Sturm und Drang

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Und neu war schließlich der Stil, in dem diese Hochwertbegriffe in Szene gesetzt wurden: Denn während noch die 1760er Jahre von einer Form der Literaturkritik dominiert wurden, die vornehmlich über die Einhaltung der Regeln wachte und dem subjektiven Geschmack keinen Platz einräumte, urteilten die Autoren der Frankfurter gelehrten Anzeigen ihrer Poetologie entsprechend betont persönlich – und keineswegs immer zurückhaltend, sondern oftmals äußerst polemisch. Ein bezeichnendes Beispiel für den provokativen Gestus der Anzeigen bietet Goethes erster Beitrag zu dem Gemeinschaftsprojekt. In einer spöttischen Besprechung des zweiten Teils von Schummels Empfindsame Reise durch Deutschland (1772) schickt er den wenig originellen Verfasser ins „neue Arbeitshaus“, wo „alle unnützenden und schwatzenden Schriftsteller Morgenländische Radices raspeln, Varianten auslesen, Urkunden schaben“, denn: „Es ist alles unter der Kritik, und wir würden diese Maculatorbogen nur mit zwey Worten angezeigt haben, wenn es nicht Leute gäbe, die in ihrem zarten Gewissen glauben, man müsse ein solches junges Genie nicht ersticken.“ (S. 119) Und die Kritik mündet in die vernichtende Feststellung: „Endlich bekommt der Verf. S. 73 ein ganzes Bataillon Kopfschmerzen, weil er was erfinden soll; und wir und unsere Leser klagen schon lange darüber.“ (S. 121)

|18◄ ►19|

Solche schonungslosen Angriffe sind typisch für den Jahrgang 1772 der Anzeigen, und sie sorgten dafür, dass die Zeitschrift erhebliche Aufmerksamkeitsgewinne in der ‚Gelehrtenrepublik‘ erzielte. ‚Naturgemäß‘ riefen Haltung wie Vehemenz der Beiträge dabei sowohl Widerspruch als auch Zustimmung hervor: Während von Seiten der Aufklärung die mangelnde Fairness der Rezensionen moniert und der Autorengruppe ein „Complot“ gegen Anstand und Religion unterstellt wurde, schrieb der berühmte Schweizer Physiognomiker Lavater (1741 – 1801) an Schlosser, er kenne keine andere kritische Instanz, deren „Verf. so viel Genie, Geschmack, Literatur, Freyheit, Witz und Empfindsamkeit hätten“. Und so resümiert Goethe in seiner „Nachrede statt der versprochenen Vorrede“:

Es ist wahr, es konnten einige Autoren sich über uns beklagen. Die billigste Kritik ist schon Ungerechtigkeit; jeder macht’s nach Vermögen und Kräften und findet sein Publikum, wie er einen Buchhändler gefunden hat. Wir hoffen, diese Herren werden damit sich trösten und die Unbilligkeit verschmerzen, über die sie sich beschweren. Unsre Mitbrüder an der kritischen Innung hatten außer dem Handwerksneid noch einige andere Ursachen, uns öffentlich anzuschreien und heimlich zu necken. Wir trieben das Handwerk ein bißchen freyer als sie und mit mehr Eifer. (S. 689)

Ein Jahr lang boten die Frankfurter gelehrten Anzeigen folglich ein Forum, auf dem die Prinzipien der Künstler- und Gefühlsautonomie kampflustig propagiert wurden. Die Anzeigen bestanden noch bis 1790, büßten ihre Bedeutung als fortlaufendes Manifest der Bewegung aber schnell wieder ein, weil das Autorenbündnis sich nach dem Jahr 1772 wieder auflöste. An langfristigen Kooperationen bestand offensichtlich kein Interesse.

Inszenierung als „Parnassum in nuce“: Der Göttinger Hain

Fast zeitgleich mit den Gruppenbildungen in Frankfurt und Darmstadt konstituierte sich in Göttingen eine weitere Verbindung junger Literaturinteressierter, die in den Umkreis des Sturm und Drang gehört. Organisatorischer Motor dieser Gruppe war der Jurastudent Heinrich Christian Boie (1744 – 1806), der schon im Januar 1772 feststellen konnte: „Wir bekommen nachgerade hier einen Parnassum in nuce. Es sind einige feine junge Köpfe da, die zum Teil auf gutem Wege sind. Ich suche |19◄ ►20| das Völkchen zu vereinigen.“ Inspiriert von Klopstocks Ode Der Hügel und der Hain kommt es am 12. September 1772 dann zur feierlichen Gründung eines ‚heiligen‘ Bundes, der unter dem Namen ‚Göttinger Hain‘ in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Wenige Tage danach, am 20. September berichtet Johann Heinrich Voß seinem Freund Theodor Johann Brückner noch ganz beseelt von dem Ereignis:

