RAF oder Hollywood

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1965

Der Circus Krone hatte seinen Hauptsitz in München, ein sozusagen steinernes Zirkuszelt, das als Winterquartier diente. Es lag im Zentrum der Stadt in der Nähe des Hauptbahnhofs und im Sommer fanden dort kulturelle und politische Veranstaltungen statt. Dreitausend Menschen passten hinein, das hieß, was dort stattfand, war Stadtgespräch.

Für den Mai waren dort die Rolling Stones angekündigt. Ihr neuestes Lied »I can’t get no satisfaction« war gerade herausgekommen und in aller Munde beziehungsweise in aller Ohren. Ich fand den Song gut, vor allem aber seine Botschaft sprach mir aus tiefstem Herzen: Alles, wirklich alles, was diese Welt zu bieten hatte, war unbefriedigend.

Fips bevorzugte die Richtung der »Protestsongs«, also Musiker wie Bob Dylan, der mit »Blowin’ in the wind« das Leben eher philosophisch in Frage stellte oder Donovan, der mit seinem Song »Universal soldier« direkt die Politik beziehungsweise die Politiker angriff – ich fand die zu schmalzig. Ebby, der sowieso der Lässigste war und über allem stand, weil er schon Zigaretten rauchte, stimmte mir in dieser Beziehung zu, fand aber wiederum die Stones zu primitiv und bevorzugte die Beatles, die ich meinerseits als angepasst verurteilte.

Julia legte sich in dieser Hinsicht nicht fest, fand aber die Idee attraktiv, zusammen mit mir zu den Stones zu gehen. Also bearbeiteten wir unsere Eltern so lange, bis sie das Geld für die Eintittskarten herausrückten, die für unsere Verhältnisse unvorstellbar teuer waren. Ich fuhr extra in die Innenstadt, um am Schalter des Circus Krone die Karte zu erstehen.

Endlich war es so weit. Wir hatten einen seitlichen Logenplatz der rund um die Bühne gebauten, steil ansteigenden Sitzreihen, sodass wir die Bands zwar nur im Profil sehen konnten, dafür aber ganz aus der Nähe. Unsere Geduld wurde unendlich strapaziert – der Aufbau und die Einstellung der Verstärker wollte und wollte kein Ende nehmen.

Schließlich kam ein junger Mann in einer Arbeits-Latzhose auf die Bühne und das Publikum jubelte auf. Es war aber keiner von den Stones, sondern Eric Burdon – wie Julia wusste – von einer der Vorbands, den Animals, deren Name mir sympathisch war und mich an Hötzl erinnerte. Es wurde sofort deutlich, dass er mehr Ahnung von der ganzen Technik hatte als all die Schlamper, die bis dahin unsere Zeit gestohlen hatten – er nahm die ganze Sache in die Hand und zehn Minuten später begann tatsächlich die erste Gruppe zu spielen.

Bis dahin hatte ich nur davon gehört, dass es bei derartigen Konzerten ungebührlich laut und undiszipliniert zugehen solle, worüber sich die Spießer aller Welt mit Schaum vor dem Mund aufregten. Mehr noch bei den Beatles, aber auch bei den Stones, fielen angeblich vor allem Mädchen und junge Frauen vor Begeisterung reihenweise in Ohnmacht – so wild war es in Wirklichkeit nun auch wieder nicht, aber das Geschrei doch ziemlich laut; da wir so nah an der Bühne saßen, konnten wir noch alles gut hören. Ich selbst war mir zu fein, aufzuspringen und rumzugrölen, Julia sowieso.

Als die Animals spielten, die letzte Gruppe vor der Pause, nach der die Stones kamen, spürte ich freilich doch ein gewisses Zucken und Bedürfnis, meiner Begeisterung lautstark Ausdruck zu geben, riss mich aber zusammen, um mich vor Julia nicht zu blamieren. Doch während der qualvoll lange erwartete Augenblick tatsächlich Wirklichkeit wurde und erst Charlie Watts durch den Vorhang aus den Garderoben schlüpfte und sich stoischen Blickes hinter sein Schlagzeug zwängte, dann der Blondschopf Brian Jones lächelnd zu seiner Gitarre federte, die neben seinem Mikrofonständer auf ihn wartete, brauste ein derartiger Jubel auf, dass es mich nicht mehr auf dem Sitz hielt und ich wie alle anderen auch aufspringen musste! Und als zuletzt Mick Jagger lässig auf die Bühne schlenderte, brach ein Tosen und Toben aus, wie ich es mein Lebtag noch nicht erfahren hatte – ich vergaß alles, was ich mir vorgenommen hatte, verlor jegliche Kontrolle über mich, fuchtelte wild mit meinen Armen in der Luft herum und schrie mir die Kehle heiser, völlig außer Rand und Band.

