Fahlmann

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Am vierten Tag des Marsches verschwand der Kompass in Hennigs Brusttasche, um daraus nicht wieder aufzutauchen, denn inmitten des Flachlandes erhob sich der Tendaguru, trotz seiner geringen Höhe eine deutliche Landmarke; und in den frühen Morgenstunden des fünften Tages erreichten sie das Gebiet der Grabungen. Bahlow bot sich ein Bild der Verwüstung. Zu beiden Seiten des Pfades zogen sich mannstiefe Gräben hin, kreuzten den Weg unter durchhängenden Holzbrücken, bildeten ausgeschachtete Schlaufen und Kreise, die sich allein den Vögeln als Buchstaben einer geheimnisvollen, in den Erdboden gegrabenen Schrift offenbarten. Zog die Karawane aus Lindi vorüber, sahen die Arbeiter aus den Gruben auf und stützten sich auf ihre Hauen und Schaufeln. Hennig begrüßte die Aufseher gutgelaunt und auf Kisuaheli. Bahlow ließ es bei einem unverbindlichen Nicken bewenden, visierte dabei den einen oder anderen Neger an, doch bald wurde sein Nicken vager, unsicherer, und schließlich gab er es ganz auf. «Da staunen Sie, was?» Der Pfad umschlang einen gewaltigen Haufen neben einer etwa fünf Meter tiefen, stufenförmig angelegten Ausschachtung, die Wände schräg, mit Bambusgeflecht verschalt. Am Boden der Grube, einer mit rötlichem Sand gefüllten Wunde, hockte ein gutes Dutzend Arbeiter mit bloßen, schimmernden Oberkörpern. Sie legten das steinerne Rückgrat eines Dinosauriers frei, bewegten Hammer und Meißel zum rhythmischen Gesang des Aufsehers. Zwischen den Wirbeln kamen schmale lange Messer und kleine Handbesen aus bunten Vogelfedern zum Einsatz. «Die herausgewitterten Knochenstücke sind, obwohl durch Sonne und Regen zersplittert und zersprengt, wichtige Wegweiser», dozierte Hennig cooklos. «Wie die Spitze eines Eisberges zeigen sie uns an, wo sich etwas verbirgt. Dort, wo die eigentlichen Saurierschichten die Oberfläche bilden, ist der Pflanzenbewuchs glücklicherweise kümmerlich: Es herrschen armselige, kaum mehr als mannshohe, unregelmäßig gewachsene Bäumchen vor. Selbst das Gras ist dort erheblich niedriger und lässt zwischen seinen Büscheln den bloßen Erdboden sichtbar bleiben – ein Vorteil für die Grabungsarbeiten. Stellen Sie sich nur vor, eine gierige, paläontologisch interessierte Akazie würde mit mächtigem Wurzelwerk die Wirbelsäule einer Schreckens-Echse umklammern, um sie nie mehr herauszugeben!» Wer war dieser Dr. Akazie? Über ihn stand nichts im Dossier. Und wieso rückte er die Fundstücke nicht heraus? Was war das nur für ein Saumensch? Bahlow wollte nachfragen, doch da stieg Hennig jubelnd in eine Grube hinab. Die Hitze, der Schweiß, alles kam Bahlow seltsam vertraut vor, so, als nähme im Kissen, wenn man sich abends ins erschöpfte Bett wirft, der Traum der vorherigen Nacht Gestalt an, flirrende Erinnerungen, daunenweich, er sah jemanden über einen Ast stolpern, der aus dem Boden ragte, wohl einen Betrunkenen, denn den Mann umgab eine grünliche, nach Anis riechende Wolke. Wahrscheinlich eine Szene aus einem Buch, das ich vor Jahren gelesen habe, irgendein belangloses Abenteuergarn, an das ich mich nur dunkel erinnere, unerheblich, das Bild, das vor seinem inneren Auge erschienen war, verschwand in grellem Licht, kitzelnd, störend, ein Schweißtropfen nahm Anlauf und sprang von Bahlows Nasenspitze hinab zu den Arbeitern in die Grube, es sei normal, dass die Verwirrung in Wellen komme, hatte Hennig versichert. Das spreche für leichte Malariaanfälle, die den Kranken, wie er aus eigener Erfahrung wisse, meist in Schüben zermürbten. Und was solle er tun? Sich auf die Chinin-Prophylaxe verlassen und abwarten, auch sein Gesicht würde schon wieder werden. Ich muss übel aussehen. Aus den Gräben und Gruben heraus mustern mich besorgte Augen. Erklimmt da nicht ein alter Bekannter den Pfad? «Wir beschäftigen zurzeit», hub Hennig sogleich zu sprechen an, «vierhundert Arbeiter und schätzen, dass im Jahre 1911 das Gebiet der Grabungen in seiner Nord-Süd-Erstreckung einen vollen Breitengrad umfassen wird. Uns bietet sich die einmalige Gelegenheit, das wundersam vielgestaltige Leben in aller Gründlichkeit zu erforschen, das sich hier am Rande des Kreidemeeres abgespielt haben muss. Da trotteten stumpfsinnig jene Ungeheuer mit einem mehr als zwölf Meter langen und bis zwei Meter dicken Hals, mit Beingestellen, die alles gewohnte Maß übersteigen, da tummelte sich die große und kleine Drachenbrut bis hinab zum winzigsten Eidechslein, da zogen Herden gepanzerter Schreckgestalten daher, mit mächtigen Stacheln auf Rücken und Schwanz, da eilten auch kleine, flinke Saurier menschengleich auf den Hinterbeinen erhoben, da flogen andere durch die Luft, da gab es gefürchtete fleischfressende Räuber und Giganten, die ihnen lebend allein ihrer Größe wegen entgehen mochten und die ihren Riesenleib von Pflanzen und kleineren Seetieren ernährten. Kaum darf das herrlich reiche Tierleben des heutigen Afrika sich an Mannigfaltigkeit mit dem messen, das hier vor uns aufsteigt. Wollen Sie?» Dankend lehnte Bahlow ab. Nach dem Frühstück hatte sich Hennig die Taschen mit Kandiszucker gefüllt und kaute und knirschte seitdem unablässig darauf herum. «Für Sie als Entomologen wäre die Urzeit ein schönes Jagdrevier!» Mit diesem Ausruf schwang sich die Vision, die Hennig auf mächtigen, geschuppten Flügeln davontrug, erneut hinauf in die luftarmen Gefilde, wo er die Nachbarschaft der großen Poeten genießen konnte. «Stellen Sie sich nur einmal die fünfzehn Zentimeter langen Schaben der Farnwälder des Karbons vor! Oder Libellen mit sechsundsechzig Zentimetern Flügelspannweite!» Bahlow verspürte das drängende Verlangen, Hennig zu erschlagen. «Das ist ja ungeheuerlich», bemerkte er gepresst. Hennig füllte den Mund mit Kandis und knirschte und redete und redete und knirschte, während die Karawane dem Tendaguru immer näher kam. Wieso gibt mir Kuider einen Stadtplan von Paris mit? Vor der Abfahrt hatte Bahlow den Plan in der verriegelten Schiffskabine überprüft, aber ihm war darauf nichts Ungewöhnliches aufgefallen; er fand die Place de la République … sein Zeigefinger glitt die Rue du Temple hinab … sein Daumen verharrte auf der Île de la Cité, umspült von den Wellen der Seine …