Ach, den 12. September, mein liebster Freund, da hätten Sie hiersein sollen. Die beiden Millers, Hahn, Hölty, Wehrs und ich gingen noch des Abends nach einem nahegelegenen Dorfe. Der Abend war außerordentlich heiter, und der Mond voll. Wir überließen uns ganz den Empfindungen der schönen Natur. Wir aßen in einer Bauernhütte eine Milch, und begaben uns darauf ins freie Feld. Hier fanden wir einen kleinen Eichengrund, und sogleich fiel uns allen ein, den Bund der Freundschaft unter diesen heiligen Bäumen zu schwören. Wir umkränzten die Hüte mit Eichenlaub, legten sie unter den Baum, faßten uns alle bei den Händen, tanzten so um den eingeschlossenen Stamm herum, – riefen den Mond und die Sterne zu Zeugen des Bundes an, und versprachen uns ewige Freundschaft. Dann verbündeten wir uns, die größte Aufrichtigkeit in unsern Urtheilen gegeneinander zu beobachten, und zu diesem Entzwecke die schon gewöhnliche Versammlung noch genauer und feyerlicher zu halten.

Anschaulich wird schon in diesem Gründungsdokument die Selbstinszenierung der Gruppe als gleichermaßen empfindsamer und naturverbundener wie deutschnationaler Zirkel, der zwar klein ist, aber groß denkt. Zu diesem selbst ernannten ‚Parnassum in nuce‘ gehörten anfangs Johann Heinrich Voß (1751 – 1826), Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748 – 1776), Johann Friedrich Hahn (1753 – 1779) und Johann Martin Miller (1748 – 1776) sowie dessen Vetter Gottlob Dietrich Miller (1750 – 1818 ), Johann Thomas Ludwig Wehrs (1751 – 1811) und natürlich Boie. Wenig später traten u.a. noch die Brüder Stolberg, ihr Hofmeister Carl Christian Clausewitz (1734 – 1795) und Johann Anton Leisewitz (1752 – 1806) dem Bund bei. Gleichsam assoziiert war außerdem Gottfried August Bürger (1747 – 1794). Dieser ‚Club der angehenden Dichter‘ traf sich in der Folgezeit regelmäßig zu stark ritualisierten Zusammenkünften, deren Ablauf von heute aus betrachtet fast komisch wirkt, wie ein kindliches Spiel: Durch Losentscheid wurde zunächst jeweils ein Ältester bestimmt, dann wurden Werke vorgelesen und bewertet und die Ergebnisse der Diskussionen schließlich in einem ‚Bundesbuch‘ festgehalten. Die Mitglieder des Bundes firmierten während dieser Sitzungen allerdings nicht unter ihren bürgerlichen Namen, sondern unter erfundenen oder Klopstocks Oden entlehnten Bardennamen: Voß trat erst als Gottschalk|20◄ ►21| und später als Sangrich auf, Boie als Werdomar, Hölty als Haining usw. Auch diese Umbenennungen mögen nur spielerisch wirken, doch sind sie durchaus programmatisch zu verstehen: Denn in dem Rekurs auf die Helden der germanischen Vorzeit artikuliert sich die entschiedene Abgrenzung des Bundes gegen die zeitgenössische Verzärtelung des Geschmacks und seine Einschreibung in eine germanische Tradition. Der Wegbereiter dieser Bardenmode, genauer: einer zwar erfundenen, aber gleichwohl identitätsstiftenden germanischen Mythologie war der schon mehrfach erwähnte Klopstock. Die Verehrung der Hainbündler für den Sänger des Messias (dessen erste Teile 1748 erschienen) und vaterländischer ‚Bardieten‘ wie Hermanns Schlacht (1769) nahm beinahe kultische Züge an und fand ihren Gipfel im Februar 1774 mit einem euphorisch begrüßten Aufnahmeantrag Klopstocks und seinem Besuch in Göttingen. Dadurch beglaubigte das Idol öffentlichkeitswirksam die von den Hainbündlern behauptete Genealogie, d.h. ihre ‚Abstammung‘ vom ‚Vater‘ Klopstock. Und er tat dies sicher einerseits aufgrund poetologischer Gemeinsamkeiten, andererseits aber aus werkpolitischen Gründen. Denn Klopstock war der erste freie Berufsdichter, der materiell unabhängig zu leben versuchte, überall nach „Commissionären“ und „Collecteuren“ für seine Werke fahndete und für die Deutsche Gelehrtenrepublik (1774) zur Zeit seines Besuchs gerade ein Subskriptionsmodell entwarf – modern gesprochen ging es auch um Marketing, um den Absatz seiner Bücher. In der Ode an Johann Heinrich Voß (1786) bedankte sich Klopstock für die Unterstützung: „Dank unsern Dichtern! Da sich des Kritlers Ohr / Fern von des Urtheils Stolze, verhörte; / Verliessen sie mich nicht“.