Auch die sonst so zurückhaltende Julia kannte nichts und niemanden mehr, schrie, hüpfte und tanzte zur Musik und strahlte mich glücklich an. Zum Glück saßen wir so nah an der Bühne, dass wir überhaupt noch ein wenig von der Musik hören konnten – der Jubel war im unmittelbaren Sinne des Wortes Ohren betäubend. Aber als dann der alles übertreffende Höhepunkt, dem gegenüber das Vorherige nur laues Vorspiel schien, Wirklichkeit geworden war, nämlich als Mick Jagger »I can’t get no« anstimmte, steigerte sich, so unvorstellbar es sein mochte, der Krach- und Jubel-Pegel ein weiteres Mal und wir konnten tatsächlich, trotz unserer Nähe zum Podium, fast nichts mehr hören – nur sehen, wie Mick Jagger sich wie eine Schlange um den Mikrofonständer wand und das Mikro zu verschlingen schien.

Nur langsam kehrten nach dem Ende ein ruhigerer Herzschlag und der Verstand wieder. Ich sah Rot-Kreuz-Helfer mit Bahren sich durch das hinausströmende Publikum zwängen. Ein wenig fühlte ich mich wie früher, als ich noch in die Messe gegangen war und hinterher erleichtert und geläutert herauskam.

Von nun an besuchte ich jedes Konzert, für das ich eine Karte bekam oder das ich mir leisten konnte. Als es bei den German Bonds einmal nicht klappte, versuchte ich, durch das Klofenster einzusteigen, vom Fieber der nach draußen dringenden Musik und dem Jubel der Zuschauer beflügelt, aber ich blieb stecken und kam nur noch schwer wieder heraus. Doch die Befriedigung war nie wieder so groß wie nach »I can’t get no satisfaction«.

Dafür ergatterte ich mir bei einem Konzert der Beach Boys, die zwar langweilige und kitschige Musik machten, aber Angelika, meiner Schulkameradin, gefielen, meinen ersten Kuss – ganz hinten in der letzten Reihe der Empore, während die Beach Boys »good, good, good vibrations« schmalzten.

In diesem Sommer gingen wir, also Fips, Ebby und ich, nach der Schule bei gutem Wetter immer erst ins Eiscafé Rialto und dann an den Eisbach, der am Rande des Englischen Gartens entlangfloss. Wir hatten eine vom Weg kaum einsehbare Stelle gefunden, an der wir ungestört sitzen, quatschen oder auch baden konnten. Fips und ich aßen Eis, Ebby rauchte.

Ebby konnte kreisrunde Kringel aus Zigarettenrauch ausblasen. Er hatte gerade, den Kopf weit zurückgelehnt, drei perfekte ausgetoßen, da sagte er: »Dieses ganze Demokratiegesäusel von Weinzierl, Hötzl und Konsorten schmeckt mir nicht.«

Fips kicherte: »Lass sie doch, sie können nicht anders!«

»Ebby hat recht«, entgegnete ich, »das waren doch nur ein paar Hanseln, die sich da auf der Agora wichtig gemacht hatten, Faulenzer und Ausbeuter, die von der Knochenarbeit ihrer Sklaven lebten, was hat das mit ›Herrschaft des Volkes‹ zu tun? Gehörten die Sklaven nicht zum Volk? Sind doch auch Menschen?!«

Fips beugte sich über den Bach, tauchte seine vom Eis klebrigen Hände ein, spülte sie und wusch sich Mund und Gesicht. Dann schüttelte er den Kopf: »Du immer gleich!«

»Immerhin ham sie’s erfunden«, gab Ebby zu bedenken und sandte drei weitere Kringel aus.

»Aller Anfang ist schwer«, sagte Fips und knabberte an seinen Fingernägeln.

Der Bach rauschte wild.

»Verlogen ist es trotzdem irgendwie«, fand Ebby, »andererseits.«

»Es stimmt einfach nicht«, beharrte ich, »wenn nicht alle davon was haben.«

»Was nicht ist, kann ja noch werden«, meinte Fips.

