Hans im Glück oder Die Reise in den Westen

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Er stand vor dem Tresen im Dom-Hotel.

Ich habe ein Zimmer bestellt auf den Namen Weber.

Ein Blick in den Computer.

Vier Nächte?

Vier Nächte.

Sie waren ja schon lange nicht mehr bei uns. Es hat sich nicht viel geändert. Die Frühstückszeit wie immer von sieben bis zehn. Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt. Zimmer 42 haben wir für Sie reserviert.

Damit reichte die Dame, dezenter geschminkt als Katharina, die Zimmerkarte herüber.

In seinem Zimmer blickte er einmal rundherum, registrierte das edle Mobiliar und die beiden Stiche aus dem 19. Jahrhundert, die Minibar und die digitale Begrüßung auf dem Bildschirm, den weichen, moosgrünen Teppichboden und die indirekte Beleuchtung über der Bettkante, warf einen Blick ins Bad und ließ sich, so wie er war, aufs Bett fallen. Angekommen!

Angekommen? Georg fiel wieder ins Grübeln. Bin ich schon einmal irgendwo angekommen? Bin ich nicht vielmehr eine Art Dauerreisender, immer unterwegs? Auf der Suche nach irgendetwas? Oder auf der Flucht vor etwas? Auf der Flucht vor jeder Art festen Gefüges, auf der Flucht vor fester Bindung, vor einer festen Ordnung, vor zu viel Alltag, vor verfestigten Ansichten? Muss man überhaupt irgendwo ankommen? Ist Ankommen nicht auch Stillstand und damit Ende, aus?

Er kannte so viele, die scheinbar angekommen sind und mit denen nichts mehr anzufangen war. Endstation Familie. Eingerichtet, abgeschottet. Suchte man jemanden unter den alten Weggefährten für eine Aufgabe, für eine zeitlich begrenzte Aktion, eine Arbeitsgruppe, einen Ausschuss – tut mir leid, mein Job, meine Kinder, mein Garten, mein Haus, meine Hüfte, mein Hund …

Ich will doch gar nicht ankommen, noch nicht. Und doch, im tiefsten Inneren, sehne ich mich schon danach, endlich einmal irgendwo anzukommen, einmal tiefe Geborgenheit zu erleben, zu irgendetwas mein zu sagen, eine Struktur zu haben, auf die ich mich verlassen kann. Ich komme mir vor wie ein Fisch, der, ständig auf Jagd nach Futter und selber als Futter gejagt, kurz auftaucht, um Luft zu schnappen und weiterzuschwimmen. Heute ist es diese, übermorgen eine andere, dann wieder meine Stadt oder mein Dorf. Und statt zu Hause einmal anzukommen, in meinem Dorf, wo ich seit Jahren wohne und wo mich kaum einer kennt, betrachte ich auch dieses immer nur als Zwischenstation. Aber zwischen was? Er legte sich auf die Seite und schlief ein.

Ein unbekanntes, nervendes Schnarren riss ihn aus einem flüchtigen Traum.

Hallo, hier ist Katharina, hörte er die geheimnisvoll rauchige Stimme. Ich wollte nur wissen, wann du morgen zu mir kommst. Ich würde dich zum Frühstück einladen, sagen wir halb zehn.

So spät?

Meinetwegen auch um neun. Aber früher bitte nicht.

Okay. Ich werde um neun bei dir klingeln. Bis dann.

So kurz wollte er gar nicht sein. Aber ihre Stimme rief in ihm ein Gefühl wach, dem er nicht nachgeben wollte. Der distanziertere Ton verlieh ihm mehr Sicherheit. Morgen müsste er auf der Hut sein.

Draußen war es dunkel geworden. Er zog sich eine andere Hose an, schlüpfte wieder in seine Lederjacke und rief ein Taxi. Er ließ sich zum Grater fahren, wo er ein freundliches Restaurant kannte.

Als er eine Viertelstunde später durch die Tür trat, stellte er beruhigt fest, nichts hatte sich geändert. Alles war so wie beim letzten Mal. Der Wirt begrüßte ihn freundlich, ohne dass abzulesen war, ob er ihn wiedererkannte. Erst als Georg in der hinteren Fensterecke, nahe dem Tresen, Platz nahm und der Wirt die Speisekarte brachte, sah er ein leises Flackern in seinen Augen, das ihn noch einmal besonders willkommen hieß.

Wieder einen doppelten Espresso als Erstes, fragte der Wirt. Damit war es klar.

