, ich hab damit keine Probleme. Ehrlich nicht!» – «Na, wenigstens einer, der die Sachen realistisch sieht!»

Ich nahm mir vor, auch die Sache mit dem Weiß-Haar-Mann realistisch zu sehen, kehrte ins Wohnzimmer zurück und ließ mich unbeteiligt in den Sessel gegenüber der Couch fallen. Der Weiß-Haar-Mann erzählte gerade eine lange und einschläfernde Folge von Anekdoten über einen Igel, der angeblich bei ihm im Badezimmer überwintert hätte. «Immer wenn ich mich geduscht hab, ist er hibbelig geworden. Ist wie ein Bekloppter vor der Dusche hin- und hergerannt, der Igel.» Beim Wort «Igel» huschte ein versonnener Ausdruck über sein Gesicht. «Wenns regnet, kommen nämlich die ganzen Würmer raus.» Er lachte und rümpfte die Nase. Ich wusste nicht, was los war, Pantomime war los, denn sogleich rief er in begeistertem Grusel aus: «Igelscheiße stinkt unbeschreiblich!»

Ich beobachtete Susanne aus den Augenwinkeln und warf ein: «Wenns regnet, sollte man ‹Igel! Igel!› schreien.» Erst prüft der winterliche Angler die Dicke des Eises mit einem tastenden Fuß, bevor er hinaus auf den See geht, um ein Fangloch aufzubrechen. Keiner zeigte sich von meinem Vorschlag begeistert. «Igel! Igel!», sagte ich leise, und nun war die Zeit gekommen, der Angler lässt die Leine in den eiskalten See hinab, einige gewagte taktische Manöver zu vollführen. Da der Weiß-Haar-Mann meine Frau unentwegt Susi nannte, nannte ich sie nun auch so und erkundigte mich in aller Unschuld bei besagter Susi, wo überhaupt Jens sei, Spannungspause, unser Kleiner.

«Unten», antwortete Susanne. Der Weiß-Haar-Mann kraulte den Verräterkater. Unbehagliches Schweigen. «Igel sind lustig», meinte Susanne.

«Ich könnt mich totlachen!», sagte ich.

Ihr Verehrer begann weiterzufaseln (fortgesetzter Igel-Blödsinn, um sich bei Susanne als Tierfreund einzuschleimen), wobei sein Blick leicht hektisch (Käpten Nemson streicht die Segel) über den Boden glitt, als habe er dort etwas Wichtiges verloren (die Maupilus). Ich beschloss, den Weiß-Haar-Mann auszusitzen. «Und was machst Du?», fragte er, als ihm nach einer Weile dämmerte, dass ich keineswegs vorhatte, das Wohnzimmer allzubald wieder zu verlassen.

«Schreiben.»

«Wie … schreiben?»

«Einen Roman.»

«Toll», sagte er. Und zu Susanne: «Ich wollte auch immer mal einen Roman schreiben. Was alles so im Lager passiert. Ja. Ähm. Vielleicht mach ich das auch mal, wenn ich die Zeit dazu hab.»

«Ja, mach das mal!», empfahl ich ihm von oben herab. Meine uneingeschränkte Verachtung gehört Leuten, die glauben, man bräuchte nur Zeit, um einen Roman zu schreiben. Ich war einkaufen. Hui, was ich da erlebt hab! Da könnt ich glatt nen Roman drüber schreiben. Was heute an der Uni passiert ist. Ich sag dir: ein Roman! Zu jener Zeit notierte ich: Schreiben bedeutet Qual, Leiden, Verlust des wirklichen Lebens, und da man keine Zeit und Kraft hat, aufzupassen, kommen irgendwelche Burschen angelaufen und schnappen einem die Frau weg. «Ich wäre überaus neugierig», feixte ich, «einen packenden, bestsellerverdächtigen Edeka-Roman aus deiner Feder zu lesen. Da wäre ich wirklich sehr sehr neugierig drauf!» Susanne kraulte den Kater im Genick, der immer noch auf dem Schoß des Igelfreunds lag; Oms Schweif zuckte in sichtlichem Unbehagen; dann stand der Kater auf, krallte sich in Jeansstoff (Weiß-Haars Geldschublade erbebte), machte einen Buckel, sprang dumpf auf den Teppich und stolzierte erhobenen Schweifes davon, wobei er es sichtlich genoss, dass ihm alle Welt die gebührende Aufmerksamkeit zollte. «Er mag keine Fremden», sagte ich.