»Wie lange wollen wir denn noch warten?«, rief ich, »ist doch heute nicht anders als damals, allenfalls äußerlich und pro forma. Wie viele Menschen bestimmen denn wirklich die Politik?« Ich schüttelte den Kopf: »Und in den meisten anderen Ländern erst recht schon gleich gar nicht!«

»Du wirst noch platzten mit deiner Ungeduld«, sagte Fips kichernd und watete ein paar Schritte in den Eisbach.

Ebby lachte meckernd und drückte seine Zigarette aus.

»›Die Politiker sind die Diener des Volkes‹«, schimpfte ich. »Guck sie dir doch an, Strauß und Konsorten, ein einziger Selbstbedienungsladen. Sie bedienen sich am Volk, das ist alles.«

Ebby streckte sich: »Alles ist einerseits, andererseits, es gibt schon auch Ausnahmen, Wehner102 zum Beispiel!«

»Okay«, wandte ich ein, »unser Bürgermeister103 meinetwegen, fährt morgens mit der Straßenbahn ins Rathaus und nicht mit dem Dienstmercedes, arbeitet dabei sogar schon in seinen Akten, das ist ein Diener des Volkes.«

»Ausnahmen bestätigen die Regel«, kicherte Fips.

»Danke«, sagte ich und watete ins Flüsschen.

An einem sonnigen Sonntagmittag klingelte es an der Haustür. Wir waren gerade erst aufgestanden, weil in der Nacht zuvor eine rauschende Party zum Geburtstag meiner Mutter stattgefunden hatte; überall standen prächtige Blumensträuße, die von den Reflexionen der durch die vollverglaste Wohnzimmerfront einfallenden Sonnenstrahlen rot-gelb-blau-violett-grün glitzerten – als ob ein Regenbogenartiger Schimmer das ganze Haus erstrahlen ließ. Meine Mutter zog sich schnell einen Morgenmantel an und versuchte, ihre zerstrubbelten Haare einigermaßen zurechtzuschieben, während ich die Treppe herunter hastete, sodass wir zusammen öffneten.

Vor der Tür stand ein Kollege104 meiner Mutter vom Bayrischen Rundfunk, wo sie inzwischen freiberuflich arbeitete, einen riesigen Blumenstrauß in der Hand. Ein blond-blauäugiger Hüne, der Inbegriff des Vollblutariers, dem eine goldene Locke affektiert auf seine Stirn fiel, sein Markenzeichen. Er war schon öfters zum Kaffeetrinken dagewesen, verehrte meine Mutter, was nicht unbedingt von ihr erwidert wurde, redete – leicht lispelnd – so gewählt wie gestelzt und hatte stets etwas schmachtend Leidendes an sich.

 

»Verehrteste!«, begrüßte er meine Mutter, »welch ein Glückstag für uns alle, dass Sie außerordentliche Frau geboren wurden!« – und überreichte ihr den Blumenstrauß.

»Ach, das ist ja reizend von Ihnen«, bedankte sich meine Mutter, ihre Verlegenheit nur mühsam verbergend, »kommen Sie doch rein!« Sie trat etwas zurück und wies mit ihrer freien Hand in den Gang.

Da entdeckte er, dass das ganze Haus voller Blumen war, also eine Party stattgefunden hatte – zu der er nicht eingeladen gewesen war.

Sein Blick vereiste.

Ich rannte kichernd die Treppe hoch, um Sabine zu berichten. Wir amüsierten uns köstlich über diesen »blasierten Germanen« und kosteten mit Schadenfreude die peinliche Situation für meine Mutter105 aus, obwohl sie ja recht gehabt hatte, ihn nicht einzuladen.

Dabei war er nicht der Einzige, über den wir uns gerne lustig machten.

Eines unserer Lieblingsopfer, über die wir uns heimlich mokierten, war Ulrich Sonnemann106. Der war zwar wirklich sehr nett und hatte auch immer ein Späßchen für uns Kinder auf Lager – und ein wohlgesetztes Kompliment für meine heranblühende Sabine! –, aber er war Philosophieprofessor und trug das wie einen Rettungsring-großen Heiligenschein mit und um sich herum.

Die jährliche Sommerparty fand immer im Garten statt, das Buffet war in der Doppelgarage aufgebaut, am Schwimmbad war der Filterdurchlauf angestellt, was hieß, dass aus einem Rohr mit vielen kleinen Löchern am unteren Ende des Pools Wasser wie ein kleiner Springbrunnen sprühte, das abgesaugt und durch den Filter gereinigt wieder herausgesprüht wurde; zu später Stunde sprangen die Gäste mehr oder weniger bekleidet dort hinein.