Damals war ihm zum ersten Mal der Verdacht gekommen, alles könnte ein Scherz sein oder ein fürchterlicher, mit großem Aufwand inszenierter Racheplan, wie er nicht grässlicher in einer von Nägeles kleinen Geschichten zu finden wäre. Bahlow träumte nur noch selten von Nägele; und tat er es, traf ihn beim Erwachen mit voller Wucht die Erkenntnis, dass sein Freund das Zeitliche gesegnet hatte. Natürlich war es schmerzhaft, von einem verstorbenen Freund (oder seinem Vater selig) zu träumen, aber noch schmerzhafter empfand Bahlow das Wissen, dass das eigene, träumende Gehirn der einzige Ort der Welt war, der diesen ehemals lieben Menschen noch Zuflucht bot. Nur in diesen peinigenden Träumen, deren Wiederkehr dunklen Gezeiten folgte, hörte er Nägeles Stimme, nur hier roch er den Qualm des Zigarillos und sah, wie sein Freund beim Reden unentwegt die spitze lange Nase befingerte. Der Traum-Nägele trug ungepflegte Kleidung mit herzförmigen Flickstücken auf den Ellenbogen, verdiente keine müde Mark mit seinen verdrehten Erzählungen, hockte Tag für Tag in seiner Dachstube als General einer Armee leerer Weinflaschen und verblüffte Bahlow mit Erkenntnissen wie: «Der Normalzustand des Menschen ist das In-der-Ecke-Kauern!» Lebte Nägele noch, hätte Bahlow ihm von seinen Ängsten erzählt. «Nägele», hätte er gesagt und mit dem Weinglas einen vagen Bogen beschrieben, «mein einziges Ziel ist es, dem Buch zu entkommen.» Im Geiste rannte er bereits über das staubige Bücherbord, war er doch im benachbarten Band ein gerngesehener Gast der von Herders. Nach dem Tee schlenderte er rauchend über die Wiese, erblickte ihr weißes Kleid zwischen den Bäumen, ein schaukelndes Metronom, höher, Onkel Carl stößt sie an, und höher, Onkel Carl, und höher. «Wie bitte?», fragte Hennig.

«Ich habe nur laut gedacht», sagte Bahlow und konzentrierte sich wieder auf Hennigs Monolog, am Tendaguru, am Tendaguru, Leben und Wirken einer deutschen Forschungs-Expedition zur Ausgrabung vorweltlicher Riesensaurier in Deutsch-Ostafrika, am Tendaguru, Bahlow erwartete die Ankunft im Lager mit zunehmendem Grausen, am Tendaguru, er würde zu erschöpft sein, um sich höflich betragen zu können, höher, Onkel Carl, höher, der grauenhafte Zustand meines Gesichtes, außerdem bin ich unrasiert, nicht mehr höflich, nicht heute, schlafen, nur noch schlafen. Wahrscheinlich träume ich dann wieder von dem verfluchten Nägele, von Paris, von einer aufgegrabenen Welt, in der aufrecht gehende Maulwürfe hausen, und sie auf der Schaukel, und ich, und ich, ich fang dich auf, spring, ich hab solche Angst, Onkel Carl, spring, mein Engel, spring, und weiter, weiter. Fuß vor Fuß. Wassertrinken. Uff! Wir haben es bald geschafft! Bald, bald, und weiter, weiter, doch als sie am späten Nachmittag ihr Ziel erreichten, stellte Bahlow mit bitterer Resignation fest, dass ihr Ziel noch nicht ihr Ziel war: Zwar hatten sie den Tendaguru erreicht, aber der wollte nun bestiegen werden.

Qual: Ein schmaler Fußweg wand sich die Ostflanke des absurd niedrigen, bewaldeten Hügels hinauf zu einem Dörfchen, das die Arbeiter mit ihren Familien bewohnten. Hühner flohen mit bösem Gackern, setzen Sie sich, eine angeleinte Meerkatze zupfte an Bahlows Jackenzipfel, nackte Kinder torkelten um die Kiste, auf der ein poghuli saß und das geschwollene Gesicht in den Händen vergrub. Blinzelte Bahlow zwischen den Fingern hindurch, sah er, wie Hennig sich mit einem hochgewachsenen Neger unterhielt, der europäische Kleidung trug. «Kommen Sie, es sind nur noch wenige Meter!» Hennig zog den Entomologen weiter, der sich wiederholt nach seinem Gepäck erkundigte und den Versicherungen, es sei bei Oberaufseher Boheti bestens aufgehoben, keinen Glauben schenkte. «Ich stelle Sie erst im Pavillon vor, dann zeige ich Ihnen Ihre Hütte», sagte Hennig zum dritten Mal. «Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass diese ehemals dem armen Valdsky gehört hat.»

 

Bahlow seufzte, das mache ihm nicht das Geringste aus. Wieso auch? Da Valdsky ihn mit seinem Sherry getauft hatte, war es nur folgerichtig, dass er, der Getaufte, die Hütte des Täufers bewohnte. Ob es wohl eine Schaukel hinter der Hütte gab? Und einen Garten? Nach dem Tee, als er rauchend über die Wiese, höher, Onkel Carl, höher, ich fange dich auf. Auf einem Vorsprung unter der vollen Höhe des Tendagurus blieb Bahlow ergriffen stehen. In erfrischender Asymmetrie hatten sich hier eine Handvoll grasgedeckter Bambushütten und ein gutes Dutzend Materialzelte am Hang versammelt und spielten Europäerlager; der Gipfel des Hügels trug einen Fez. «Sehr nett!», schnaufte Bahlow und erinnerte sich, dass die Schönheit der Aussicht schon in Kuiders Dossier lobend erwähnt worden war. Soweit das Auge reicht, hatte Hennig im ersten Jahr der Expedition seiner Braut geschrieben, schließt sich Baumkrone an Baumkrone, ein lückenloses Kleid. Was dort an Eingeborenen-Feldern und -Dörfern, an reichem afrikanischem Tierleben verborgen sein mag, das ahnt das Auge trotz aller Fülle nicht (…). Ein einziger grüner Teppich ist über Berg und Tal, Plateau und Tiefebene gebreitet … «Stimmt genau!», flüsterte Bahlow ehrfürchtig. «Ein einziger grüner Teppich ist über Berg und Tal, Plateau und Tiefebene gebreitet!»

Hennig sah den Entomologen an und pflichtete ihm nach einer Weile mit einem verdächtig heftigen Kopfnicken bei.

«Und nach der Vorstellung zeigen Sie mir die Hütte?»

«Natürlich.»

«Ich muss mich einen Augenblick hinlegen.»

«Aber Sie können doch nicht … Stehen Sie auf, Doktor Bahlow!»

Der verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

«Mit Verlaub: Sie können nicht auf dem Boden liegen bleiben!»

Und ob er das konnte! Aber weil Hennig keine Ruhe gab, erhob sich Bahlow murrend, und Hand in Hand nahmen sie die letzten sanft ansteigenden Meter in Angriff, die das Europäerlager vom Gipfel des Tendaguru trennten. «Willkommen in unserem Wohn- und Speisezimmer!», sagte Hennig. Im Pavillon saß ein dicker Mensch, unschwer als Doktor Janensch zu identifizieren, Kustos am Berliner Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Institut und Museum. Janensch schaute hinter einer Zeitung hervor, begrüßte Hennig mit einigen saloppen Bemerkungen und musterte sodann den Entomologen durch eine kleine, randlose Brille. «Guter Gott!» Janenschs Augen weiteten sich in froschähnlichem Erstaunen. «Was haben Sie denn mit Ihrem werten Gesicht angestellt?» Bahlow winkte unwillig ab; der Dicke brach in Gelächter aus, wabbelnde Kinne, wogender Trommelbauch. Auf seiner aufgedunsenen Nase und den Hängebacken entspann sich ein Netzwerk bläulicher Adern und deutete im Zusammenspiel mit den schlaffen, teigigen Gesichtszügen auf einen bekennenden Hedonisten hin, der sein Glas gerne bis zur Neige austrank. Über einem verschwitzten Hemd trug der Expeditionsleiter eine fleckige Jacke mit weitoffenen, gähnenden Brusttaschen; vor ihm auf der umgedrehten Kiste, die den Tisch in dieser afrikanischen Posse spielte, lag ein Schlapphut. Natürlich tragen sie alle Hüte! Bahlow nahm den Tropenhelm ab und hielt sich mit beiden Händen daran fest. Einige Tage vor der Abreise aus Kiel hatte er mit stiller Freude den Chauffeur eines Adler Phaeton beobachtet, der in ohnmächtiger Verzweiflung das Lenkrad seines qualmenden, querstehenden Automobils umklammert hielt, das den Kutschverkehr in einem Gässlein völlig zum Erliegen gebracht hatte. «Na, also!» Janensch obsiegte im Ringkampf mit der Zeitung, faltete sie zusammen (Bahlow glaubte kyrillische Schriftzeichen zu erkennen) und legte sie neben dem Hocker auf den Holzboden. Dann streifte er die Glacéhandschuhe ab und verkündete selbstgefällig, er pflege beim Zeitunglesen stets Handschuhe zu tragen (Hennig kratzte sich unbehaglich im Nacken), da ihm die Berührung des rauen Zeitungspapiers das geistige Pendant einer Gänsehaut beschere. Janensch freute sich über Bahlows Gesichtsausdruck, dann ebbte das glucksende Gelächter ab, ebenso Bahlows Verwirrung. Er lenkte mit dem Tropenhelm wieder geradeaus, und Janensch eröffnete eine halbwegs zivilisierte Konversation mit: «Sie sind also der Entomologe?»

Wer sonst? Bahlow nickte unwirsch.

«Sind Sie schon lange Außenagent der Firma?»

Bahlow schüttelte den Kopf, gab sich Mühe, höflicher zu sein, und fügte in schläfrig gedehnter Sprechweise hinzu: «Mein erster Auftrag.»

«Wer hat Sie eingearbeitet, wenn die Frage erlaubt ist?»

«Niemand. Ich bekam den Auftrag und reiste ab.»

«Über Marseille?»

«Ja.»

«Haben Sie den Aufenthalt in Marseille genossen?»

«Ja.»

«Dort jemanden von der Firma getroffen?»

«Nein. Ich habe dort nur meine Ausrüstung erhalten.»

«Aha», sagte Janensch und wurde ohne Vorbereitung albern. Er riss flaue Witze über die «Chitin-Prophylaxe», die der Entomologe keinesfalls vergessen dürfe, machte wiederholt kryptische Anspielungen auf Federvieh, nötigte Hennig und Bahlow ein Gläschen selbstgebrannten Zuckerrohrschnapses auf, der nach Erbrochenem schmeckte, lachte erneut über die «Chitin-Prophylaxe», amüsierte sich über Hennigs Probleme mit dem Datum und noch mehr über die halbgeflüsterte Enthüllung, sie hätten seit mehreren Wochen an den Sonntagen gearbeitet. «Wenn heute morgen ist und», angestrengtes Nachdenken, «gestern übermorgen», Schenkelklopfen, «deshalb fühle ich mich heute wohl so alt! Übrigens: Schönen Helm haben Sie da.» Der Expeditionsleiter war Bahlow in höchstem Maße unsympathisch. Janensch mit dem dicken Hintern gehörte zur Familie der Ptinidae, er war ein Niptus hololeucus, ein unangenehmer Diebskäfer, dem die goldgelbe Behaarung aus dem kragenlosen Hemd quoll. Bahlow ließ sich einen zweiten Schnaps einschenken. Er verachtete diese Frohnaturen, die jedes Gespräch mit dem Schmetterlingskescher durchstreiften, allzeit auf der Suche nach Witzworten und Doppeldeutigkeiten. Bahlow trat an das Geländer des Pavillons. Wie immer, wenn die Konturen gegen Abend undeutlich und doch scharf zugleich werden, schien die Welt bis zum Bersten mit Bedeutung aufgeladen. Plateaus mit roten Abstürzen überlagerten sich in kraftvoll geschwungenen Halbbögen am Horizont. Bahlow sah über das grüne, westliche Tiefland hin, wo die Sonne bald die fernen Berge mit purpurner Glut überziehen würde, der Auftakt der prächtigen Farbsymphonie eines afrikanischen Sonnenunterganges. Was geschähe wohl, wenn er Janensch so fest in den speckigen, braungebrannten Unterarm bisse, dass ihm dessen dummes Blut heiß in die Augen spritzte? Nein, Nägele war tot, solche Dinge geschahen nur in seinen Geschichten. Tot! Nägele ist tot! Tot, tot, tot! Glücklicherweise waren Salinski, der Lepidopterologe, und Oberstleutnant von Geinitz, der Sicherheitsbeauftragte, nicht anwesend. Ich gebe wohl kaum ein vorteilhaftes Bild ab!

Er lehnte sich an die hüfthohe Bambusverkleidung. Nach einer Weile hatte es sogar Janensch begriffen, ließ Bahlow von nun an in Frieden und begann mit dem bestürzend servilen Hennig ein Streitgespräch über Photoapparate, dessen Ursprung offensichtlich in den kreidezeitlichen Anfängen der Expedition zu suchen war. Bahlow schenkte sich noch einen Schnaps ein. Aus dem Dossier wusste er, dass Janensch mit Apparaten photographierte, die der Expedition von der Firma Voigtländer frei zur Verfügung gestellt worden waren; Hennig dagegen schoss seine Bilder mit einer Anschütz-Kamera («Und zwar mit Film!»). Bahlow ließ die Repetieruhr anschlagen, sechs Uhr, Blutfluss, der Himmel begann sich zu verfärben.

«Ich sammele auch Insekten», wiederholte Janensch.

«Ach», sagte Bahlow, suchte nach Worten, fand keine. «Sie müssen mich entschuldigen. Haben Sie bitte Nachsicht mit mir! Ich bin sehr müde.»

«Verzeihen Sie unsere Unhöflichkeit. Ich zeige Ihnen Ihre Hütte.» Hennig hielt ihm den Arm hin, damit er sich darauf stützen konnte, doch Bahlow wollte alleine gehen.

«Morgen bekommen Sie einen eigenen Boy.»

«Einen Boy?» Bahlow sah Janensch verständnislos an.

«Jeder hat hier einen Boy. Wir sind die bwana mkubas.»

Bahlow quittierte die Behauptung mit einem zögerlichen Nicken. Wie gerne hätte er sich in einem weichen Bett ausgestreckt, einen munter tickenden Wecker auf dem Nachttisch, die Pantoffeln auf dem flauschigen Vorleger, die Stiefel vor der Zimmertür, damit sie ein geisterhaftes Hotelpersonal nachts blitzblank wienerte – halt! Eine Angelegenheit musste noch geklärt werden, ehe er sich in Valdskys Bett legte. «Wie verhält es sich hier mit der Post?»

«So!» Hennig zog ein Bündel Briefe aus der Jackentasche. «Die Post kommt mit dem Küstendampfer nach Dar es Salaam. Üblicherweise holt sie ein Bote ab, aber da ich in Lindi war, um Sie abzuholen …»

«Wie lange braucht ein Brief von, sagen wir, Kiel nach Lindi?» Nicht ohne Stolz vermerkte Bahlow, dass er trotz Müdigkeit noch zu detektivischem Vorgehen in der Lage war. Nick Carter wäre stolz auf ihn! Sie saßen sich an einem kleinen runden Tisch gegenüber. Aber weshalb sah Nick Carter auf einmal aus wie ein alter Mann? Bahlow gab dem Kellner ein diskretes Zeichen. Ein bis zwei Monate. Hennig, der seit der Ankunft im Lager kein einziges Mal James Cook erwähnt hatte, reichte Janensch einige der Briefe, die dieser, ohne sie zu betrachten, in der Innentasche der Jacke versenkte, eine Geste, die Bahlow von seinem Vater kannte. Nach dem Frühstück hatte dieser an einer Hälfte eines aufgeschnittenen Brötchens das Messer gesäubert, damit die Post geöffnet und sie sich in die Jacke gesteckt, ohne zuvor in die Umschläge hineingesehen zu haben. Dann hatte er eine Tasse Kaffee im Stehen geleert (wobei er bei jedem Schluck den Kopf in den Nacken legte wie ein trinkendes Huhn) und mit fliegenden Rockschößen das Speisezimmer verlassen. Vater war auf der Straße gestorben. Als man ihn zu Hause entkleidete, sahen selbst die Dienstboten, dass im Augenblick des Todes eine umfängliche Darmentleerung stattgefunden hatte, ein Umstand, der schlagartig die wenigen schönen Kindheitserinnerungen einschwärzte, die Bahlow verblieben waren. Jahre später beging er den Fehler, Nägele von dieser Angelegenheit zu erzählen (in einem Anfall weinseligen Selbstmitleids auf dem Dachboden des Schlaftraktes), und bald danach wusste es das ganze Internat.

«Bin mit meiner Anschütz-Kamera vollauf zufrieden!», sagte Hennig. «Erst glaubte … «

Bahlow unterbrach ihn ungeduldig: «Wie lange braucht nun der Brief?»

Hennig wirkte verlegen. «Ein bis zwei Monate.»

Oh, gut. Da bleibt noch Zeit. Vielleicht hat man sie noch nicht gefunden. Oder gehört das zum Plan? Von Herder verfügt durchaus über die Mittel, dafür Sorge zu tragen, dass Afrika mein Gefängnis wird – und hier stehe ich nun und plaudere mit meinen Wärtern. Janensch zog die Handschuhe aus und kratzte sich zwischen den Fingern, wo die Haut ekelhaft gerötet war. «Sie erwarten Post?», fragte er mit zweideutigem Grinsen. Bahlow senkte den Blick. «Na, da ist doch ganz bestimmt eine Dame im Spiel!» Als Bahlow sich wieder konzentrieren konnte, beklagte Janensch mit pathetischen Gebärden das Fehlen holder Weiblichkeit, wobei sein Gesicht bei «Weiblichkeit» einen faunischen Ausdruck annahm. «Es ist unverantwortlich, Weiber», heftiges Lippenlecken, «nach Afrika mitzunehmen. Ich weiß nicht, ob Sie vom traurigen Schicksal gehört, äh, ich meine, gelesen haben, das Krapfs Gattin ereilt hat. Er nahm sie mit, als er von Massaua einen Vorstoß in die Shoho-Wildnis machte, und die Strapazen waren so groß, dass sie eine Frühgeburt bekam. Das Kind starb binnen einer Stunde, und nach drei Tagen befahl Krapf den Weitermarsch. Ein Jahr später, ich denke, das war 1844 in Mombasa, raffte die Ärmste ein Fieber dahin. Natürlich war sie damals wieder schwanger. Sie sehen, wie unverantwortlich es ist, eine Frau mitzunehmen. Oder ein», Janensch kniff die Augen zusammen und sah Bahlow streng an, «Mädchen. Nehmen Sie regelmäßig Ihre Tabletten? Raus mit der Sprache, Käferologe! Sie erwarten Post von einer Dame?»

«Ja», schrie Bahlow. «Meine Braut will mir schreiben.»

Janensch brach in schallendes Gelächter aus.

«Um noch einmal auf die Post zurückzukommen», begann Bahlow zornig und verlor den Faden. Er glaubte sich daran zu erinnern, vor nicht allzu langer Zeit selbst einen Briefumschlag in die Innentasche der Jacke gesteckt zu haben. Aber weshalb sollte er das getan haben? Bahlows Hand tastete durch die Schwärze, fand den Faden und packte ihn. «Ich kann also davon ausgehen», heftige Lenkbewegungen vollführend wandte er sich an Hennig, «dass ein Brief, der, nehmen wir einmal an, heute in Kiel abgeschickt wird, etwa in ein oder zwei Monaten hier am Tendaguru ankommt?»

 

«In der Regel verhält es sich ganz so, wie Sie meinen», sagte Hennig, «aber zur Zeit des Süd-Monsuns kann es zu schweren Verspätungen kommen.»

Ihr Verbündeter ist der Süd-Monsun. Bahlow baute sich schwankend vor Janenschs Kiste auf. «Und wann weht dieser Süd-Monsun?» Kuiders Bemerkung gewann überraschend Sinn.

«Man höre und staune!», rief Janensch. «Auf einmal wird er wieder munter, unser müder Krieger! Vive la femme!»

Ohne den Scherzreden Beachtung zu schenken, antwortete Hennig errötend: «Von Juli bis Oktober.» Rascher Überschlag, Juli, August, September, Oktober, sehr gut, mit etwas Glück bleiben mir vier Monate, starker Seegang, der Boden des Pavillons neigte sich, glitt in die Schräge wie ein Schiffsdeck, versetzte Bahlow einen heftigen Schwinger. Blutet er? Ich glaube nicht. Kommen Sie! Hennig half dem Entomologen auf. Janensch zog die Glacéhandschuhe an und fragte in berechnender Beiläufigkeit: «Wen, sagten Sie, haben Sie in Marseille getroffen?»

Eiskalt: «Ich habe niemanden getroffen.»

«Ach so, ich dachte, Sie hätten vorhin einen Namen genannt.»

«Nein, habe ich nicht. Um Himmels Willen! Hören Sie endlich auf, mich zu quälen!» Blinzelnde Vogelpunkte über der rotglühenden Ebene, Gesang umwehte den Pavillon: Im Dorf der Arbeiter wurde gefeiert. Hennig zupfte an Bahlows Ärmel wie eine lästige Meerkatze, Janensch nahm die Brille ab, und sein Gesicht zog sich in die Länge, als er mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand die Tränensäcke massierte. «Sie müssen mich entschuldigen», stammelte Bahlow. «Ich kann kaum mehr klar denken.» Und endlich führte man ihn zu seiner Unterkunft, einer Bambushütte mit lehmverstärkten Wänden und strohgedecktem Dach. Nachdem er eine gute Stunde geruht hatte, machte er sich mit kühlem Kopf daran, das Gepäck zu verstauen. An der Wand hing ein geschmackloses Bild, ein vorwurfsvolles Echo Valdskys: Der Heiland lässt schmale, weibische Hände segnend über den Köpfen von glücklichen Schafen schweben. Ansonsten deutete bis auf eine Sicherheitsnadel, die Bahlow unter dem Feldbett fand, nichts darauf hin, dass die fensterlose Hütte jemals bewohnt gewesen war. Er steckte die Sicherheitsnadel in die Hosentasche. Feldbett, Tisch, dreibeiniger Hocker, aber es gab wenigstens Regale. Diese füllten sich rasch mit entomologischen Gerätschaften, die Kleider blieben in Seesack und Reisetasche, die Bücher wanderten unsortiert in ein Regal über dem Kopfende des Feldbettes. Einige Bände von Charles Oberthürs Etudes d’Entomologie waren darunter, die bahnbrechenden Arbeiten von John Head, Jakow Andrejitsch und Hans Pähp, Der Große Bobert natürlich und die üblichen Bestimmungsbücher, dicke Folianten mit Seidenpapier zwischen den Farbseiten. Bahlow, der es schon als Heranwachsender vorgezogen hatte, sich auf dem Dachboden des Internats zu verbergen, anstatt mit den Mitschülern im Aufenthaltsraum zu sitzen, genoss es, zum ersten Mal seit Tagen mit seinen Gedanken alleine sein zu dürfen.

Aber als er im Liegestuhl vor der Hütte im siebten Band von Jean-Henri Fabres Souvenirs entomologiques blätterte, um das letzte Licht des Tages auszunutzen, gesellte sich Salinski zu ihm, ein korpulenter Herr mit gerötetem, feuchtem Gesicht, platter Nase und dichtem, rotem Vollbart. Er war arglos und freundlich wie ein Marienkäfer. Sie plauderten über Fabre und das kleine Tischlein in Sérignan, an dem dieser seine Werke verfasst hatte, Salinski malte mit dem Spazierstock gedankenverlorene Krakel in den Sand. Der Dschungel, in dessen schwarz-grünem Meer der Tendaguru trieb, zirpte und klopfte und bereitete sich auf eine wilde Nacht vor. Plötzlich lachte der Pavillon auf dem Gipfel mit Janenschs Stimme und prustete etwas, das entfernt nach «baba kufa, mama kufa» klang, nein, das kann nicht sein, Bahlow nickte aufmunternd: «Fahren Sie bitte fort!»