«Er hat sich aber gleich zu Wolfgang auf den Schoß gesetzt.»

«Anfängerglück», ömmelte ich böse.

«Ich weiß nicht, was du hast», sagte Susanne, als wir endlich alleine und wieder in der Lage waren, ein halbwegs vernünftiges Gespräch zu führen. «Er ist doch ein netter Arbeitskollege.»

«Ganz nett sind sie alle. Höß war auch ein ganz Netter …»

«Du hast dich unmöglich benommen.»

«Al Bino ist ein Idiot.»

«Nenn ihn nicht so! Weißt du überhaupt, wieso er so weiße Haare hat?»

Ich schüttelte den Kopf und erfuhr: Der gute Al fährt mit seinem Gabelstapler den ganzen Tag vom Kühlraum ins Lager und wieder zurück. Im Kühlraum herrscht eine Temperatur von 20 Grad minus; im Lager dagegen sind es 18 Grad plus. Es ist so arschkalt im Kühlraum, dass weißer Nebel rauswabert, wenn die Schleusen aufgehen. Wie in einem Hard-Rock-Video. Und unser Freund Al, yeah, yeah, hält es nicht für notwendig, bei der Arbeit eine Kopfbedeckung zu tragen, yeah, yeah, yeah!

«Und nach drei Monaten», schloss Susanne, «waren seine Haare schlohweiß.»

«Da hätte sich Al besser ne Pudelmütze aufgesetzt.»

«Ach, halt doch die Klappe!» Susanne sah aus dem Fenster, ein Laster rumpelte vorbei, das Kaffeegeschirr auf dem Wohnzimmertisch antwortete mit freudigem Klirren, draußen ertönte eine Hupe, meine Frau hob die Hand, winkte jemandem auf der Straße (jemandem, der im LKW vorbeifuhr?) und sagte mit gefährlich leiser Stimme: «Vorhin hat eine Inge angerufen.»

«Und?», fragte ich.

«Nichts und.»

«Ruft sie nochmal an?»

«Hat sie nicht gesagt.» Susanne drehte sich zu mir um und imitierte eine affektierte Frauenstimme: «Ist der Georg da?» So ein Quatsch! Inge redete nicht so! «Schade!», flötete Susanne weiter. «Dann richten Sie ihm bitte aus, Inge hätte angerufen. Danke. Auf Wiederhören.»

Inge war seit der VHS-Lesung nicht mehr ins Thomas-Mann-Seminar gekommen. Verkratzte Handrücken. Susanne belauerte mich aus den Augenwinkeln. «Eine Kommilitonin», gab ich zu (schuldbewusst). «Von der Uni» (naheliegend). «Sie war», (versteckter Vorwurf), «bei meiner Lesung.»

«Ist sie hübsch?»

«Was ist das denn für ne blöde Frage?»

Susanne hob die rechte Augenbraue.

«Ja, sie ist hübsch, aber das hat nichts zu bedeuten. Was gibts denn da so saublöd zu grinsen?»

«Und du regst dich auf, wenn ich mal nen Arbeitskollegen zum Kaffee einlade! Ich bin nur froh, dass der Wolfgang so ein feiner Kerl ist! Stell dir vor, er würd alles in der Firma rumerzählen!»

«Würd was alles in der Firma rumerzählen?»

«Natürlich deinen peinlichen Auftritt als Hausgockel!»

«Habt ihr Streit?»

Jens stand in der Tür.