Sonnemann stand nachmittags zu Beginn der Party neben dem rauschenden Wasser, die Pfeife in der Hand und dozierte – wegen des lauten Rauschens mussten seine Zuhörer sich nah zum ihm hinbeugen.

»Das macht der extra«, sagte ich zu Sabine, »damit sie sich quasi vor ihn hinknien müssen!« Sabine prustete. Seit er ihre Schönheit hochgelobt hatte, lästerte sie sparsamer.

Aber später am Abend, als es schon dunkel war und die Gäste sich in kleinen Gruppen unter der Holzveranda, im chinesischen Holzhäuschen hinter dem Haus oder um den tiefergelegten Grillplatz neben dem Schwimmbad versammelt hatten, kam sie plötzlich kichernd in mein Zimmer, wo ich es vorzog, die neue Schallplatte der Beatles zu hören, und sagte: »Das musst du sehen!« Gespannt folgte ich ihr. Wir schlichen über die Außentreppe vor der Küche herunter in den Garten bis zur Schiebetür, die zur Veranda führte. Leise öffnete Sabine einen Spalt und wir lugten hindurch:

In der hinteren Ecke der Veranda saß Pfeife schmauchend der Professor107, das Licht der über ihm hängenden japanischen Papierlampe blinkte aus den Gläsern seiner übergroßen schwarzen Hornbrille, und verkündete milde lächelnd der Weisheit letzten Schluss. Andächtig und ergriffen lauschend saß ein Kreis von Gästen um ihn herum, ernsten Blickes seine funkelnden Geistesblitze bedenkend. Die Heiligkeit dieses Moments triefte mit bedeutungsschweren Tropfen aus allen Poren.

Sabine zog vorsichtig die Tür zu, damit Sonnemann und seine Jünger unser Kichern nicht hören konnten.

1966

Unser neuer Religionslehrer verkörperte das Gegenteil dessen, was ich bisher als Religionslehrer kennengelernt hatte: Er war nicht dünn, sondern dick, er war nicht schwarz, sondern bunt gekleidet, er war nicht ernst und gefasst vergeistigt über den Wolken schwebend, sondern handfest, humorvoll und lebenslustig.

Eine Diskussion darüber, dass Gott ein Trugbild war, ließ er allerdings nicht aufkommen: »Gott macht das Leben lebenswert«, verkündete er fröhlich, »er gibt uns die Freude und den Spaß!« Ich fand, dass er es sich damit etwas zu einfach machte, schließlich gab es genügend Menschen, denen das Leben aus guten Gründen überhaupt keinen Spaß machte, aber es war mir zu anstrengend, das zu diskutieren – er war wie eine Gummiwand, zwar weich und lustig wie auf dem Spielplatz früher, aber undurchdringlich.

Als er freilich in einer Stunde mal wieder damit anfing, dass die Werte »Gerechtigkeit«, »Mitmenschlichkeit« und »Liebe zur Kreatur als solcher« von Gott unabänderlich gesetzt seien, platzte mir der Kragen: »Warum sehen wir dann nirgends etwas davon?«, fragte ich. »Die Ungerechtigkeit auf der Erde wird doch eher immer größer als kleiner! Wenn alle Menschen Nutznießer der Schätze der Erde sind: Warum gibt es dann den Unterschied zwischen Arm und Reich?«

Er lächelte verschmitzt. »Gute Frage!«, lobte er mich. »Damit kommen wir nämlich zum Kern der Sache!«

Da war sie wieder, die Gummiwand.

»Das zu verwirklichen«, fuhr er fröhlich fort, »ist doch nicht Sache Gottes, sondern« – und nun kam die einstudierte Kunstpause, die er immer einlegte, bevor etwas Bedeutendes kam – »unsere Sache!«

Er lehnte sich zurück und wartete die Wirkung dieser – wie er wohl meinte – überraschenden Erklärung ab.

»Das ist es doch«, erläuterte er, »was das Leben so reich und vielfältig, so erfüllend macht: Wir haben eine Aufgabe!« Er strahlte uns an: »Das ist doch der Sinn des Lebens, nach dem alle suchen, die Gott noch nicht erkannt haben« – er wurde richtig gemütlich feurig – »dass wir immer und überall dafür kämpfen müssen, dass Gerechtigkeit tatsächlich und endlich für alle Wirklichkeit wird!«

»Und wie geht das Kämpfen?«, fragte ich.

