Der Engel mit den traurigen Augen

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Aus der Reihe: Heidelbergkrimi #2
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2 – Aleppo, 29. September 2012

Plötzlich sahen sie die Feuerwalze durch den Gang direkt auf sich zukommen. Überall war Rauch. Menschen rannten in Todesangst an ihnen vorbei. Prasselnd verschlang das Feuer Stand um Stand.

„Wir müssen weg, sofort!“, schrie Radi al-Sibai. Aber Faruk, der Vater, zögerte.

„Nein, wir müssen unser Hab und Gut retten!“

Der Sohn ergriff ihn am Arm und versuchte, ihn fortzuzerren. Aber der Alte war trotz seiner siebzig Jahre stark genug, sich loszureißen. Den Sohn packte Todesangst.

„Komm, sonst ist es zu spät!“, beschwor er den Vater.

„Flieh du, ich muss das Erbe meiner Väter und Vatersväter zu bewahren suchen.“

„Hier ist nichts mehr zu bewahren. Hier wütet der Tod.

Komm!“

„Flieh! Einer muss für die Familie sorgen. Wenn ich fliehe, verbrennt hier meine Seele. Ich muss bleiben.“

„Vater, bitte, es hat keinen Sinn, komm!“

„Flieh, ich befehle es dir als Vater!“

Er sah in das zu allem entschlossene Gesicht des Vaters und wusste, dass er ihn nicht mehr umstimmen konnte. Die Feuerwalze kam immer näher.

„Vater, ich schwöre bei Allah und dem Propheten Mohammed, ich werde dich rächen.“

Er warf einen letzten Blick auf den Vater und den Stand, der auch einmal seine Existenz hätte sein sollen. Dann stürzte er sich in den Strom der panisch Fliehenden. Es war die Hölle. Der Gang war zu schmal, um alle Fliehenden aufnehmen zu können. Manche wurden zur Seite in die Stände hineingedrückt. Andere hatten versucht, mindestens einen Teil ihrer Habseligkeiten zu retten, und merkten erst jetzt, wie hinderlich das war. Sie ließen fallen, was sie trugen, und die Nachfolgenden stolperten über Teppiche, Kleidungsstücke, zersplittertes Porzellan, kamen zu Fall, wurden überrannt und hatten keine Chance mehr, wieder auf die Beine zu kommen. Kinder schrien verzweifelt nach ihren Müttern, die sie im Chaos verloren hatten. Aber niemand hörte sie. Viele wurden umgerannt und zertreten. Da sah er vor sich einen alten Mann, der versuchte, in einem kleinen Leiterwagen einige Flaschen erlesener Öle, die alles waren, was er besaß, vor den Flammen zu retten. Dadurch staute sich der Strom der Fliehenden. Wütend stieß ein junger Mann den Wagen mit einem heftigen Fußtritt zur Seite. Er fiel um und die Flaschen zerschlugen. Radi al-Sibai konnte noch das Entsetzen im Gesicht des Greises sehen. Dann wurde er im Strom weitergerissen, strauchelte mehrmals, konnte sich aber auf den Beinen halten. Endlich war das Antiochia-Tor erreicht und er war dem Inferno entkommen.

Der Strom der Fliehenden ergoss sich durch das Tor ins Freie. Plötzlich fielen Schüsse. Niemand wusste, woher sie kamen. Menschen brachen blutüberströmt zusammen. In äußerster Panik stob die Menge auseinander und die Fliehenden versuchten, in kleinen Gassen Schutz zu finden. Auch Radi alSibai rannte um sein Leben. Da spürte er einen glühenden, stechenden Schmerz in der rechten Schulter, sah Blut aus seinem Körper quellen, taumelte, versuchte, sich auf den Beinen zu halten, wurde von anderen gestoßen, und dann wurde es Nacht um ihn.

Es waren Stunden vergangen, als er langsam wieder zu sich kam und die Augen öffnete. Er fand sich in einem langen Gang auf einer dünnen Matratze am Boden liegend unter einer schmutzigen Wolldecke und spürte in seiner rechten Schulter einen bohrenden Schmerz. Er versuchte, den rechten Arm zu bewegen, ließ aber sofort davon ab, weil der Schmerz unerträglich war. Er sah sich um. Wo war er? Was war geschehen?

Allmählich kam die Erinnerung zurück, an das Feuer und an den Vater, der nicht fliehen wollte und der jetzt tot war. Er begriff, er war in einem Krankenhaus. In zwei langen Reihen lagen auf dem Gang viele von denen, die beim Inferno im Basar und dem nachfolgenden Beschuss durch Scharfschützen des Regimes verletzt worden waren, aber immerhin noch lebten. Reguläre Krankenhausbetten gab es schon lange keine mehr. Oft liefen Männer und Frauen hektisch durch den Gang. Sie taten hier wohl als Krankenpfleger Dienst. Aber sie kümmerten sich nicht um die Bitten der Patienten, denn es gab viel mehr Arbeit, als sie bewältigen konnten. Immer wieder wurden weitere Verletzte auf Bahren durch den Gang getragen, stöhnend, schreiend, von denen wohl viele dieses Haus nicht mehr lebend verlassen würden.

Es fröstelte ihn und er hatte furchtbaren Durst. Aber er musste froh sein, zu denen zu gehören, die schon wenigstens notdürftig versorgt waren. Manche schrien noch immer vergeblich vor Schmerzen um Hilfe. Und hin und wieder wurden welche aus den Reihen herausgeholt und weggetragen, wenn ein Pfleger bemerkt hatte, dass sie nicht mehr am Leben waren. Da war dieser fürchterliche Gestank von Schweiß, von Blut, Erbrochenem und Urin. Der nahm ihm die Luft zum Atmen. So dämmerte er erneut in einen leichten Schlaf hinüber, der aber

keine Erholung brachte, weil sich ihm sofort grauenhafte Traumbilder aufdrängten.

Als er wieder erwachte, sah er, dass neben ihm ein Mann lag, den er bisher noch nicht wahrgenommen hatte. Er musste ungefähr in seinem Alter sein, Mitte dreißig.

„Bruder, wer bist du?“, begann er ein Gespräch.

„Mohamed Domani.“

„Ich bin Radi al-Sibai. Was ist dir geschehen?“

„Meine Beine. Diese Assadschweine! Die Kugel eines Scharfschützen hat beide zerschlagen.“

„Warst du auch im Basar?“

„Ich habe dort Gewürze verkauft“, sagte Mohamed Domani tonlos. Das Sprechen schien ihn anzustrengen. „Meine beiden Söhne haben mir geholfen. Dann kam das Feuer. Im Chaos der Flucht habe ich sie verloren.“ Er schwieg. Nach einer Weile setzte er fort: „Wahrscheinlich sind sie tot.“

„Mein Vater ist verbrannt.“

Für lange Minuten sagten sie kein Wort. Dann begann Radi al-Sibai wieder: „Wir müssen unsere Toten rächen.“

„Natürlich!“, setzte Mohamed Domani mit Emphase fort.

„Wenn ich wieder gesund werde, gehe ich zu unseren kämpfenden Brüdern.“

Aber Radi al-Sibai konnte seinen Enthusiasmus nicht teilen:

„Das wird nichts nützen. Die Assadleute haben bessere Waffen.“

„Wenn schon!“, redete sich Mohamed Domani jetzt in Begeisterung. „Wir werden sie dennoch vernichten. Und wenn wir fallen, sterben wir als Märtyrer und gelangen direkt ins Paradies. Hast du etwa Angst zu kämpfen?“

„Nein, aber ich will nicht nur kämpfen, ich will auch siegen.“

„Alle wollen siegen.“

„Aber um zu siegen, brauchen wir die richtigen Waffen.“

„Und woher bekommen wir die?“

„Hör zu! Ich habe vier Jahre in Deutschland studiert, da …“

„Bleib mir mit den westlichen Hurensöhnen vom Hals, die haben uns eh verraten!“, unterbrach ihn Mohamed Domani in tiefer Verachtung.

„Ich hasse sie auch, weil sie den Propheten beleidigen. Aber wir können die benutzen und von denen bekommen, was wir brauchen, um zu siegen.“

„Und das wäre?“

„Ich habe in Deutschland Informatik studiert, …“

„Was ist das?“

„Die Technik, Computer zu bauen, Maschinen, die alles machen, was du willst.“

„Willst du Assad mit Computern besiegen?“ lachte Mohamed Domani den anderen aus.

„Ja, genau.“

„Das ist doch lächerlich!“

„Nein, lass es dir erklären: In einer organisierten Armee wie der von Assad läuft vieles über Computer, vor allem die gesamte Kommunikation: Befehle, Auswahl der Angriffsziele, Erfassung der Standorte des Feindes und so weiter. Alle ihre Computer sind miteinander in einem Netz verbunden. Wenn es uns gelingt, mit unseren Computern in dieses Netz einzudringen, können wir sie völlig verwirren. Wenn in dem Moment unsere Brüder an den Waffen massiv losschlagen, können wir Assad besiegen.“

Mohamed Domani schwieg eine Weile, dann meinte er eher skeptisch: „Ich verstehe das zwar nicht, aber es klingt gut. Du kannst solche Computer bauen?“

„Nein, dazu ist ein Mensch alleine nicht in der Lage. Aber ich habe Kontakte nach Deutschland zu einer Firma, die uns sowas bauen kann.“

„Dann sollen die das machen.“

„So einfach ist das nicht. Wir brauchen dazu Geld, viel Geld.“

„Und woher soll das kommen?“

„Vielleicht von unseren Brüdern in Saudi-Arabien? Auch die hassen Assad. Hör zu: Um ein solches Projekt zu verwirklichen, brauchen wir eine Gruppe von Kämpfern, die das organisieren und schweigen können. Willst du mir helfen?“

„Wenn wir Assad dadurch besiegen können, will ich es.“

3 – Dezember 2012

Konstantin Lerner saß in der allerletzten Reihe des Hörsaals II im Psychologischen Seminar der Uni Heidelberg und lauschte der Vorlesung von Professor Dr. Detlev Hager zu den biologischen Grundlagen der menschlichen Persönlichkeit. Es war nicht leicht, seinen Ausführungen zu folgen, denn der Herr Professor vermittelte nicht den Eindruck, dass ihn sein Thema und auch die Studierenden sonderlich interessierten. Er las eher monoton, blieb sehr im Abstrakten und gab sich keine Mühe, die Darstellungen durch Beispiele aus der Praxis lebendig werden zu lassen.

In der ersten halben Stunde versuchte Konstantin noch, Professor Hagers Vortrag in Stichpunkten mitzuschreiben. Dann aber wurden die Aufzeichnungen immer lückenhafter, bis seine Gedanken völlig abschweiften und er vom Inhalt der Vorlesung gar nichts mehr mitbekam.

Er war wieder bei der Frage, die ihn schon seit geraumer Zeit mehr und mehr beschäftigte: Wer bin ich eigentlich?

Vor einigen Tagen war ihm ganz plötzlich klargeworden, dass er sein Studienfach eigentlich nur gewählt hatte, um eine Antwort auf diese Frage zu bekommen. Aber in seinem Fall war klar, dass das nicht möglich war.

 

Wenn er sich an seine Kindheit erinnerte, so kamen widersprüchliche Gefühle in ihm hoch. Er war in Weinheim* aufgewachsen, einer kleinen Stadt, 18 km nördlich von Heidelberg an der Bergstraße* gelegen, die als besondere Sehenswürdigkeiten gleich ein Schloss und zwei Burgen zu bieten hat. Sein Vater war ein Augenarzt mit gutgehender Praxis, also wohlhabend. Sie wohnten am Berghang in einer hundert Jahre alten Villa mit einem großen Garten. Seine Eltern, vor allem die Mutter, waren immer da, wenn er sie brauchte. Und schon nach seinem ersten Jahr im Kindergarten durfte er oft seine Spielkameraden einla-den, hatten sie doch diesen wunderbaren großen, teils verwilderten Garten, der zu Abenteuerspielen aller Art einlud.

Aber, so erinnerte er sich, schon seit sehr früher Zeit hatte er das Gefühl gehabt, irgendetwas stimme nicht mit ihm, sei falsch an all dem Schönen, was er hatte. Oft spürte er scheinbar grundlose Angst. Wenn er nur kurz allein war, glaubte er schnell, er würde jetzt für immer allein bleiben müssen. Wenn er über eine Brücke ging, stellte er sich vor, sie würde gleich unter ihm einstürzen, und rannte dann so schnell wie möglich hinüber. Wenn er selbst oder jemand, der ihm nahe stand, krank wurde, fürchtete er, er würde niemals wieder gesund werden, sondern an der Krankheit sterben. Wenn dann seine Eltern versuchten, ihn zu beruhigen, und ihm erklärten, wie unbegründet seine Ängste doch wären, so half das nichts. Im Gegenteil. Er wurde tieftraurig, und manchmal wurde er auch einfach nur wütend und zerschlug Spielsachen, hin und wieder sogar Mutters edles Geschirr.

Auch konnte er schon sehr früh beobachten, wie seine Eltern oft leise miteinander sprachen, wenn er in dieser Weise reagierte. Er war sich dann sicher, dass sie über ihn sprachen und dass es etwas Schlimmes war, was sie da zu bereden hatten.

Besonders intensiv war ihm in Erinnerung, wie sein Opa starb, kurz nach seinem zwölften Geburtstag. Er hatte ihn sehr lieb gehabt und war daher unendlich traurig, ja geradezu verstört. Um ihn zu trösten, hatte man ihm erzählt, dass der Opa jetzt beim lieben Gott im Himmel wäre und dass es ihm dort gutginge und man deshalb nicht traurig sein müsse. Dann hatte er einige Tage nach der Beerdigung seinen Vater ganz plötzlich gefragt: „Man kommt in den Himmel, wenn man gestorben ist. Aber woher kommt man dann, wenn man geboren wird?“

Er bemerkte, dass sein Vater über diese Frage furchtbar erschrak und ihr auswich. Zum ersten Mal hatte er sich hier mit einer Frage allein gelassen gefühlt. Und am Abend des gleichen Tages bekam er dann auch noch zufällig einen Gesprächsfetzen mit, als sein Vater zur Mutter sagte: „Ich glaube, wir werden es ihm bald sagen müssen.“

Was werden sie mir bald sagen müssen, hatte er gedacht, aber sich nicht mehr getraut weiterzufragen.

So ging es weiter bis zu seinem sechzehnten Geburtstag. Da nahm ihn am Nachmittag nach dem familiären Kaffeetrinken sein Vater beiseite und sagte: „Konstantin, du bist jetzt sechzehn Jahre alt und es wird Zeit, dass du etwas Wichtiges über dich erfährst. Deine Mutter und ich, wir haben dich aufgezogen als unser Kind, aber Mama hat dich nicht geboren. Wir haben dich adoptiert, als du acht Wochen alt warst.“

Es hatte ihn getroffen wie ein Hammerschlag. Nach langem Schweigen hatte er gefragt: „Und wer sind meine richtigen Eltern?“

„Deine richtigen Eltern, das sind wir, Mama und ich. Du fragst nach deinen leiblichen Eltern. Und da gebe ich dir mein väterliches Ehrenwort: Wer das ist, das weiß ich selber nicht. Als wir dich damals adoptiert haben, hat man uns gesagt: Es sei für dich und deine leiblichen Eltern besser, wenn du das nie erfährst. Mama und ich haben lange überlegt, ob wir uns darauf einlassen sollten. Aber es ist nicht leicht hierzulande, ein Kind zu adoptieren. Wir hatten schon so viele Jahre gewartet. Und deshalb haben wir uns darauf eingelassen. Vielleicht hätten wir es nicht tun sollen. Aber jetzt ist es eben so.“

Durch diese Nachricht wurde Konstantin völlig aus der Bahn geworfen. Er sprach kaum noch ein Wort mit seinen Eltern. Vorher ein guter Schüler, brach er nun in allen Fächern ein. Zeitweise rutschte er in die Rauschgiftszene ab, fing sich aber nach einer Entziehungskur wieder. Doch das Verhältnis zu seinen Eltern blieb unwiderruflich zerstört.

Und nun saß er im Hörsaal II des Psychologischen Seminars und die Vorlesung über die biologischen Grundlagen der menschlichen Persönlichkeit neigte sich ihrem Ende zu. Da fasste er einen Entschluss. Er musste endlich aufhören nur zu grübeln. Damit konnte er nicht weiterkommen. Er musste handeln. Auch wenn es dreiundzwanzig Jahre her war, musste es doch noch irgendwo Unterlagen geben, aus denen hervorging, wer seine richtigen Eltern waren.

Also entwarf er einen Plan. Er wusste, dass seine Adoption damals über das Jugendamt in Weinheim gelaufen war. Da wollte er zuerst hingehen. Wenn er dort nicht weiterkäme, könnte er einen Privatdetektiv beauftragen, das Geheimnis seiner Geburt zu lüften. Da hörte er das Klopfen seiner Kommilitonen. Die Vorlesung war zu Ende.

Jetzt kein Zögern mehr, dachte er. Weitere Lehrveranstaltungen an diesem Tag mussten eben ausfallen. Er warf sich seine Umhängetasche über die Schulter und verließ das altertümliche, lange als Schule genutzte Gebäude. Zwischen den großen, kahlen Bäumen des Innenhofs hindurch gelangte er auf die Brunnengasse, wo er nach wenigen Metern in die Hauptstraße einbog. Ohne einen Blick für die weihnachtlich dekorierten Schaufenster ging er weiter und stieg bald darauf am Bismarckplatz in die Linie 6 nach Weinheim ein.

Es überkam ihn plötzlich ein immenses Aufbruchsgefühl. Alle Hemmungen und Ängste, die ihn bisher verfolgt und behindert hatten, würden endlich verschwinden, wenn er erst einmal klar sehen konnte, wer er wirklich war und woher er kam. Dass er bei seinen Nachforschungen auf schlimme Dinge stoßen könnte, diesen Gedanken ließ er jetzt nicht zu.

In Weinheim angekommen, ging er mit schnellen Schritten vorbei am heruntergekommenen, schon lange geschlossenen alten Bahnhofsgebäude, über die Kopernikusstraße aufwärts zum neugotischen Schloss, wo die Stadtverwaltung ihren Hauptsitz hatte. Dort sagte man ihm, das Jugendamt sei schon lange zusammen mit anderen Dienststellen in einen neuen Gebäudekomplex in der Dürrestraße umgezogen. Über die Grabengasse und Institutsstraße erreichte er die Fußgängerzone in der Hauptstraße, die bald die Dürrestraße kreuzt. Dort stand rechter Hand das gesuchte Gebäude, und im ersten Stock fand er nach längerem Suchen die Dienststelle, die für Adoptionen zuständig war. Er klopfte und wurde nach kurzem Warten hereingebeten.

In einem kleinen und völlig schmucklosen Büro saß hinter einem klobigen Schreibtisch, auf dem sich Aktenberge türmten, eine Frau, die etwa fünfzig Jahre alt sein mochte. Ihre Bewegungen waren hektisch und ihr fleischiges Gesicht war unnatürlich rot angelaufen. Sie schien völlig überarbeitet zu sein. Ohne von ihrem Monitor aufzublicken, sprach sie Konstantin Lerner mit einer Stimme an, die verriet, wie ungelegen ihr diese Störung kam: „Herzog mein Name, was kann ich für Sie tun?“

Obwohl vor dem Schreibtisch zwei Stühle standen, bot sie ihm keinen Sitzplatz an. Konstantin Lerner setzte sich trotzdem und begann zu reden: „Ich bin Konstantin Lerner und wohne hier in Weinheim. Ich habe folgendes Anliegen. Ich wurde im Alter von acht Wochen adoptiert und meine Zieheltern versichern mir, dass sie selbst keine Ahnung haben, wer meine leiblichen Eltern sind. Es sei damals für die Adoption Bedingung gewesen, dass meine tatsächliche Herkunft für immer unbekannt bleibt. Das kann ich aber nicht akzeptieren. Ich will wissen, wer ich eigentlich bin.“

„Bitte noch einmal Ihren Namen und auch das Geburtsdatum“, antwortete Frau Herzog trocken.

„Konstantin Lerner, 20. November 1990.“

„Einen Moment bitte, ich muss prüfen, ob mir der Computer etwas anzeigt.“

Mit schnellen Fingern gab sie seine Daten ein. Nach kurzer Zeit schien sie etwas gefunden zu haben. Sie stutzte, sah noch zweimal genau hin und sagte dann etwas zögernd und befangen:

„Herr Lerner, ich muss Sie da leider enttäuschen, der Vorgang ist zu lange her. Wir haben darüber keine Unterlagen mehr.“

„Könnte es über den Vorgang noch irgendwo anders Unterlagen geben?“

„Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.“

„Das bedeutet also, ich habe keine Möglichkeit mehr, etwas über meine Herkunft zu erfahren?“

„Ich fürchte, ja.“

„Das kann doch gar nicht sein! In diesem Land wird doch sonst jeder Mist Jahrzehnte lang aufgehoben. Und Sie sind sich sicher, dass Sie mir tatsächlich keine Auskunft geben können und nicht etwa nicht wollen oder dürfen?“

„Ich verbitte mir solche Unterstellungen, ich kann nichts für Sie tun. Damit ist dieses Gespräch beendet. Wie Sie sehen, habe ich viel zu tun. Guten Tag.“

Sie deutete auf die vielen Akten und wandte sich wieder ihrem Computer zu. Konstantin Lerner stand noch einige Augenblicke verdutzt im Raum, bevor er sich umwandte und die Tür recht lautstark hinter sich schloss.

Etwas benommen ging er den langen Gang zum Treppenhaus zurück. Er ließ das Zusammentreffen mit Frau Herzog noch einmal Revue passieren. Warum zögerte sie mit der Antwort, nachdem sie seinen Namen in den PC eingegeben hatte? Und warum reagierte sie so völlig überzogen auf seine letzte Frage? Er war sich sicher, dass sie ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte. Aber was sollte er jetzt tun? Wie konnte er sonst noch an Informationen kommen? Da erinnerte er sich, dass es irgendwo ein Stadtarchiv geben musste. Er rief über sein Handy die Stadtverwaltung an und man sagte ihm, es läge in der Schulstraße, in dem gleichen Bau wie die Pestalozzi Grundschule.

Es war nur ein kurzer Weg bis dorthin. Aber der Eingang war nicht leicht zu finden, da er versteckt hinter der Schule lag. Als er eintrat, merkte er gleich, dass sich kaum jemand für diese Institution zu interessieren schien. Denn abgesehen von einem Aufsichtsbeamten, der in sein Kreuzworträtsel vertieft war, schien der Raum menschenleer zu sein.

Konstantin Lerner beschloss, hier eine andere Strategie zu steuern als im Jugendamt. Er trat zu dem Aufsichtsbeamten und sprach ihn an: „Guten Tag, Wilfried Fichte mein Name. Ich bin Journalist und recherchiere zurzeit an einer Story über Adoption. Dabei bin ich auf einen interessanten und wohl nicht ganz unkomplizierten Fall gestoßen, der hier in Weinheim gelaufen sein muss. Das ist aber schon eine Weile her, deswegen komme ich zu Ihnen. Es handelt sich um einen gewissen Konstantin Lerner. Die Adoption muss so Ende 1990, Anfang 1991 gewesen sein. Könnte es sein, dass es hier darüber etwas gibt? Ich war schon beim Jugendamt und die haben mich zu Ihnen geschickt.“

„Hmm“, brummte der Beamte und legte etwas unwillig das Kreuzworträtsel beiseite. „Wir haben hier schon solche Sachen. Ist nicht ganz einfach zu finden, wenn es so lange her ist. Ich werde mal meinen Computer befragen, der weiß eigentlich alles. Wie war noch der Name?“

„Lerner, Konstantin Lerner.“

„Und wann, sagten Sie, war der Vorgang?“

„Irgendwann Ende 1990 oder Anfang 1991.“

Der Beamte gab die Daten nur mit dem Zeigefinger der rechten Hand ganz bedächtig in seinen Computer ein. Es dauerte eine geraume Zeit, dann blickte er auf, sah sein Gegenüber eine Weile an und meinte dann: „Wir haben hier tatsächlich eine Akte Lerner, die aus dieser Zeit stammt. Allerdings sehe ich gerade, sie hat einen Sperrvermerk.“

„Und das bedeutet?“

„Dass ohne besondere Genehmigung niemand hier Einsicht nehmen darf.“

„Und wie kann man eine solche besondere Genehmigung bekommen?“

Der Beamte musste sich eine Weile besinnen, da ein solcher Fall schon lange nicht mehr vorgekommen war. Dann hellte sich sein Gesicht auf und er sagte: „Warten Sie einen Moment, jetzt erinnere ich mich, wo die Antragsformulare liegen.“

Er erhob sich, trat an einen Aktenschrank hinter seinem Schreibtisch, öffnete ihn umständlich, suchte eine Weile und kam dann mit einem Blatt Papier zurück.

„Also, hier wäre das Formular. Aber ich sage Ihnen gleich, Sie müssen sehr triftige Gründe angeben, wenn Ihr Antrag positiv beschieden werden soll.“

„An wen ist denn der Antrag zu richten und wie lange wird es dauern, bis das entschieden wird?“

„Also, in diesem Fall wird der Antrag an das Jugendamt zu stellen sein. Und wie lange das dauert? O je, Gottes Mühlen und die der Weinheimer Stadtverwaltung mahlen langsam. So mit sechs bis acht Wochen werden Sie da sicher rechnen müssen.“

 

„Das dauert mir viel zu lange. In dieser Zeit muss die Story schon längst veröffentlicht sein. Gibt es keinen anderen Weg als den Dienstweg?“

„Natürlich nicht!“, antwortete der Beamte entrüstet.

„Nun“, fuhr Konstantin Lerner mit hintersinnigem Lächeln fort. „Ich nehme an, dass dieser Job sicher nicht gerade fürstlich bezahlt wird. Wann haben Sie hier Feierabend?“

„Um 18 Uhr“, antwortete der Beamte etwas verwirrt. Er konnte sich nicht vorstellen, worauf sein Besucher hinaus wollte. Der griff in seine Hosentasche, holte einen Fünfzigeuroschein heraus und legte ihn auf den Schreibtisch. „Sehen Sie, dieses Scheinchen schenke ich Ihnen, einfach so, und nach Ihrem Dienstschluss werde ich in der Bahnhofstraße in der Pizzeria Milano zu Abend essen. Und wenn Sie da vorbeikommen und mir die Akte mitbringen, dann hab ich noch ein-

mal fünf solche Scheinchen für Sie. Ich geh dann jetzt.“

„Aber das ist doch …!“

„Regen Sie sich nicht auf. Spätestens übermorgen bringe ich Ihnen die Akte zurück und alles ist wieder in bester Ordnung. Wenn jetzt jemand diese Akte sehen will, muss er doch, wie Sie mir sagten, einen Antrag stellen, und es dauert mindestens sechs Wochen, bis der bearbeitet ist. Es kann also gar nichts passieren. Aber damit es Ihnen leichter fällt, bekommen Sie heute Abend noch neun solche Scheinchen. Ich will nicht knickerig sein. Also, bis dann.“

Er drehte sich um und verließ schnell den Raum, den Beamten in Gewissensqualen zurücklassend. Konstantin Lerner hatte jetzt keine Lust, nach Hause zu gehen. Er suchte die Stadtbücherei auf, stöberte eine Weile in diversen Büchern und fand dann in der Fußgängerzone ein Kino, dass zu einer für ihn günstigen Zeit Vorstellung hatte.

Kurz vor 18 Uhr war er in besagter Pizzeria, bestellte ein Bier und wartete gespannt. Und tatsächlich: Bereits wenige Minuten nach sechs kam der Beamte aus dem Archiv, etwas gebückt mit hochgezogenen Schultern und mit einer dünnen Aktenmappe unterm Arm. Er sah sich mehrfach um, ob ihn

nicht doch jemand beobachtet hatte und ihm gefolgt war. Er setzte sich zu Konstantin Lerner an den Tisch.

„Wollen Sie auch ein Bier?“, fragte er den Beamten.

„Also … eigentlich …“

„Herr Ober, bitte noch ein Bier für den Herrn.“

Die beiden saßen sich schweigend gegenüber, bis der Ober das Bier brachte.

„Na, dann prost!“, sagte Konstantin Lerner, hob sein Glas, und dem Beamten blieb nichts anderes übrig, als mit ihm anzustoßen. Danach wieder Schweigen. Schließlich griff Konstantin in seine Tasche und holte einen Umschlag hervor.

„Lassen Sie uns tauschen“, meinte er und sah den Beamten erwartungsvoll an. Dieser legte zögernd die Aktenmappe auf den Tisch, ergriff den Umschlag, blickte hinein und konnte sich überzeugen, dass tatsächlich neun Fünfzigeuroscheine drin waren. Sein Gegenüber öffnete die Aktenmappe ein wenig, nickte kurz, als er seinen Namen las, und steckte sie in seine Tasche.

„Also dann, spätestens in drei Tagen haben Sie die Akte wieder“, sagte Konstantin Lerner, der nicht wissen konnte, dass sie nie wieder an ihren Platz im Archiv zurückkommen sollte.

„Dann geh ich jetzt besser“, meinte der Beamte flüsternd, nahm noch einen großen Schluck Bier und verschwand, ohne sich richtig zu verabschieden. Konstantin Lerner blieb eine Weile ruhig sitzen. Aber dann hielt er es nicht länger aus, nahm die Akte aus seiner Tasche und las.

Bereits nach wenigen Augenblicken ließ er die Papiere völlig entgeistert sinken. Jetzt verstehe ich, warum ich das nie erfahren sollte, dachte er. Ich hätte die Finger davon lassen sollen. Aber jetzt ist es zu spät.

Er erhob sich, trat mit zitternden Knien an die Theke und bezahlte seine Rechnung. Langsam verließ er das Lokal. Draußen schlug ihm die kalte Dezemberluft entgegen. Es hatte angefangen zu schneien. Unschlüssig stand er vor dem Lokal. Er wusste nicht, wo er jetzt hingehen sollte. Nach Hause wollte er auf keinen Fall. Aber eines wusste er ganz sicher: Es würde in Zukunft nichts mehr so sein wie bisher.