«Nein», sagte Susanne. «Dein Vater ist nur ein wenig gestresst, weil er sein Studium nicht auf die Reihe kriegt.» Unten pinkelte Mutter. Laut plätschernd. Der Strahl wechselte zweimal die Tonlage, wurde leiser, wurde lauter und pladderte aus. «Das hat gerade noch gefehlt!», stöhnte Susanne.

«Komm mit!» Ich nahm Jens an der Hand. «Ich les dir was vor.»

«Was Lustiges?»

«Selbstverständlich. Heute werden nur lustige Sachen vorgelesen.»

In seinem Zimmer angekommen erklomm Jens das Etagenbett, ließ die Beine baumeln, ich kippte Schmutzwäsche vom Schreibtischstuhl und rückte ihn so an die Kletterleiter des Betts, dass ich die Füße auf die fünfte Sprosse legen – verfluchter Schnappschuss! Obwohl Jens damals sieben Jahre alt war, ähnelt er in meinen Erinnerungen dem Vierjährigen, dessen Bild ich im Geldbeutel habe; ein Beispiel dafür, wie der einmalige Fingerdruck auf einen Auslöser das ganze Erinnerungsvermögen schachmatt setzen kann. In einem Akt unverzeihlicher Willkür reißt die Fotografie einen strenggenommen völlig bedeutungslosen Moment aus der Zeit, und an diesem bis zum Platzen mit scheinbarer Bedeutung aufgeladenen Augenblick staut sich von nun an der ohnehin unzuverlässig strömende Fluss des Erinnerns. Staut sich, bildet Strudel, und das Wasser fließt nicht mehr weiter, um das versandende Flussbett von Schwebteilchen und Algen zu befreien. Susanne, von der ich kein Bild bei mir habe, sehe ich deutlich vor mir, schmerzhaft deutlich, aber das Gespenst des fotografierten Vierjährigen schiebt sich beständig über meinen damals schon siebenjährigen Sohn. Ich erinnere mich an den launischen Zug um seinen Mund, an seine Art, den Ranzen ins Kinderzimmer zu schleudern, wenn er aus der Schule nach Hause kam, an seine Angewohnheit, mit den Augen zu zwinkern, wenn er sich sehr konzentrierte, doch unter beharrlicherem Zugriff verschwimmt die Gestalt meines Sohns, verflüchtigt sich, wird zu einem Nebelfleck inmitten überdeutlicher Kulissen. Ich glaube, ich mochte den Nebelfleck sehr. Besonders wenn er vor Vergnügen auf der Stelle hüpfte, wie es nur Kinder und Irre können … Ich habe alles falsch gemacht.

Ich stecke mir eine Zigarette an. Weiter! Momentan liegt der verhängnisvolle Schnappschuss neben der schreibenden Hand auf dem messingeingefassten Marmor-Rund des Café-Tischs. Selig sitzt Jens auf einem Kinderfahrrad, das sich mit vor Anstrengung verkrümmten Stützrädern vom Schotter erhebt. Er hat Susannes Augen, meinen Mund, meine unkämmbaren, schwarzen Haare, und das Gesicht – ja, so könnte Großvater als Kind ausgesehen haben. Jens mochte Geschichten. Abends saß ich lange an seinem Bett und erzählte von Curbel Gölmop, einem hummelkleinen Mann im schwarzen Hochzeitsanzug. Curbel kann fliegen. Klemmt er sich dabei ein rotes magisches Plastikeimerchen unter den Arm, wird er unsichtbar. Jens. Was fällt mir noch zu Jens ein? Es bekümmerte mich, dass er irgendwo diese Filme sah; bestimmt bei Florian, dessen Eltern beide berufstätig waren. «Ich habe Angst, dass er verroht!», hatte ich Großvater am Telefon erzählt. «Am liebsten würde ich ihn gar nicht aus dem Haus lassen. Ich lese ihm Die Schatzinsel und Der kleine Hobbit vor, und das gefällt ihm gut, sehr gut sogar, aber dann schaut er sich bei Florian oder irgendeinem anderen Videosüchtigen Actionfilme an, die ab 16 Jahren sind!» Derartige Erziehungsangelegenheiten pflegte ich mit Großvater zu besprechen, ehe ich mit Susanne in den Boxring einer Diskussion stieg und meist verflüchtigten sich meine Bedenken noch während des Gesprächs, denn Großvater sah alles gelassen und arbeitete mit allen Tricks. «Nein», antwortete ich ihm eine Spur zu gereizt. «Es hat mir nicht geschadet, als Kind Gespensterhefte gelesen zu haben, aber es reißt mich nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hin, wenn mir mein siebenjähriger Sohn irgendwelchen Unfug über ‹coole Waffen› erzählt! Und um deiner Frage zuvorzukommen: Nein, es hat mir nicht geschadet!»