»Bei uns selbst müssen wir anfangen«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen, bevor irgendeine weitere Frage aufkam, »bei uns und in unserem unmittelbaren Umfeld, mehr geht sowieso nicht, und, das ist das Schwerste, daran besteht kein Zweifel, wir müssen Geduld haben, Geduld, Geduld und wieder Geduld.« Er holte kurz Luft und setzte sofort wieder zum Sprechen an, bevor ich meine nächste Frage loswerden konnte: »Das ist es doch, wofür wir Gott so unendlich dankbar sein dürfen: dass wir gar nicht nachzudenken brauchen, was unsere Arbeit hier auf Erden ist, sondern jederzeit und überall wissen, was wir zu tun haben: den Willen Gottes in die Tat umzusetzen und Gerechtigkeit unter den Menschen endlich – da geb ich dir recht, Wackernagel – lebendige Tatsache werden zu lassen.«

Damit erübrigte sich meine nächste Frage, nämlich, was denn die hungernden Kinder in China davon hätten, wenn ich hier in Deutschland, wo jeder Bettler im Vergleich zu ihnen reich war, in meinem Umkreis für etwas mehr Gerechtigkeit sorgte oder, wie man es uns als Kindern immer gesagt hatte, meinen Teller aufaß, weil sie nichts auf dem Teller hatten:

»… gar nicht nachzudenken brauchen!« – darum ging es bei dem Glauben.

Denn wenn man nachdachte, fiel man in das tiefe schwarze Loch.

Einer der Freunde meiner Alten war Leiter des »Theater der Jugend« in Schwabing. Er hieß Wolfgang Jobst, hatte lange graue Haare und trug stets eine speckige Lederweste. »Du kannst doch bestimmt gut spielen«, sprach er mich eines Tages an, als ich von er Schule kam und er mit meiner Mutter im Garten saß, »bei der Mutter!«

Ich zuckte mit den Achseln. Sabine wollte brennend Schauspielerin werden – ich auf keinen Fall. »Immer das Gleiche«, antwortete ich.

»Ich brauch noch einen Jungen in deinem Alter für mein neues Stück«, kam er daraufhin direkt zur Sache, »hast du keine Lust? Kannst Geld verdienen!«

Letzteres klang interessant. Ich wollte unbedingt ein Schlagzeug haben und mit Fips, Ebby und einem Verehrer von Sabine, der schon studierte, eine Band gründen – der Name stand schon fest: »the sad classics«. Auch welche Stücke wir nachspielen sollten, wusste ich genau, vor allem »Cadillac« von den Renegades, weil Julia das so liebte. Den Anfang des Stückes konnte ich schon auf der Tischplatte trommeln und hatte ihn Julia vorgespielt – daraufhin hatte sie quirlig gelacht, wie ich es so liebte an ihr, und ich war glücklich gewesen. Aber die Alten rückten das Geld nicht heraus.

Und so ging ich nach der Schule nur ein paar Straßen weiter ins »Theater der Jugend« am Hohenzollernplatz, aß in der Kantine Würstchen und Kartoffelsalat oder Nudeln, die ich von den Spesen, die ich bekam, selbst bezahlen konnte, hatte dann jeden Tag Probe in meiner Rolle als »Fuchs«, machte nebenher meine Hausaufgaben und kam erst abends nach Hause, was sehr spannend war und die Sache allein schon wert machte.

Vor allem aber konnte ich, als ich gegen Ende der Probenzeit mein erstes Geld bekam, endlich das Schlagzeug kaufen und sofort mit den Bandproben bei uns im Keller beginnen. Da ich das Ganze initiiert hatte, schlug ich auch immer vor, was und wie und wann wir spielten und es schien den anderen gerade recht zu sein. Schnell hatten wir genügend Stücke zusammen, um auf der nächsten Party meiner Eltern auftreten zu können.

Als wir bei einer der letzten Proben vor der Premiere in unseren Kostümen mitten im Bühnenbild saßen und eine kleine Pause machten, erzählte ich den anderen davon und wollte vor allem vor Jobst angeben.

»Ich bin jetzt Bandleader!«, prahlte ich, sprang auf und trommelte den Anfang von »Cadillac« auf einer Stuhllehne, »wir können schon ganz viele Stücke, auch von den Troggs, von Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick and Tich und sogar Jimi Hendrix!«

Jobst, der eben noch mit uns gescherzt und gelacht hatte, wurde plötzlich sehr ernst.

»Setz dich mal wieder hin«, sagte er, beugte sich auf seinem Stuhl vor und sah mich intensiv an.

»Was heißt ›leader‹ auf Deutsch?«, fragte er.

»Führer«, übersetzte ich eher unwillig.

»Dieses Wort«, fuhr Jobst an alle gewandt, fort, »kann man in Deutschland nicht mehr aussprechen.«

Ich wurde rot vor Scham.

»Der so Bezeichnete – ihr wisst alle, von wem ich rede – hat so viel Unheil über die Welt gebracht, dass wir ein für alle Mal unsere Lehren daraus ziehen müssen«. Nun lächelte er wieder und sah mich an: »Du hast es zwar nicht so gemeint und auf Englisch merkt man es nicht so – aber es ist das Gleiche: Das hast du gar nicht nötig, Christof!«

Ich hätte mich ohrfeigen können – das hätte mir nicht passieren dürfen! Ich hatte doch auch nur mit der Musik angeben wollen, nicht mit der Rolle, die ich dabei spielte. Am liebsten wäre ich weggelaufen.

»Menschen«, schloss Jobst, »brauchen keine Führer. Das unterscheidet uns von Tieren – Tiere können nicht anders, als dem Leithammel zu folgen. Das ist das Erste, was wir an Hitler, der furchtbarsten Form von Führer, zu lernen haben.«

Er stand auf, die Probe ging weiter.

»Aber, weil sehr viele Menschen eben doch noch verführbar sind«, sagte er wie nebenbei, »dürfen wir nicht das geringste bisschen zulassen, das wieder in diese Richtung führt.«

Ich sagte den Rest der Probe nichts mehr. Zuhause ging ich sofort in mein Zimmer. Die Wunde brannte tief.

Klaus Hehl war zwar ein Freund meiner Schwester Sabine, aber wir befreundeten uns schnell auch unabhängig von ihr. Er war Abiturient und hatte eine sehr tiefe Stimme, die ihn älter wirken ließ, als er war, und etwas Ehrfurcht, fast Autorität Gebietendes an sich hatte. Er lebte ganz in unserer Nähe in einem kleinen, mit Büchern überladenen Zimmer, in dem ich ihn eine Zeitlang so oft es ging besuchte und mit ihm über die Bücher, von deren Inhalt er mir entweder nur berichtete oder die er mir zum Lesen mitgab, diskutierte.

Eines der spannendsten Bücher, das ich durch ihn kennenlernte, war Sigmund Freuds »Unbehagen in der Kultur«. Ich war begeistert davon, wie einfach es sich für einen Fünfzehnjährigen lesen ließ, es bestätigte alle meine Erkenntnisse über das Blendwerk der Religion und es bestätigte meine Erfahrungen mit dem Zauber- und Feuerwerk der Sexualität, die ich meiner Freundin Angelika an schönen Sommernachmittagen in den buschigen Ufern der Isarauen, begleitet von Rotwein und hinterher einer »Overstolz« zu verdanken hatte; sie hatte auf der Odenwaldschule schon mit zwölf damit begonnen. Sexualität war das Zentrum des Daseins überhaupt!

Und wir hatten zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte das Glück, sie so unbeschwert wie entfesselt zu genießen! Als meine Mutter – ihr Mutterinstinkt hatte es wohl gespürt –, ausgerechnet als ich von dem ersten dieser Isartreffen zurückkam und unbemerkt in mein Zimmer hochschleichen wollte, aus dem Wohnzimmer geschossen kam und, auf den ersten Treppenstufen stehend, zu mir, der ich schon fast oben war, hoch rief: »Du kannst mit den Mädchen machen, was du willst, aber bring mir kein Kind nach Hause!« – da konnte ich sie beruhigen: »Wozu gibt es die Pille?« Und lässig fügte ich hinzu: »Mach dir mal keine Sorgen! Wir haben das im Griff: Wir müssen nicht aufpassen!«

 

Wenn also Freud schrieb Das Glücksgefühl bei Befriedigung einer wilden, vom Ich ungebändigten Triebregung ist unvergleichlich intensiver, als das bei Sättigung eines gezähmten Triebes108, dann aber, wie ich bei einem Spaziergang mit Klaus Hehl neben den Schienen der S-Bahn, die unser beider Wohnungen trennte, zusammenfasste, »uns damit kommt, man müsse die Sexualität unterdrücken, um mit der dadurch erzeugten Energie, Kunst und Kultur erschaffen zu können, also praktisch nach dem Motto: ohne Unterdrückung des Sexualtriebes keine zivilisierte Gesellschaft, kann er mir den Buckel runterrutschen. Das stimmt einfach nicht.«

Klaus Hehl lachte in seinen tiefsten Basstönen. »So steht das da nicht drin«, behauptete er, »auch wenn man das sinngemäß und stark vereinfacht so darstellen könnte. Freud beschreibt nur, wie es ist; den Zusammenhang zwischen Beherrschung von Sexualität und Entstehung von Kultur, er sagt nicht, dass es so sein sollte.«

»Aber er tut so, als ginge es nicht anders!«

Klaus Hehl schüttelte den Kopf: »Die ganze Sache verhält sich schon etwas komplexer.«

Eine S-Bahn fuhr vorbei und ich musste schreien: »Nein! Man darf die Sachen nicht unnötig komplizieren! Man muss zum Kern der Sache kommen.«

»Wild und ungebändigt sind die Tiere«, wandte Klaus Hehl ein. »Die Menschheit hat lange genug gebraucht, um davon wegzukommen – und es sind ja noch lange nicht alle so weit! Dabei spielte die Zähmung des unkontrolliert ausbrechenden Sexualtriebs eine wesentliche Rolle.«

»Aber die Zeiten sind vorbei!«, rief ich. »Vielleicht war das ja nötig, um dahin zu kommen, wo wir jetzt sind, aber jetzt: jetzt brauchen wir das nicht mehr.«

»Und woraus leitest du das ab?«, fragte Klaus Hehl.

Das konnte ich so unmittelbar nicht beantworten.

Schweigend liefen wir an den Bahngleisen entlang. Das war das Tolle an den Diskussionen mit Klaus: Man konnte auch zusammen schweigen.

»Mit einer Frau zu schlafen ist das Schönste, was es gibt«, begann ich schließlich erneut, »das kann einfach nicht sein, dass sowas unterdrückt werden muss.«

Klaus Hehl lächelte und sagte nichts.

Wieder liefen wir lange schweigend nebeneinander.

»Es ist genau umgekehrt«, wurde mir plötzlich klar: »Wenn man mit einer Frau geschlafen hat, kommen einem erst richtig die Ideen und man bekommt so gute Laune, dass man Lust hat, Musik zu machen oder zu malen oder zu dichten und was es alles gibt!«

Klaus Hehl blieb stehen und sah mich an. Er überlegte lange. Dann sagte er:

»Das ist Utopie. Vielleicht ist das in ein paar hundert Jahren so weit. Im Moment müssen wir davon ausgehen, wie es jetzt ist, ob es uns passt oder nicht.«

Ich seufzte, zuckte mit den Achseln, ging weiter und sagte: »Das sagt Julia auch immer: ›s’ist halt so‹ – das macht mich rasend, das halte ich nicht aus!«

Zuhause ging ich in Sabines Zimmer und erzählte ihr von dem Gespräch, obwohl sie gerade Hausaufgaben machen musste. Ich fragte sie, ob sie schon mal mit Klaus geschlafen habe, weil ich wissen wollte, wie das war als Frau, also ob es auch so toll war, wie ich es erlebt hatte. Sie antwortete nicht, wurde aber rot, sah weg und fragte dann leise, aber aufgeregt: »Kann ich mich hundertprozentig drauf verlassen, dass du nichts verrätst?«

Ich war beleidigt, dass sie diese Frage überhaupt stellte – und gespannt wie ein Flitzebogen!

Sie nahm ihr Handtäschchen und suchte umständlich darin herum, bis sie ein Passfoto herausgekramt hatte, das sie mir verlegen kichernd gab:

Ein pechschwarzer Mann sah mich an! Er hatte den typischen leeren Passfotoblick und dicke Lippen. War das etwa ihr –?

»Das ist Calistus«, erklärte Sabine, »er kommt aus Nigeria!«

»Und mit ihm hast du?«

Sie strahlte glücklich. »Wir haben uns ein Hotelzimmer gemietet.«

Ich bewunderte meine große Schwester, sie war einmalig!

»Wir mussten so tun, als seien wir verheiratet«, berichtete sie, »und wir wollen in Gretna Green109 heiraten, bevor er zurück muss – dann gehe ich mit nach Nigeria.«

Das klang zwar spannend, aber die Aussicht, Sabine zu verlieren, fand ich weniger schön.

»Dann kannst du uns dort besuchen – Afrika ist wunderbar«, schwärmte sie110. »Wir werden es paradiesisch schön haben.«

Das alles war wahnsinnig aufregend und es war klar, dass unsere Alten das überhaupt nicht gut finden würden. Obwohl ich bei dem Gedanken, dass meine Schwester dann sehr weit weg wohnen würde, traurig wurde, überlegten wir, welche Rolle ich spielen könnte, um die Alten abzulenken. Wir beschlossen, darauf zu dringen, endlich wieder einmal Gaby in England besuchen zu dürfen – von dort könnte Sabine dann leicht nach Gretna Green abhauen.

Wahrscheinlich war das ein Fehler gewesen.

Als ich ein paar Tage später nach Hause kam, empfing mich meine Mutter hochroten Kopfes mit der Frage: »Wusstest du davon?!«

Mir war natürlich sofort klar, dass alles aufgeflogen war, aber ich gab mich ahnungslos. Ich musste mit ins Wohnzimmer, in dem Sabine wie ein heulendes Häufchen Elend in der Ecke saß, Heiner finsteren Blickes ihr gegenüber am Couchtisch. »Der lügt doch genauso, der Scheißkerl«, raunzte er meine Mutter an, als sie ihm berichtete, was ich gesagt hatte. »Ja ja«, höhnte er, »deine Kinder, auf die du immer so stolz bist.« Nun fing auch meine Mutter an zu weinen und ich wäre am liebsten rausgelaufen, konnte Sabine aber nicht alleine lassen.

Die Alten hatte Lunte gerochen – vielleicht waren sie sogar dadurch drauf gekommen, dass wir ohne richtigen Grund unbedingt zu Gaby wollten – und Heiner war wie ein Detektiv eines Nachmittags, als Sabine behauptet hatte, eine Freundin besuchen zu wollen, ihr heimlich gefolgt. Als sie in der Nähe des Hauptbahnhofs in ein kleines Restaurant gegangen war, hatte er von außen hineingelugt und gesehen, dass sie sich dort mit einem »finsteren Negerkerl« getroffen hatte. Dann hatte er in einer Türnische gewartet, bis die beiden aus dem Lokal rauskamen, war ihnen bis zum Hotel gefolgt und dann genau in dem Moment dazugekommen, als sie ihren Hotelzimmerschlüssel in Empfang genommen hatten.

»Es war so furchtbar, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen«, erzählte Sabine, als wir endlich wieder alleine waren. »Ich wäre am liebsten tot umgefallen.« Er hatte Calistus beschimpft und angedroht, ihn anzuzeigen, wenn er seine Tochter noch einmal auch nur versuchen würde zu kontaktieren, dabei war Sabine gar nicht seine Tochter. Er werde dafür sorgen, dass Calistus seine Aufenthaltsgenehmigung verliere. Wenn Sabine schwanger sei, werde er sein blaues Wunder erleben.

»Aber die Nazis als Rassisten beschimpfen«, regte ich mich auf, »ist doch selber kein Deut besser!« – Aber Sabine hatte andere Probleme: Sie hatte Hausarrest! Meine neunzehnjährige Schwester durfte das Haus nicht verlassen – unfassbar! »Nach außen hin geben sie sich ganz toll und fortschrittlich«, erregte ich mich, »aber in Wirklichkeit sind sie genauso spießig wie die, die sie als Spießer verachten!«

Ich ging zu Franz Müller und beschwerte mich über Heiners Verlogenheit. Lächelnd sagte er: »Dr Heiner isch hald a aldr Seggl«, aber er meine es gut: »Vielleicht würde die Sabine es ja hinterher doch bereuen, aber dann wäre es zu spät!« Er lehne Heiners Vorgehensweise ab und werde mit ihm reden – aber in der Sache sei es vielleicht doch das Beste für Sabine. Manche Dinge ließen sich eben nicht von heute auf morgen verwirklichen:

»Als wir zusammen mit den Kommunisten nach dem Krieg ein neues, besseres Deutschland aufbauen wollten, sind wir auch gescheitert. Die alten Nazis waren einfach stärker! Adenauer war zwar sauber, die Nazis hatten ihn ja sogar am Schluss noch eingesperrt, aber hinterher hat er sie alle gedeckt, ihnen sogar Posten gegeben – während die Antifaschisten im angeblich demokratischen Deutschland keinen Fuß auf den Boden bekommen haben.«