Wie immer, antwortete Georg und musste lachen, als ihm der Wirt den Rücken wandte. Sechs oder sieben Jahre hatte er sich bestimmt nicht mehr hier blicken lassen.

Er schaute sich genauer im Raum um. Die dunkle Täfelung der Wände schien ihm noch dunkler, die Lautrecs darüber zahlreicher geworden und näher zusammengerückt. Das warme Licht aus den gläsernen, mattgelben Kelchen reichte gerade so aus, um noch lesen und schreiben zu können. Er zog aus seiner Jacke, die er über den Stuhl geworfen hatte, ein kleines Heftchen und einen winzigen, aber umso dickeren Kugelschreiber und notierte Ankommen. Das Stichwort wollte er in den nächsten Tagen noch einmal gedanklich durchkauen.

Zwei Tische weiter, aus einer Männerrunde, erscholl lautes Gelächter. Georg schaute hinüber. Sechs Männer, die meisten in dunklen Anzügen und weißen Hemden mit Krawatte, hoben ihre Weingläser und prosteten sich zu. Der Einzige, der kein weißes Hemd trug, drehte ihm den Rücken zu. Das Jackett hing über der Stuhllehne. Seine schwarzen Locken ließen in ihrer Mitte einen kleinen weißen Mond hervortreten. Er wandte sich um, sah in Georgs Ecke und drehte sich zurück. Im selben Moment wandte er sich blitzschnell noch einmal um und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu Georg hin.

Georg? Bist du es?

Er sprang auf und kam an seinen Tisch. Georg stand auf und sagte: Carlo?

Na klar, was denkst du denn? Was machst du hier in unserer Stadt? Und dann auch noch in unserer Plaka?

Beide umarmten sich kurz, dann wurde Georg an den Nachbartisch entführt. Die anderen Herren erhoben sich der Reihe nach, indes Carlo ihnen Georg vorstellte: Das ist Georg Weber, einer der ganz wichtigen Leute aus der Stadt, in der wir Aufbauhilfe geleistet haben. Seinen Namen werden ja alle schon mal gehört haben. Er war sozusagen mein amtliches Gegenüber im Osten. Nimm bei uns Platz. Du bist natürlich mein Gast.

Dann schaute er in die Runde und erzählte, wie Georg das erste Mal hierher kam. Damals war er eben Stadtrat für Schule und Kultur geworden, durch den Runden Tisch.

Stellt euch vor, den alten SED-Stadtrat hatten die Revolutionäre fortgejagt. Das war – wann war das genau?

Anfang neunzig, sagte Georg.

Das war eine große Sache, fuhr Carlo fort. Der Georg musste ja die ganzen alten Mitarbeiter in seinem Ratsbereich übernehmen, die meisten SED.

Alle, warf Georg ein.

Und dann die Schuldirektoren und Kulturfunktionäre, kaum einer, der nicht der führenden Partei angehörte. Ihr könnt euch vorstellen, was für eine aussichtslose und doch irgendwie auch hoffnungsvolle Situation. Oder?

Na ja, du darfst nicht unterschlagen, dass mir zwei ausgesprochen kompetente Frauen zur Seite gestellt wurden. Die eine, eine erfahrene Pädagogin, wäre unter anderen Umständen selber Schuldirektorin oder Stadträtin geworden. Die andere eine ehemalige Dramaturgin vom Stadttheater, die aus politischen Gründen rausgeflogen war.

Aber trotzdem, sagte Carlo, wo hat es das schon gegeben! Das waren doch revolutionäre Vorgänge. So etwas kennen wir nur aus Büchern. Und du hattest doch keine Ahnung von Verwaltung, oder?

Keinen Schimmer, sagte Georg. Das bisschen, was ich von den Vorgängen in einem Rathaus verstand, verdanke ich der kurzen Zeit, die ich als Beobachter des Runden Tisches im Rathaus tätig war und den Sitzungen des Runden Tisches selber, wo alle wichtigen kulturpolitischen Entscheidungen diskutiert wurden.

Und haben die alten SED-Mitarbeiter Sie gelinkt, fragte einer der Männer, ein sehniger Typ mit hervorstehenden Backenknochen und einem Mund wie Udo Lindenberg.

Frieder Nauheim, erklärte Carlo, einer von uns.

Versucht haben sie es schon, sagte Georg. Aber einer in meinem Ressort, der erkannt hatte, dass die Zeit der führenden Partei abgelaufen ist, verhielt sich loyal und beriet mich gut. In einem vertraulichen Gespräch räumte er mir gegenüber ein, der Partei seien nicht nur schwere Fehler anzulasten, sie habe ihre Mitglieder geradezu charakterlich deformiert, indem sie jeden Ansatz von kritischem Mitdenken als parteischädigendes Verhalten denunziert habe. Herausgekommen sei eine ängstliche, angepasste und auf ihren kleinen Vorteil bedachte Gattung Mensch, mit der man eigentlich nichts mehr anfangen könne. Dieser Mann hat mir den Rücken freigehalten. Was sonst hinter meinem Rücken noch alles abgelaufen sein mag, werde ich wahrscheinlich nie erfahren.

Der Wirt nahm die Bestellung auf. Die Herren hatten sich auf Forelle geeinigt. Georg schloss sich ihnen an.

Und einen Weißen, sagte Carlo, für unseren Gast. Oder trinkst du lieber Roten? Georg bejahte.

Also noch eine Flasche von dem Roten bitte.

Und warum sind Sie nicht Stadtrat geblieben? Ein junger, straff gescheitelter Teilnehmer der Runde schaute ihn aus einem klugen Gesicht über den aufgestützten Ellenbogen herausfordernd an.

Das ist übrigens Faber Schmidt-Weirich, unser FDP-Vertreter im Kulturausschuss des Stadtparlaments.

Georg nickte ihm zu und sagte: Hätte ich mir denken können, gelbe Krawatte mit blauen Punkten, sozusagen Berufsbekleidung.

Sein Gegenüber griente: Da haben’s die Genossen von der SPD schwerer. Die müssen sich ihre rote Krawatte mit den Kommunisten teilen.

Die Herren lachten, und Carlo fügte hinzu: Bloß gut, dass wir uns nicht auf Farben festlegen lassen. Was sollte sonst unser Freund Heidenreich sagen. Der dürfte zu seinem Schwarzen ja nie die passende Krawatte tragen, um nicht den Eindruck zu vermitteln, die CDU trüge eben die deutsche Politik zu Grabe.

Der Angesprochene lachte ein bisschen zu heftig für den harmlosen Witz.

Aber nun zu Fabers Frage, nahm Carlo den Faden wieder auf und schaute Georg erwartungsvoll an.

Dass ich nicht Stadtrat geblieben bin, sagte Georg, hat einen ganz einfachen Grund: Es gab Wahlen, und ich gehörte keiner Partei an.

Und warum gehörten Sie keiner Partei an, bohrte der nach.

 

Ja, das werden die Herren wohl schwer nachvollziehen können. Ich bin in einem Staat herangewachsen, in dem es eigentlich nur eine Partei gab, die nicht nur die Macht, sondern auch die Wahrheit für sich beanspruchte. Die anderen zugelassenen Parteien führten ein Schattendasein, soweit sie sich nicht noch links von der SED zu profilieren versuchten. Für mich hat das Wort Partei vierzig Jahre lang einen unangenehmen Klang gehabt. Deshalb fand ich meine politische Heimat 1989 in den Bürgerbewegungen, vor allem im Neuen Forum. Freunde von mir sind sehr schnell in die frisch aus der Taufe gehobene SDP eingetreten, andere in die CDU oder Liberale Partei, als sich deren westliche Schwesterparteien um sie zu kümmern begannen. Ich fühlte mich am wohlsten unter den aktiven Parteilosen, die plötzlich – wie Pilze nach einem warmen Herbstregen aus der Erde schießen – von wer weiß woher bei uns auftauchten und mitmachen wollten, Menschen, die ich in unserer Stadt noch nie gesehen hatte und die so unverbraucht und ideenreich auftraten, dass es eine Freude war, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Da gab es keine Hierarchie und keine Ideologie, kein Postengerangel, kein – ach, vielleicht sollte ich hier lieber Schluss machen. Nicht dass sich jemand von Ihnen angegriffen fühlt.

Da musst du nicht bange sein, griff Carlo ein, wir arbeiten heute in unseren Parteien auch mit Parteilosen zusammen, wir haben sogar schon einen parteilosen Stadtrat durchgekriegt. Dass die dich damals nicht als Parteilosen übernommen haben, verstehe ich immer noch nicht. Na ja, sagte Georg, sie haben mir ja ein Angebot gemacht. Der SPD-Vorsitzende suchte mich heim …

Hört, hört, mischte sich Schmidt-Weirig ein, wenn die SPD kommt, ist es wie eine Heimsuchung!

… Pardon, fuhr Georg fort, ich meine, er suchte mich auf und erklärte, man wolle, dass ich das Amt fortführe, für die SPD sozusagen. Als ich nach der Bedingung fragte, wurde mir unmissverständlich nahegelegt, dann auch bald Parteimitglied zu werden. Und das genau konnte ich nicht versprechen.

Georg schaute in die Runde und gewann den Eindruck, er habe Grenzland betreten. Carlo überspielte die plötzliche Stille mit einem Themenwechsel: Du bist jetzt Lehrer, habe ich gehört?

Auch das ist Vergangenheit, sagte Georg. Ein paar Jahre habe ich mich mit Religion und Philosophie an einem Privatgymnasium durchgeschlagen. Inzwischen leite ich die Landesstelle für Dokumentation, Information und Erforschung von Widerstand und Opposition in den drei Nordbezirken der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, kurz LIEWO.

Sag bloß, warf Carlo ein. So etwas gibt es? Der Name ist ja fast so unaussprechlich wie die offizielle Bezeichnung der sogenannten Gauck-Behörde.

Georg nickte: Mit der arbeiten wir zwangsläufig auch eng zusammen.

Und was macht ihr da so, wollte Carlo wissen.

Das ist eine längere Geschichte, sagte Georg. Als ich den Auftrag erhielt, mit zwei Mitarbeiterinnen und mit bescheidensten Mitteln eine solche Stelle aufzubauen, saßen wir in einem kleinen Büro, besaßen drei Schreibtische, einen Computer und drei leere Wandregale und fingen an, Dokumente zu sammeln.

Das heißt? Carlo zeigte sich ehrlich interessiert.

Die Programme und Aufrufe der Bürgerbewegungen zum Beispiel oder Protokolle der Sprecherräte und Fachgruppen. Ebenso alle Dokumente von Friedens- und Umweltgruppen aus den frühen Achtzigerjahren, darunter auch Flugblätter, Offene Briefe und interne Informationen. Später haben wir die Sammlung auch auf alles ausgedehnt, was uns an Samisdat in die Finger kam, im Ormig-Verfahren vervielfältigte Gedichte und Texte, Satirisches und investigative Dokumente, vor allem zu ökologischen Fragen. Aber auch die Plakate und Transparente der Demonstranten aus dem Herbst 89 befinden sich bei uns. Inzwischen gehören auch Materialien der 1989 sich wandelnden alten Parteien sowie der neuen, also SDP und DSU zu unserem Bestand.

Die Männer am Tisch horchten auf.

Haben die denn alles freiwillig rausgerückt, meldete sich einer aus dem Kreis zu Wort, ein blasser Mittdreißiger mit Stoppelhaaren und Schnauzbart.

Werner Bächlein, stellte ihn Carlo vor, einer unserer jungen Wilden aus der SPD-Fraktion. Ich könnte mir vorstellen, fuhr der fort, dass sich manche schwer damit getan haben.

Georg berichtete von den Schwierigkeiten, auf die er dabei gestoßen war. Die einen hatten ein Privatarchiv angelegt und hüteten es wie ihren Augapfel. Andere gaben an, alles aus dieser Zeit in Kartons verstaut zu haben, an die sie in nächster Zeit nicht herankämen. Viele hatten alles, was an jene Zeit erinnerte, längst geschreddert. Es gab auch solche, die Geld dafür haben wollten. Nach einer Aufbauphase von zwei Jahren sei aber doch eine beachtliche Sammlung zustande gekommen, die seitdem ständig nach hinten erweitert werde, bis in die frühen Fünfzigerjahre hinein. Inzwischen fülle allein das Archiv Herbst 89 einen ganzen Raum, andere Räume der zu einem stattlichen Institut angewachsenen Landesstelle beherbergten Dokumente zum 17. Juni 1953 im Norden der DDR, Materialien zum Thema kirchlicher Widerstand, zu Streiks in volkseigenen Betrieben, Papiere aus den Arbeitskreisen der ehemaligen Bausoldaten und Totalverweigerer, Reaktionen auf den Prager Frühling und den Einmarsch 1968, auf die KSZE-Tagung in Helsinki, Papiere zur Ausreisebewegung und vieles mehr.

Und was machen Sie mit all den Dokumenten – Alfred Heidenreich, unterbrach ihn Carlo mit einem Seitenblick zu Georg, CDU-Fraktion, wie du ja inzwischen mitgekriegt hast –, gehören die nicht eher in Ihr Landesarchiv?

Irgendwann werden sie dort eingegliedert werden, antwortete Georg. Die Landesstelle ist eine temporäre Einrichtung. Unsere jetzige Aufgabe ist es, möglichst lückenlos den Widerstand in den ehemaligen Nordbezirken zu dokumentieren, die Öffentlichkeit darüber zu informieren – für mich heißt das vor allem viel Vortragsarbeit – und den Medien sowie der Zeitgeschichtsforschung die Materialien zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus arbeiten wir mit uns bekannten Privatarchiven zusammen und vermitteln Kontakte für Doktoranden. Carlo wollte wissen, ob Georg denn auch mit Stasi-Unterlagen zu tun habe.

Das sei Angelegenheit der Gauck-Behörde, erklärte Georg, die die Stasi-Archive verwalte und für die gesetzlichen Zwecke aufbereite. Es komme aber vor, dass Betroffene Kopien ihrer eingesehenen Unterlagen der Landesstelle zur Verfügung stellen. Dann würden diese in einer gesonderten Abteilung aufbewahrt.

Wozu das? Einer aus der Männerrunde, ein korpulenter, gemütvoller Typ, der das Gespräch bisher interessiert verfolgt hatte und immer vor sich hin lächelte, vermochte darin keinen Sinn zu sehen.

Georg berichtete, die Landesstelle könne etwas, was die Gauck-Behörde nach ihrem gesetzlichen Auftrag nicht leisten könne, sie führe und protokolliere Gespräche sowohl mit Betroffenen, die unter staatlicher Repression gelitten haben, als auch mit ehemaligen Parteifunktionären und hauptamtlichen Stasimitarbeitern, soweit die dazu bereit seien. Auf diese Weise sichere sie eine Fülle von Insiderwissen und Spezialkenntnissen, die der Zeitgeschichtsforschung zugutekämen. Gelegentlich komme es sogar vor, dass sich Opfer und Täter, er sage lieber Betroffene und Verantwortliche, im Beisein seiner Mitarbeiter zu einer Gegenüberstellung bzw. zum Gespräch bereitfänden. Er hoffe, auf diese Weise könne die Landesstelle einen kleinen Beitrag zur innergesellschaftlichen Versöhnung leisten, auch wenn das nicht ihr Hauptzweck sei.

Heidenreich nahm noch einmal das Wort und erklärte, nach seiner unmaßgeblichen Meinung würde es langsam Zeit, nach vorn zu blicken und diese DDR-Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen. Es gebe so viele Gegenwartsprobleme, die alle Kraft und Ressourcen erforderten, dass man sich so viel Rückwärtsgewandtheit bald nicht mehr leisten könne, zumal sie unnötig Steuergelder verschlinge.

Damit entfachte er einen heftigen Wortwechsel, bei dem bald nicht mehr auseinanderzuhalten war, wer welche Meinung vertrat, weil einer dem anderen ins Wort fiel. Georg, der solche Auffassungen kannte, hörte von Verantwortung der SED-Funktionäre reden, von Unrecht, das benannt werden müsse und von Unrecht, dass auch heute geschehe, von Untersuchungshaftanstalten der Stasi und von der verschleppten Aufarbeitung der Nazizeit. – Bei uns gibt es auch Geheimdienste, hörte er einen sagen. – Denk mal an Guillaume und Willy Brandt, gab einer zurück. – Warst du mal in Hohenschönhausen? – Man kann nicht alles über einen Kamm scheren. – Absolute Freiheit gibt es so wenig wie völlige Gerechtigkeit. – Alles muss einmal ein Ende haben.

Stichworte prallten an Georgs Ohren: IMs … verdeckte Ermittler … Stolpe … Bautzen … KGB … Putin … Schröder … Gazprom … Mossad … Vatikan … OSA …

Forelle, die Herren, sagte der Wirt und ließ eine Platte nach der anderen von seinem Arm auf den Tisch gleiten. Eine weitere Ladung Forelle folgte.

Guten Appetit die Herren. Noch Getränke gewünscht?

Und während der Wirt mit der Bestellung abzog, breitete sich genüssliches Schmatzen aus. Egon, bring mal zwei Teller für die Knochen, rief Carlo. Der Wirt brachte zwei fischförmige Grätenteller und stellte erneut je eine Flasche weißen und roten Wein auf den Tisch.

Als das Gespräch wieder anhob, ging es um die bevorstehende Stadtvertretersitzung und den Umgang mit der Linken. Georg lehnte sich zurück, genoss den fruchtigen Wein und beobachtete die Gestik der Männer. Ab und an wandte sich Carlo zu ihm und fragte etwas. Wie geht’s deiner Frau? Was macht Bernhard? Bist du demnächst wieder mal hier? Wir sollten mal einen Abend ausmachen, wo wir Zeit füreinander haben, so wie damals.

Es mochte zehn sein, als Carlo unvermittelt aufsprang und sagte: Meine Herren, die Sitzung ist beendet.

Die Männer lächelten müde, kannten den Spruch wohl schon. Man verabschiedete sich freundlich.

Carlo fragte Georg: Wo wohnst du?

Dom-Hotel!

Gute Wahl, sagte er und im Hinausgehen: Man sieht sich.

Den Gruß an seine Frau und den Dank für die Einladung schien er schon nicht mehr zu hören. Für einen Moment setzte sich Georg noch einmal nieder, goss sich den Rest aus der Rotweinflasche ein und zog erneut sein kleines Heft aus der Tasche. Irgendetwas wollte er aufschreiben, einen Gedanken aus dem Gespräch. Aber er hatte ihn vergessen. Er steckte sein Heft wieder ein, zog seine Lederjacke an, wand sich den Schal um den Hals, nahm seine Mütze in die Hand und verabschiedete sich von dem Wirt.

Der Grater lag unter einem dünnen Nebelschleier, der von der Weihe herüberzog und die Lichter vor den Lokalen mit einem glitzernden Hof umgab. Dazwischen bewegten sich schemenhaft Gestalten, wie in einem Schattenspiel.

Im Hotel angekommen, griff sich Georg im Vorbeigehen seinen Zimmerschlüssel, den die Nachtdame bei seinem Erscheinen in der Windfangtür umsichtig auf den Tresen gelegt hatte, und begab sich zum Fahrstuhl, der gerade offen stand. Ihm schien, er habe soeben erst den Knopf gedrückt, als die Etagenanzeige auf vier stehen blieb und die Glastür, begleitet von einem Klingelzeichen, fast geräuschlos in der verspiegelten Seitenwand verschwand. Der dicke Teppichbelag auf dem Flur schluckte jeden Schritt. Auch mit harten Sohlen und gewollt festem Auftreten würde er sein Zimmer erreichen, als ob er schliche. Er steckte seine Karte in den Schlitz des Türaufsatzes, ein leises Klicken, der Drücker senkte sich unter seiner Hand und öffnete die Tür. Im gleichen Moment sprang das Licht in Flur und Schlafraum an. Wie sympathisch, dachte er, kein Tasten nach einem Schalter, eine gute Erfindung für ängstliche Menschen wie ihn, die im Dunkeln misstrauisch werden. Er legte Jacke und Mütze ab und lümmelte sich vor den Fernseher. Aber alle Programme schienen sich verabredet zu haben, ihn mit Langeweile zu strafen. Er entschied sich für das Bett, konnte dann aber doch lange nicht einschlafen.

Bilder tauchten auf, angeregt von seiner morgigen Begegnung.

Er wartet neben der Diesellok an der Treppe und sieht, wie sie sich mit einem riesigen Koffer aus dem Zug quält. Er will ihr zu Hilfe eilen, aber da steht sie schon auf dem Bahnsteig, entdeckt ihn und lacht ihm mit knallroten Lippen entgegen, dabei wischt sie sich mit einer theatralischen Geste den imaginären Schweiß von der Stirn. Jahrelang haben sie nichts voneinander gehört, allenfalls übereinander. Einmal kommt ein Foto: Katharina, auf der Treppe sitzend, neben einer blühenden Rose in ihrem kleinen verwilderten Gärtchen. Alles Gute zum Neuen Jahr! Er bedankt sich artig, aber den stillen Wink übersieht er. Dann eines Tages ein Anruf.

 

Hallo, Herr Weber, ich bin nächste Woche in Ihrer Stadt. Ich würde Sie gern mal wieder sehen. Mögen Sie?

Ja, er mag.

Wo werden Sie denn wohnen?

Ich habe mir ein Zimmer in der Westvorstadt gemietet. Vielleicht haben Sie ja Lust, mich vom Bahnhof abzuholen und da hinzufahren. Bei der Gelegenheit machen wir ein Treffen aus.

Nun steht er einer mehr als verlegenen Katharina Stein gegenüber, die mit einem Schwall von Nebensächlichkeiten ihre Aufregung wegzureden bemüht ist. In allem, was sie erzählt, findet er nichts, worauf er weiterführend reagieren könnte. Er nimmt sich des mächtigen Koffers an, zerrt ihn die Stufen herab und quält ihn auf der anderen Seite wieder hinauf. Sein Auto steht im Parkverbot direkt vor dem Bahnhof. Niemand nimmt Anstoß. Als er das Hauptgepäck in den Kofferraum gewuchtet und das übrige auf den Hintersitz geworfen hat und beide selber im Auto sitzen, schauen sie sich zum ersten Mal richtig in die Augen. Ihm stockt der Atem. Unter ihren dunklen Augenbrauen schauen ihn leuchtende, wasserblaue Augen wissend an. Er startet und bittet sie, sich anzuschnallen. Unterwegs macht er den Vorschlag, sie solle doch lediglich ihr Quartier inspizieren und ihren Koffer abstellen, dann wolle er sie gleich mit zu sich nehmen, wo er ein kleines Mittagessen vorbereitet habe. Sie ist einverstanden. An ihrem Quartier angekommen, besteht sie darauf, den Koffer allein ins Haus zu rollen. Er wartet im Wagen.

Nettes Zimmer, sagt sie, als sie wenige Minuten später wieder im Auto sitzt. Hier, das ist für Sie. Dabei reicht sie ihm ein Päckchen, das sich wie eine Pralinenschachtel anfühlt, in eine Art Packpapier gewickelt und mit einem Strick verschlossen. Neugierig schaut er sie an. Sie zuckt mit den Achseln.

Er öffnet die Wohnungstür und lässt sie als Erste eintreten. Wie in einen Tempel tritt sie über die Schwelle. Vorsichtig setzt sie einen Fuß vor den anderen, als befürchte sie, auf etwas Heiliges zu treten. Ihr Blick wandert die Wand des langen Korridors mit den Bücherregalen entlang.

Wow, sagt sie. Das hätte ich nicht gedacht.

Dass es bei mir auch Bücher gibt, fragt er.

Nein, diese Ordnung! So müsste es bei mir einmal aussehen. Ich engagiere Sie für ein Wochenende zum Ordnen meiner Bibliothek.

Er willigt ein.

In der Küche stehen Pellkartoffeln und Spargel bereit. Beides hat sich auf der Platte und unter Folie einigermaßen warmgehalten. Aus dem Kühlschrank holt er den bereits auf einen Teller drapierten Schinken.

Oh, Spargel mit Schinken, das habe ich noch nie gegessen.

Sie werden sehen bzw. schmecken, wie gut das zueinanderpasst. Bei uns isst man das so. Sie können auch noch ein bisschen Hollandaise dazubekommen, allerdings nicht selbst gemacht.

Sie nimmt an seinem Küchentisch Platz und schaut sich ausgiebig um.

Hier gefällt es mir, sagt sie. Das viele Licht, der quadratische Raumschnitt, die Einrichtung – alles ganz nach meinem Geschmack. Und dann, als hätte sie sich zu weit vorgewagt, folgt eine etwas plumpe Einschränkung: Aber die postmoderne Wanduhr fällt für meine Begriffe etwas aus dem Rahmen.

So? Er schaut sie an. Sie weicht seinem Blick aus, greift zum Besteck und sagt, indem sie sich Kartoffeln auffüllt: Ich darf doch?

Sie essen schweigend, nur ab und an treffen sich ihre Blicke.

Und dann geschieht etwas Unerwartetes.

Ich schwitze, sagt sie, erhebt sich, fragt nach der Toilette und verschwindet. Als sie wieder heraustritt, scheint ihm, ihre Lippen seien soeben neu lackiert worden. Vor allem aber bemerkt er, dass durch ihre Bluse die Knospen ihrer Brüste deutlich hervorstechen.

Sie muss ihren Büstenhalter abgestreift haben, denkt er.

Sie nimmt wieder Platz und fragt provozierend: Und was gibt’s als Kompott?

Er steht auf und sagt: Ich bin auf alles vorbereitet.

Er will an ihr vorbei in die Kammer gehen, um sein letztes Glas Quitten zu holen.

Schlagsahne dafür steht bereits fertig im Kühlschrank. Da berührt er im Vorübergehen wie versehentlich mit der Hand ihre Schulter. Sie zuckt zusammen und schaut zu ihm auf. Und dann geht alles in Sekundenschnelle. Sie erhebt sich und wölbt sich ihm entgegen, er nimmt ihren Kopf in die Hände und küsst sie auf Stirn und Wangen, dann auf den Mund. Sie öffnet ihre roten Lippen. Er dringt mit seiner Zunge in ihn ein und kämpft mit der ihren, indessen seine linke Hand ihre Brust ertastet und beginnt, ihre Bluse aufzuknöpfen. Ihre Hände wandern tiefer, fassen seinen Gürtel und zerren den Riemen aus der Schnalle. Er hört, wie sie den Reißverschluss nach unten zieht. Während er sie in Richtung seines Schlafzimmers schiebt, fallen Stück für Stück alle Sachen zu Boden, bis sich beide nackt auf sein Bett werfen und hitzig lieben. Sie stöhnt auf, lässt die Arme zur Seite sinken und schließt die Augen. Er sucht mit seinen Lippen ihre straffen Brüste und gleitet schließlich neben ihr aufs Laken. Wie lange sie so liegen bleiben, will er gar nicht wissen. Er nimmt nur wahr, dass es bereits zu dämmern beginnt, als sie erwachen und sich in ihrer Nacktheit gegenseitig betrachten. Sie juchzt auf, er lacht, und dann fällt sie über ihn her und lässt ihn so schnell nicht wieder los. Irgendwann sammeln sie ihre Garderobe wieder auf, die über den Gang verstreut liegt, und treffen sich im Bad wieder. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, machen sie sich fertig, steigen ins Auto und holen den Koffer aus dem Mietzimmer. Sie zahlt den Preis für die Woche, und er wuchtet noch einmal den riesigen Kasten in seinen Kofferraum. Diese Woche wird er ihr Gastgeber sein, was auch immer sie sonst noch im Schilde führt. Und sie scheint diese Lösung als die einzig denkbare zu betrachten. Es wird eine Flitterwoche ohne Hochzeit.

Den nächsten Tag fahren sie an die Ostsee und verbringen, nach seiner Erinnerung, den ganzen Tag am Strand, nahe des Gelben Moors. Früher galt der Platz als Geheimtipp für FKK-Bader, so geheim, dass sich die Reihe der hinter den Dünen lückenlos geparkten Autos über zwei Kilometer links und rechts des Schotterweges erstreckte. Nach dem Ende der DDR sorgt ein rühriger Stadtrat für konsequente Renaturierung im hinteren Strandbereich. Kein Auto kommt hier mehr hin. Stattdessen breiten sich über die Jahre hinweg wieder seltene Gräser und Sumpfpflanzen aus, sogar Orchideen sollen wieder zu finden sein. Der Anweg, der nun zu Fuß zurückgelegt werden muss, scheint den meisten Strandbesuchern zu beschwerlich. Während sich das Badevolk an anderen Stränden um zwei Quadratmeter Sand streitet, treffen sich am Gelben Moor nur vereinzelte Naturliebhaber und Tagesausflügler.

Sie sind allein am Strand – und es gibt den ersten Streit. Sie hat am Wasser einen Stein gefunden, den sie ihm überreicht.

Ist der nicht schön?

Na ja, sagt er, es geht, eigentlich nichts Besonderes.

Objektiv mag er recht haben. Diese Art Steine gibt es nahezu wie Sand am Meer, nur dass ihrer halt etwas größer ausfällt. Dass seine Besonderheit darin besteht, ihn von ihr geschenkt zu bekommen, versteht er nicht. Das kränkt sie. Ihm fällt ein, er hat ja noch nicht einmal ihr Geschenk ausgepackt, das sie ihm bei der Fahrt in seine Wohnung in die Hand drückte. Ein Gefühl von Scham meldet sich, das er nicht zulassen will und schnell wieder hinunterschluckt. Sie geht ein Stück allein hinter den Dünen entlang und bleibt lange für ihn unsichtbar. Als sie zurückkehrt, ist er eingeschlafen. Ihr Schatten weckt ihn auf.

Bist du öfter so ein Kotzbrocken, fragt sie.

Ja, sagt er. Und bist du öfter so schnell eingeschnappt?

Ja, sagt sie.

Einen Streit könnte man das eigentlich nicht nennen, wenn sich in den nächsten Wochen diese Szenen nicht wiederholten.