 

«Liest du mir Quatschlieder vor?», fragte Jens.

«Gerne.» Ich legte die Füße auf die fünfte Sprosse der Leiter und zog schWEINe-essIG aus dem Regal, wo es in Gesellschaft von Walt Disney’s Lustigen Taschenbüchern bestens aufgehoben war. Jens mochte meine Gedichte. Lachte er darüber, stellte sich bei mir ein nicht uninteressantes Gefühl der Zufriedenheit ein, das Buch veröffentlicht zu haben. Winkler würde das nicht verstehen! Er hatte sich kein einziges Mal zu meinem Gedichtband geäußert und war wohl aus Neid, selbst keinen Verlag für seine exzentrischen Texte voller redender Tassen und beleidigter Kaffeekannen gefunden zu haben, zu keiner meiner Lesungen gekommen, aber das hatten wir ja schon. Hatten wir das schon? Ich weiß es nicht, aber Sie können es nachschlagen. Sie haben ohnehin die besseren Karten. Also spielen Sie damit! Zurück zu Winkler! Wer sich nicht für mich interessierte, würde selbstverständlich nie anvertraut bekommen, wie schWEINe-essIG wirklich entstanden war! So einfach war das! Außerdem musste man vorsichtig sein, was man ihm erzählte, denn er klaute alles, was ihm unter die Finger kam. «Darf ich das haben?», fragte er beiläufig, ein reines Ablenkungsmanöver, denn er hatte längst mit seinem Schmetterlingsnetz ausgeholt und die betreffende Formulierung aus der rauchgeschwängerten Luft des Wohnzimmers gefischt. «Das habe ich schon verwendet», sagte ich. – «Und jetzt gehört es mir», sagte Winkler, der außerdem, wie er mir einmal stolz gestand, alle guten Stellen in Büchern, die er las, für spätere Plünderungsarbeiten mit Kringeln markierte. Ich kannte nicht alle seine Texte, aber in den wenigen, die ich kannte, fanden sich beängstigende Echos unserer Gespräche und, was mich weitaus mehr fuchste, meiner Erzählungen. Natürlich wusste ich, dass ich ihm meine Prosa niemals zeigen dürfte (und schon gar nicht die ersten Kapitel des Romans), doch nach einigen Bieren besiegte die Eitelkeit regelmäßig die Vernunft, und ich erwachte am folgenden Morgen mit der Gewissheit, dass nun meine besten Ideen fröhlichen Einzug in Winklers Geschichten hielten. Vielleicht benannte er sogar eine seiner belebten Tassen nach meinem Helden, stahl mir diesen wunderbaren Namen, ohne den mein Roman blass und farblos wäre. Mit dem Namen raubte man meinem Helden sein Wesen, seine Eigenarten, seinen Charakter, raubte ihm alles, was er besaß, und sollte ich eines Tages herausfinden, dass Winkler mir diesen Namen gestohlen oder einen ähnlichen Namen verwendet hätte, der sich, sagen wir mal, nur durch einen einzigen Buchstaben vom Namen meines Helden unterschiede, würde ich unsere Freundschaft so beiläufig beenden, wie man einem unliebsamen Gast in Mollingers Eck das volle Bierglas mit einem Klaps vom Tisch in den Schoß befördert.