Den Gegenpart zu Klopstock bildete Christoph Martin Wieland (1733 – 1813). Abgelehnt wurde er als frankophiler ‚Wollustsänger‘, sprich: als prominenter Protagonist der prinzipiell von den Bündlern inkriminierten Verzärtelung des Geschmacks. Die Vielzahl der Herabsetzungen Wielands lässt sich nachgerade als „Kreuzzug der Hainbündler gegen Wieland“ (Poitzsch) interpretieren, der seinen Kulminationspunkt in einem veritablen Autodafé fand: Am 2. Juli 1773, anlässlich des Geburtstages von Klopstock, verbrannten die Mitglieder des Hainbunds ein Porträt Wielands und sein Versepos Idris.

Nicht verwundern kann, dass der Bund zwar ‚auf ewig‘ gegründet war, aber nicht ewig hielt. Ihren künstlerischen wie literaturpolitischen Zenit erreichte die Gruppe mit der Veröffentlichung des Musenalmanach auf das Jahr 1774, der alle jungen Autoren von Rang und Namen versammelte: neben Hainbund-Mitgliedern wie Hölty, Voß und den beiden Grafen |21◄ ►22| Stolberg auch Goethe, Herder und Klopstock. Danach begann allerdings der zügige Abstieg. Der produktions- wie wirkungsästhetische Drive des Bundes verlor sich in Folge des Weggangs der Studenten aus Göttingen. Immerhin konnte Boie im Oktober 1776 mit Stolz und Recht konstatieren: „Welche Schritte hat die deutsche Poesie gemacht seit Entstehung der Almanache.“

Literatur

Franziska Herboth: Satiren des Sturm und Drang. Innenansichten des literarischen Feldes zwischen 1770 und 1780. Hannover 2002, S. 43 – 96

|22◄ ►23|

2

„Lernt: Die Natur schreib in das Herz sein Gesetz ihm“: Ästhetik und Poetik

Trotz des intensiven Austauschs über Fragen der Literaturproduktion und -rezeption haben die Stürmer und Dränger keine einheitliche Programmatik formuliert und überhaupt fast vollständig auf die schriftliche Fixierung ästhetischer und poetologischer Konzepte verzichtet. Dass es dementsprechend keine Theorie(n) des Sturm und Drang, keine zusammenhängende Ästhetik dieser Bewegung gibt, erklärt sich aus ihrer grundsätzlichen Opposition gegen die Unterdrückung der künstlerischen Freiheit durch die Herrschaft der poetologischen Regeln, sprich: gegen die normative Poetik der Aufklärung. Auf die Formelhaftigkeit von Werken wie Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730, 4. Auflage 1751), die praktische Anleitungen zur Verfertigung von Dichtung und objektive, vorgeblich überzeitlich gültige Maßstäbe, zu ihrer Beurteilung aufstellten, reagieren die Autoren des Sturm und Drang mit einer radikalen Aufwertung der Subjektivität bzw. Individualität des Dichters. Nicht nach vorgegebenen Regeln soll Literatur also produziert werden, sondern aufgrund des jeweils angeborenen und weiterentwickelten schöpferischen Talents. In diesem Sinne ruft Klopstock in seiner Ode Ästhetiker aus: „Lernt: Die Natur schreib in das Herz sein Gesetz ihm.“ (Klopstock, S. 133) Und in der Programmschrift Die Gelehrtenrepublik (1774) erläutert er dazu: „Frag du den Geist, der in dir ist, und die Dinge, die du um dich siehst und hörst, und die Beschaffenheit des, wovon du vorhast zu dichten; und was die dir antworten, dem folge.“ (Ebd., S. 904)

 

Der Sturm und Drang hat folglich mindestens so viele – freilich implizite – Dichtungskonzepte wie Dichter hervorgebracht. Diese Subjektzentriertheit bedeutete dennoch keine absolute Regellosigkeit, sondern etablierte neue Regeln, ein neues ästhetisches ‚Grundgesetz‘: Literatur sollte nun ‚natürlich‘ und wahrscheinlich sein, und in ihrem Mittelpunkt sollten große, wahre Charaktere und ihre Leidenschaften stehen. Ausgehandelt|23◄ ►24| wurden diese neuen Regeln in der Auseinandersetzung um einige zentrale Begriffe bzw. Konzepte. Die Diskussion kreist gleichsam um wenige diskursive Kerne. Vorrangig geht es dabei um Genieästhetik und Volkspoesie. Diese beiden Kerne sollen im Folgenden jeweils knapp in ihre literarhistorischen Zusammenhänge eingebettet und anschließend anhand exemplarischer Texte erläutert werden.

Der Dichter als „second Maker“: Die Genieästhetik

Die Diskussion um den Geniegedanken setzt nicht erst mit dem Sturm und Drang ein, sondern war schon seit den 1750er Jahren zum zentralen Reflexionsgegenstand nicht nur der deutschen, sondern überhaupt der europäischen Literaturen aufgerückt. Geführt wurde diese Debatte entlang der Leitdifferenz, anhand derer im 17. Jahrhundert in Frankreich die so genannte Querelle des anciens et des modernes ausgetragen wurde: Kurz gesagt, stritten dort ‚Alte‘ und ‚Moderne‘ um das Verhältnis von ingenium und studium, um die Frage also, ob sich das Genie eher durch Talent und Begabung oder durch Gelehrsamkeit bzw. die Anwendung erlernter Regeln auszeichne.

Die deutsche Frühaufklärung und namentlich Gottsched hatte sich zwischen diesen Alternativen noch eindeutig für das studium entschieden. Poesie sei lehr- wie erlernbar, dekretiert Gottsched in seiner Critischen Dichtkunst, und ihr Hauptzweck sei moralische Belehrung. So berühmt wie berüchtigt ist sein ‚Rezept‘ zur Zubereitung von Literatur: „Zu allererst wähle man sich einen lehrreichen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte zum Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die man sich zu erlangen, vorgenommen.“ (S. 215) Das schöpferische Genie, die Phantasie hat in diesem vernunftbasierten Dichtungsverständnis offensichtlich keinen Platz. Gottscheds Position sah sich begreiflicherweise bald scharfen Angriffen ausgesetzt, vor allem durch die Schweizer Bodmer und Breitinger, die für eine Aufwertung der Neuheit und des Wunderbaren gegenüber der phantasiebereinigten Anwendung tradierter Regeln eintraten – was zu einem heftigen, gleichermaßen poetologischen wie literaturpolitischen Kampf zwischen diesen und bald vielen weiteren Kombattanten führte, der in Literaturgeschichten als ‚Zürcher Literaturstreit‘ geführt wird. Noch weiter in den Hintergrund verschoben wurde das Prinzip des studiums dann bei Christian Fürchtegott Gellert (1715 – 1769), der mittels seiner Literatur weniger auf den Verstand, als vielmehr auf das Herz seiner Leser, auf ihre Sinnlichkeit einwirken will. Gellert verfocht außerdem das Originalitätspostulat und |24◄ ►25| verstand sich als erster Originalautor der Deutschen, ja als erstes Originalgenie. Dennoch hielt selbst er noch an einigen Grundannahmen aufklärerischer Poetik fest, etwa am unterhaltend-lehrhaften Charakter der Dichtung und der Geltung poetischer Regeln der ‚Alten‘ Aristoteles, Horaz oder Quintillian.

Der entscheidende Einfluss für die Autoren des Sturm und Drang zur Radikalisierung dieser Tendenz hin zur Autonomie der Literatur und einem Selbstverständnis als quasi ‚gottgleicher‘ Schöpfer von originaler Kunst kam dann allerdings nicht aus Deutschland, sondern aus England. Dort war schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine lebhafte Auseinandersetzung um den Genie-Begriff in Gang gekommen. Shaftesbury etwa hatte den Dichter als ‚zweiten Schöpfer‘ charakterisiert: „Such a Poet is indeed a second Maker: a just Prometheus, under Jove.“ (Soliloquy or Advice to an Author, 1711). In diesem Sinne spielte auch Edward Young in seinem Buch Conjectures on original composition von 1759, das bereits 1760 in deutscher Übersetzung vorlag, die schöpferische Kraft gegen eine vernunftdominierte Regelpoetik aus: „Schönheiten, die man noch nie in Regeln vorgeschrieben, und etwas Vortrefliches, von dem man noch kein Exempel hatte, (und dies ist die Characteristik des Genies) diese liegen weit außer den Gränzzeichen der Herrschaft der Gelehrsamkeit und ihrer Gesetze.“ (Young, S. 29) Gerhard Sauder hat darauf hingewiesen, dass sich keine direkten Belege für die Rezeption von Youngs Schrift durch die Autoren des Sturm und Drang finden lassen. Seine Gedanken wurden aber offenkundig vermittelt rezipiert und in je unterschiedlicher Akzentuierung als argumentatives Gerüst der Geniekonzeption verwendet.

In der Nachfolge Youngs erheben die Autoren des Sturm und Drang den Dichter also in den Rang eines ‚zweiten Gottes‘, ernennen ihn zur beispielhaften Verwirklichung der allein aus sich schaffenden Subjektivität. Paradoxerweise verzichten sie dennoch nicht auf Vorbilder: Als exemplarisches neuzeitliches Genie gilt ihnen Shakespeare. Vorstellen wollen wir zwei literaturgeschichtlich besonders wirkungsmächtige literarische Positionierungen im Zeichen Shakespeares, und zwar zum einen Herders schlicht Shakespeare betitelten Aufsatz aus dem bereits erwähnten Band Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter (1773) und zum anderen Goethes im Jahr 1771 aus Anlass der Shakespeare-Feiern verfassten Text Zum Schäkespears Tag.

|25◄ ►26|

Das vorbildliche Genie I: Herders Shakespeare-Aufsatz (1773)

Herders Aufsatz über Shakespeare kommt von allen literaturtheoretischen Texten des Sturm und Drang einer Programmschrift am nächsten, da er die zentralen Gedanken und Begriffe der zeitgenössischen Diskussion behandelt und im Sinne der Straßburger Gespräche ausbuchstabiert. In diesem Aufsatz, rühmte ihm Goethe in Dichtung und Wahrheit dementsprechend nach, sei erfahrbar, „was damals in dieser lebendigen Gesellschaft gedacht, gesprochen und verhandelt worden“ (HA, Bd. 9, S. 494). Unmittelbar angeregt wurde er durch Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs (1737 – 1823) Versuch über Shakespears Werke und Genie in dessen Briefen über Merkwürdigkeiten der Literatur (14. – 18. Brief; 1766 – 1770 in vier Bänden erschienen). Gerstenberg hatte zwar das Genie Shakespeares betont und den Hauptzweck seiner Dramen in der „Zeichnung der Sitten, der sorgfältigen und treuen Nachahmung wahrer und erdichteter Charaktere, dem kühnen und leicht hingeworfenen Bilde des [...] animalischen Lebens“ in den „lebendigen Bildern der sittlichen Natur“ erkannt. An der Geltung der aristotelischen Regeln, an den drei Einheiten Zeit, Raum und Handlung sowie der Kanonizität der französischen Tragödie hatte er dabei aber festgehalten. Damit blieb er letztlich Positionen der Aufklärung verpflichtet, vergleichbar Lessing, der in seinen Briefen, die neueste Literatur betreffend (1759) von Shakespeares Genie gesagt hatte, das es „alles bloß der Natur zu danken zu haben scheinet“ (S. 72), dieses Genie aber innerhalb des traditionellen Gegensatzes von Natur und Kunst, von ingenium und studium verortet. Herder nun überwindet diesen Gegensatz bzw. leistet eine weiterführende Synthese der Ansätze Lessings und Gerstenbergs.

Im Wesentlichen unternimmt Herder zweierlei: Zum einen formuliert er seine Einsicht in die Geschichtlichkeit jeder Kunst, und zum anderen bestimmt er über das Vorbild Shakespeare den Geniebegriff neu. Zunächst also zum ersten Kern der Argumentation, dem Hinweis auf die Historizität von Kunstwerken. Herder vollzieht den Sprung von der quasi zeitlosen aufklärerischen Ästhetik zu einem Versuch historisch-genetischen Verstehens des jeweiligen Kunstwerks, indem er die Poetik von Aristoteles neu interpretiert – auf den Punkt gebracht: Er versteht sie im Gegensatz zu den Vertretern der Aufklärung und des Klassizismus nicht mehr als normativen „Regelnvorrat“, der „von der Lehre unzertrennlich“ ist (HW, Bd. 2, S. 499), sondern als Beschreibung des Theaters zu seiner Zeit. Begründet wird dieser Perspektivwechsel mit einer Geschichte des |26◄ ►27| griechischen Theaters in nuce: Die Kultur stand damals nämlich im Stadium der Kindheit, erläutert Herder, sei nicht modern zersplittert, sondern einfach und einheitlich gewesen. Dieser zeitgenössischen Erfahrung entspreche das damalige Theater: Aus einem Auftritt habe sich das griechische Drama entwickelt, bevor Aischylos die zweite und Sophokles die dritte Figur einführten. Und Aristoteles habe seinen Begriff des Dramas aus diesen Stücken gewonnen und Regeln aus ihnen abgeleitet, die demgemäß ursprünglich nicht ‚künstlich‘, sondern ‚natürlich‘ gewesen seien:

das Künstliche ihrer Regeln war – keine Kunst! war Natur! – Einheit der Fabel – war Einheit der Handlung, die vor ihnen lag; die nach ihren Zeit- Vaterlands-Religions- Sittenumständen, nicht anders als solch ein Eins konnte. Einheit des Orts – war Einheit des Orts; denn die Eine, kurze feierliche Handlung ging nur an einem Ort […] Und daß Einheit der Zeit nun hieraus folgte und natürlich mitging – welchen Kinde brauchte das bewiesen zu werden? (S. 501)

Von dieser historischen Herleitung der aristotelischen Einheiten aus erklärt sich Herders anschließende Polemik gegen die französischen Klassizisten, die „neuen Athenienser[] Europens“ (S. 503): Formal sei das Theater von Corneille, Racine oder Voltaire durchaus vollkommen, erläutert Herder, befolge es alle Regeln des vorbildhaften griechischen Theaters. Aber genau diese Regeltreue sei der kardinale Fehler des Klassizismus: Denn die Welt, der ‚Zeitgeist‘ (der eine Wortschöpfung Herders ist) habe sich seit den Zeiten des griechischen Theaters grundlegend gewandelt, und so haben sich auch die Bedingungen verändert, die dieses Theater hervorbrachten. Ignoriere man diesen Wandel und halte an notwendig überlebten Formen fest, entstehe ein erstarrtes Theater, das nur „Puppe“ sei, „Gemälde der Empfindungen von dritter Fremder Hand; nie aber oder selten die unmittelbaren, ersten, ungeschminkten Regungen, wie sie Worte suchen und endlich finden“ (S. 504). Dieses Ergebnis einer „Letternkultur“ (S. 499) vermöge den Zuschauer nicht zu emotionalisieren, weil es sozusagen ‚Papier‘ sei, nicht lebendig und sinnlich: „Das ganze ihrer Kunst ohne Natur, ist abenteuerlich, ist ekel!“ (S. 506)

Statt also nach Frankreich zu blicken und wie der französische Klassizismus die Griechen „nachzuäffen“ (S. 506), die viel zu fern seien, soll sich das deutsche Theater die Briten zum Vorbild nehmen, die mit Shakespeares Werk ein Drama aus ihren spezifischen (kultur-) historischen Rahmenbedingungen hervorgebracht haben. Erfunden seien dessen Stücke nämlich nach der britischen „Geschichte, nach Zeitgeist, Sitten, Meinungen, Sprache, Nationalvorurteilen, Traditionen, und Liebhabereien“ (S. 507) und es sei überdies aus dem Volk hervorgegangen, aus Fastnachts-|27◄ ►28| und Marionettenspiel. Dementsprechend sei Shakespeares ‚nordisches‘ Drama zwar auf – sinnbildlich wie geographisch – anderem Boden als das klassische griechische Drama entstanden, erziele aber dieselbe Wirkung, weil es ebenso ‚natürlich‘ bzw. ‚naturtreu‘ sei. Um nur ein Beispiel für diese Form der Natürlichkeit zu nennen: Während die Beschränkung des griechischen Dramas auf nur einen Ort, eine Zeit und eine Handlung der griechischen Simplizität entspreche, stimme die Vielfalt der Räume, Zeiten und Ereignisse in Stücken wie Othello, Macbeth oder Hamlet mit der komplexen zeitgenössischen Wirklichkeit überein.

 

Aber Herder bleibt nicht bei der Rekonstruktion des Shakespeareschen Theaters aus den Zeitumständen stehen, sondern, und das ist der zweite wichtige Angelpunkt der Argumentation, er konstatiert darüber hinaus die Einmaligkeit dieser Werke, das „Neue, Erste, ganz verschiedene“ (S. 508) an ihnen und profiliert damit den Geniebegriff neu. Belegt wird das exemplarische Genie Shakespeare von Herder mit den Attributen ‚natürlich‘, ‚groß‘ und ‚original‘: Natürlich wie original meint hier die je eigene Art des Künstlers, den aufrichtigen Ausdruck seiner Persönlichkeit, Shakespeares Persönlichkeit ist groß über Menschenmaß hinaus, ja mehr göttlich als menschlich. Gleich eingangs sieht Herder Shakespeares „Haupt in den Strahlen des Himmels“ (S. 498), und später apostrophiert er ihn als „Göttersohn“, als einen „Sterbliche [n] mit Götterkraft begabt“: als Dichter also, der aus sich heraus eine Welt erschafft, „das verschiedenartigste Zeug zu einem Wunderganzen“ (S. 508) zusammensetzt.

Ein kurzer Seitenblick bestätigt die prinzipielle Geltung dieser Konzeption für den Sturm und Drang: In analoger Weise nämlich argumentiert Goethe in seinem 1772 in Frankfurt erschienenen Aufsatz Von deutscher Baukunst, den Herder bezeichnenderweise in Von deutscher Art und Kunst erneut abdruckte. Goethe liefert hier gleichsam einen großen Prosahymnus auf Erwin von Steinbach, den Baumeister des Straßburger Münsters: Wie Shakespeare seine Werke, so hat das Genie Steinbach das Münster geplant und dabei die einzelnen Vorarbeiten in seiner Seele zu einem Kunstwerk zusammengesetzt, das viel mehr ist als die Summe seiner Teile. Gegenüber diesem übermenschlich großen Genie, das Goethe ausdrücklich „heilig [ ] “ (HA, Bd. 12, S. 12) nennt, erscheinen die anderen Menschen wie „Ameisen“ (S. 7) .

Aber zurück zu Herder. Die Entstehung des Kunstwerks wird von ihm folglich vollständig in die Subjektivität des Künstlers gelegt, ebenso wie die Rezeption vollständig in diejenige des Zuschauers, in dem die jeweils dargestellte Welt zur Einheit wird – und dementsprechend wird das Gefühl zum zentralen Maßstab des Verständnisses von Dichtung. Offenkundig|28◄ ►29| ausgehebelt ist damit die Geltung jeglicher Regeln. Der Aufsatz zielt darauf, den poetologischen Kanon zu verabschieden.

Doch so groß, so genial Shakespeare auch ist: Notwendig folgt aus der Einsicht in die Geschichtlichkeit aller Kunst, dass auch sein Werk veralten und schließlich unverständlich werden wird. Und mehr noch: Diese traurige Einsicht in die Vergänglichkeit betrifft ‚naturgemäß‘ auch die eigene Literatur – womit Herder seinen enthusiastischen Essay in einen für den Sturm und Drang insgesamt charakteristischen Pessimismus münden lässt. Aber immerhin, ruft er aus und wendet sich dabei an Goethe, dessen Götz von Berlichingen er 1772 gelesen hatte:

Glücklich, daß ich noch im Ablaufe der Zeit lebte, wo ich ihn begreifen konnte, und wo du, mein Freund, der du dich bei diesem Lesen erkennest und fühlst, und den ich vor seinem heiligen Bilde mehr als Einmal umarmet, wo du noch den süßen und deiner würdigen Traum haben kannst, sein Denkmal aus unsern Ritterzeiten in unsrer Sprache, unserm so weit abgearteten Vaterlande herzustellen. (S. 520f.)

Das vorbildliche Genie II: Goethes Rede Zum Schäkespears Tag (1771)

Im Gegensatz zu Herders umfangreichem und argumentativ weit ausgreifendem Essay ist Goethes Shakespeare-Text knapp geraten und erscheint auf den ersten Blick wie ein Nebenwerk; in der Hamburger Ausgabe seiner Werke umfasst er gerade einmal vier Druckseiten. Aber er bietet ein sowohl für das Verständnis des Sturm und Drang im Allgemeinen als auch für Goethes Werk im Besonderen wichtiges Seitenstück zu Herders Gedanken und er hat bis ins 20. Jahrhundert eine erhebliche Wirkung ausgeübt, namentlich deshalb, weil er als Keimzelle einer Nationalidentität des Deutschen gelesen wurde. Geschrieben wurde der kleine Text als Rede für den 14.10.1771, den protestantischen Namenstag für ‚Wilhelm‘, an dem in Straßburg eine Shakespeare-Feier geplant war, und lässt sich daher gewissermaßen als Botschaft an die dortigen Freunde begreifen – er wurde dann allerdings auf der Feier nicht verlesen, weil Franz Christian Lerse die Festrede hielt. Stattdessen, wie das Haushaltungsbuch von Rat Goethe belegt, kam die Rede am selben Tag im väterlichen Haus zum Vortrag.

Geistiger Nährboden auch dieser Rede waren die Straßburger Gespräche mit Herder über Kunst, Literatur und eben Shakespeare, und wenig verwunderlich sind daher die Parallelen zu Herders Shakespeare-Aufsatz: |29◄ ►30| So kreisen auch Goethes Überlegungen um die Zentralbegriffe Genie und Natur und bestimmen sowohl sie als auch ihr Verhältnis zueinander in offenkundiger Anlehnung an Herder: Das Genie Shakespeare habe im Wettstreit mit Prometheus ‚kolossalische‘ Figuren geschaffen, sie gottgleich mit dem „Hauch seines Geistes“ (HA, Bd. 12, S. 227) belebt und ihnen so Natürlichkeit verliehen. Emphatisch ruft er dementsprechend aus: „Natur! Natur! nichts so Natur als Schäkespears Menschen“. (S. 226)

Nur das Genie könne also Natur angemessen erfassen und wahrhaftig darstellen, und zugleich sei es selbst „persongewordene Offenbarung der Natur“ (GH, Bd. 3, S. 524) – die Begriffe werden letztlich ineins gesetzt. Zudem wendet sich die Rede wie Herders Essay vehement gegen die Gültigkeit der aristotelischen Einheiten: „Ich zweifelte keinen Augenblick dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft“ – und kündigt den „Herrn der Regeln“, also den Aufklärern, dann kämpferisch eine regelrechte „Fehde“ an (HA, Bd. 12, S. 225). Schließlich findet sich hier ebenfalls die spöttische Wendung gegen das ‚unnatürliche‘ französische Theater, sprich dessen Nachahmung griechischer Muster: „Französchen, was willst du mit der griechischen Rüstung, sie ist dir zu groß und zu schwer. Drum sind auch alle Französische Trauerspiele Parodien von sich selbst.“ (S. 225)

Doch Goethes Text erschöpft sich nicht darin, Herdersche Gedanken noch einmal leicht variiert auszubuchstabieren, sondern setzt einen ganz eigenen Akzent. Auf den Punkt gebracht: Während Herder über Shakespeare nachdenkt, fühlt Goethe als typisches Individuum des Sturm und Drang sich ein. Gleich eingangs gesteht er, „wenig über Schäckespearen gedacht“ zu haben; stattdessen habe er „geahndet, empfunden“ (S. 224). Und diese Bemerkung ist nicht rhetorisch, als floskelhafte Bescheidenheitsgeste zu verstehen, sondern durchaus programmatisch. Denn Goethe entwirft seine Shakespeare-Lektüre als quasi religiöses Erweckungserlebnis, das weniger seinen Verstand, als vielmehr sein Gefühl affiziert und folglich primär eine sinnliche Qualität habe. Diese plötzliche, sinnliche Einsicht in das Wesen von Shakespeares Kunst übersetzt Goethe in eine Lichtmetaphorik:

Ich erkannte, ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert, alles war mir neu, unbekannt, und das ungewohnte Licht machte mir Augenschmerzen. Nach und nach lernte ich sehen, und, dank sei meinem erkenntlichen Genius, ich fühle noch immer lebhaft, was ich gewonnen habe. (S. 225) [unsere Hervorh.]

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?