August Salinski arbeitete, wie er aus dem Dossier wusste, für Adalbert Seitz, einen Mediziner und Lepidopterologen, der von 1893 bis 1908 Direktor des Frankfurter Zoos gewesen war und seit 1909 als Privatgelehrter in Darmstadt lebte, um sich der Herausgabe des mehrbändigen Die Groß-Schmetterlinge der Erde zu widmen. Salinski kannte bestimmt diese wunderbaren Spiele der Jugend. Ein Nachtfalter mit einer Nähnadel durch den Leib, der durch die Kammer flog. Oder man betäubte eine Fliege mit einem sanften Schlag der Klatsche, umwickelte ihren leblosen Körper mit einem Bindfaden und ließ sie steigen, wenn sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war, einen kleinen, pelzigen Drachen. «Und Sie arbeiten für Staudinger & Bang-Haas?», fragte der Marienkäfer. «Sie sind Außenagent der Firma?»

«Außenagent», bestätigte Bahlow. Alle sprachen dieses Wort aus, als hätte es etwas anderes zu bedeuten, als beinhaltete es wie eine verschlossene Schatulle etwas Seltsames, etwas Geheimnisvolles. Nun, er würde mitspielen! «Ich arbeite auch auf eigene Faust. So suche ich Käfer, um sie nach mir zu benennen», improvisierte er ins Blaue hinein. «Stellen Sie sich das vor! Ein afrikanischer Käfer, der meinen Namen trägt!» Bahlow sah seinen Namen durch das hohe Gras huschen und mit mächtigen Mandibeln eine fette Made packen. Der gefährliche Bahlow! Achtet auf den gefährlichen Bahlow, Mädchen, wenn ihr im Dschungel spazieren geht! Seine Zähne sind spitz, seine Zunge ist schnell!

«Welcher Käfer dürfte Ihren Namen tragen?», fragte Salinski.

«Nun … vielleicht am ehesten ein Käferpendant zum Attacus atlas Linné …»

«Zum was?»

«Zum Atlasspinner», erklärte Bahlow, ohne Verdacht zu schöpfen.

Im Lager der Arbeiter brüllte jemand wie ein Berserker.

«Von Geinitz ist zurück», sagte Salinski.

Das Geschrei hielt eine Weile an, Kisuaheli, Bahlow bewegte sich unbehaglich auf dem Liegestuhl, hörte wieder den abknickenden Aufschrei des Heizers, den satten Aufschlag des Körpers im glitzernden Wasser des Suezkanals, das der Dampfer durchschnitt wie das heimkehrende Volk der Israeliten. «Schlafen Sie wohl!» Nachdem sich der Lepidopterologe derart verabschiedet hatte, erhob Bahlow sich und sah, was jener neben seinem Liegestuhl in den Sand gemalt hatte: einen Kreis, den ein X in gleiche Viertel schnitt; ein dummer Zufall. In der Welt gibt es Zufälle, überlegte Bahlow, denn es gibt keinen Gott. Aber in einem Buch ist der Zufall ausgeschlossen: Hier hat alles Bedeutung. Er weigerte sich, weitere Schlussfolgerungen aus dieser Überlegung zu ziehen und betrat sein neues Zuhause. Die Repetieruhr gab acht Schläge von sich, metallisch hallend, als befände sich eine winzige Stadt in dem flachen Gehäuse, ein kleines mittelalterliches Städtchen, auf dessen bevölkerten Marktplatz sich das Miniaturläuten der Turmuhr senkte.

Bahlow entzündete die Petroleumlampe, verriegelte die Tür, lud sicherheitshalber die Luger, umwickelte sie mit dem öligen Zeitungspapier und schob das Bündel unter die Bettdecke. Den idiotischen Brief, den ihm der Pockennarbige in Lindi gegeben hatte, würde er erst morgen von Geinitz aushändigen. Sie müssen ein offenes Pentagramm gehen. Sie beginnen am linken Fuß des Pentagramms und marschieren Richtung Kopf. Wenn Sie vom linken Arm zum rechten emporstoßen, sind Sie da. Ich gebe Ihnen diese Information nur, weil ich erwarte, dass Sie sich in gleichem Maße erkenntlich zeigen werden. Sehen Sie sich satt, und reisen Sie unverzüglich ab! Oder schlagen Sie sich auf unsere Seite! Der Brief war mit einem schlichten B. unterzeichnet. Unverständlich. Völlig unverständlich. Vielleicht ein Ulk? Ja, das war gut möglich. Bahlow würde sich auch einen Ulk erlauben, würde diesem von Geinitz einfach sagen, er habe den Brief bereits geöffnet erhalten. So einfach war das!