«Was hast du, Papa?»

In der Küche klapperte Susanne mit Töpfen und Pfannen.

«Nichts. Ich denke über Winkler nach.»

«Nicht über Mama?»

«Nein.»

«Was denkst du über Winkler nach?»

«Dass er ein Idiot ist.»

«Wieso ist die Amö… wieso ist Winkler ein Idiot?»

«Er klaut Ideen.»

«Wie kann man Ideen klauen?»

«Aus meinen Geschichten.»

«Darf er das denn?», fragte Jens, und auf einmal sehe ich ihn so vor mir, so, wie er damals aussah, sehe ihn hier im Le Maubeuge (Alexandria) deutlich vor mir, stecke die Fotografie in den Geldbeutel, sehe Jens siebenjährig auf dem Etagenbett sitzen. Sein Gesichtsausdruck imitiert die kumpelhaft freundliche Neugierde eines Erwachsenen, auf den Oberschenkeln hat er das mit Star-Wars-Charakteren bedruckte Kopfkissen, nein! Zu spät! Wieder hat der vierjährige Radfahrer den Siebenjährigen aus den Erinnerungen gedrängt. Mit einer Handpantomime bedeute ich dem Kellner, mir noch einen café serré zu bringen, prompt ertönt ein metallisches Schnäuzen, bestimmt geht es ihm gut, denke ich, Susanne wird schon dafür sorgen, dass es ihm an nichts fehlt, bestimmt geht es ihm gut. Ich weiß noch, wie wir zu dritt vor der Weltkarte standen und über den Titicacasee lachten, oder wie entzückt Jens und Susanne waren, als ich ihnen vom Popocatépetl erzählte. Sie glaubten mir nicht, dass es einen Vulkan dieses Namens gibt. «Polarstern, Polykarp, Popanz, Popmusik, da steht er ja, der Popocatépetl! Na, hab ich jetzt recht – oder was?» Ich stecke mir eine Zigarette an, ein schneidend kalter Windstoß treibt mir die Tränen in die Augen, und ich tauche ein in meine Erinnerungen, tauche tief ein, tiefer und treibe davon, rechts neben meinen hochgelegten Füßen das Schlachtfeld auf Jens’ Nachttisch: Kaugummistreifen, Schokokekse, unverständliches Plastikspielzeug aus Überraschungseiern … «Bist du traurig wegen dem Streit?»

Des Streites, korrigierte ich in Gedanken und sagte: «Nein.»

Aufgeregt: «Ich hab mit Florian heute auch Streit gehabt.»

«Ich habe mit Mama nur diskutiert.»

«Ihr habt geschrien.»

«Wir haben laut diskutiert.»

Jens sah mich zweifelnd an.

«Ehrlich», sagte ich. «Wir haben nur diskutiert.»

«Was heißt ‹diskutiert›?»

«Ernst über etwas geredet», sagte ich und schlug das Buch auf, ehe er das Kreuzverhör fortsetzen konnte. Ich weiß nicht, ob ich ein guter Vater war, aber ich weiß, dass ich mir Mühe gegeben habe. Als der scWEINE-essIG ungenießbar zu werden drohte, trug ich Jens noch einige zentrierte tiergedichte vor, die ich in Der Tex(t)aner veröffentlicht hatte. Die arroganten Trottel hatten nie was von mir drucken wollen, mir meine Erzählungen kommentarlos, zerknittert und kaffeefleckig zurückgeschickt, doch kaum war mein lyrisches Magnum Opus in einem angesehenen Verlag erschienen, kam ein aufgeregter Anruf voller verbaler Bücklinge aus München, und nur um zu sehen, wie weit ich gehen konnte, schickte ich ihnen zwanzig Gedichte dieses Kalibers: