Personalentwicklung im Bereich Seelsorgepersonal

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2.2 Spiritueller Konsumismus und Synkretismus – Das Panorama neuer Spiritualitäten als Herausforderung an den Seelsorger

„Innerhalb der offenen und keineswegs eindeutigen Begrifflichkeit ‚neue Religiosität‘ ist im Einzelnen zu differenzieren, z.B. in historischer Perspektive zwischen Religionen und Naturreligionen, in phänomenologischer Hinsicht zwischen religiösen Gemeinschaften und religionsartigen Erscheinungen, in theologischer Hinsicht zwischen Strömungen und Gruppen, die für sich selbst Christlichkeit beanspruchen und solchen, die sich dezidiert ohne Bezugnahme auf die christliche Tradition verstehen.“38

Charakteristisch für postmodernes religiöses Konsumverhalten ist, dass einzelne religiöse Elemente und Rituale eklektisch aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen herausgenommen und in lebenspraktischer Hinsicht zeitweilig aufgegriffen und ausprobiert werden. „Die Postmoderne ist synkretistisch, man baut sich aus verschiedenen Elementen eine Patchwork-Religion zusammen. Wahrheit hat in der Postmoderne keinen hohen Wert. Das führt dazu, dass es beliebig ist, wie man sich religiös orientiert, es muss nur etwas bringen. Das führt dazu, dass man seine Lebensentscheidungen einer Wahrsagerin überantwortet, die aus Tarotkarten oder astrologischen Büchern herausliest, ob man mit einem Partner zusammenbleiben, Kinder bekommen oder nicht bekommen soll.“39

„Was wir nicht alles sein sollen: ‚Sinnagentur für höhere Werte‘, ‚soziale Feuerwehr‘, die stets mit ihren Löschzügen zur Stelle ist, wenn es irgendwo brennt, ‚Feier-Institution‘, die den tristen Alltag verschönert und Glanz von oben auf die harten Realitäten des Lebens hier unten fließen lässt ...“40 Der Klinikseelsorger muss davon ausgehen, dass seine Begleitungsangebote wie Gebet und Krankensalbung von den Patienten oft gleichwertig neben anderen Angeboten aus dem psychosozialen Bereich ergriffen und „genutzt“ werden. Die Kurseelsorgerin weiß, dass ihr Angebot von religiösen Gesprächskreisen und Bibelabenden mit esoterischen und Heilungsund Wellnessprogrammen, pseudoreligiösen Beratungs- und Meditationsangeboten konkurriert. Von Gongmeditation bei Räucherstäbchen bis zu Heilungsritualen in der Gruppe, von Qi Gong über T’ai chi bis Feng Shui finden immer mehr Angebote in Kursprogrammen und zunehmend auch im Bildungsbereich christlicher Bildungshäuser gleichrangig ihren Platz.

Der „Zwang zur Häresie“ (Peter Berger), der Druck ständig auswählen zu müssen, bestimmt die Denk- und Lebensform. Neue Religiosität bedeutet zudem, dass vieles miteinander verbunden und vermischt wird.41 Theistische und pantheistische Spiritualität weisen in Deutschland eine deutliche Nähe zu den Kirchen auf. Für Westdeutschland ist „ein stark durch die großen Kirchen geprägter, asymetrischer religiöser Pluralismus“ charakteristisch. Ein großer Teil des religiösen Pluralismus spielt sich unter dem Dach der großen Kirchen ab. So reicht das dem Christentum eher ferne pantheistische Religionsmuster offensichtlich bis weit in die Reihen der Kirchenmitglieder hinein. Die typischen ‚Komponisten‘ beider Spiritualitätsmuster lassen sich in der Regel unter den Kirchenmitgliedern und nicht unter den Konfessionslosen finden.“42 Zusammenfassend lässt sich sagen, „dass die Kirchenmitgliedschaft selbst das individuelle religiöse Erleben letztlich nicht eindeutig bestimmt.“43

Der Einzelne wird nach den quantitativen Untersuchungen des Religionsmonitors zum religiösen „Komponisten“; man ist, so belegen es die qualitativen Interviews dieser Untersuchung, „offensichtlich daran gewöhnt, in einer Welt zu leben, die mit Inkonsistenzen zurechtkommt. Man darf dieses Ergebnis nicht unterschätzen: Inkonsistenz ist hier kein Mangel, sondern ein Zeichen dafür, wie sehr Bewohner einer modernen Gesellschaft an Inkonsistenz gewöhnt sind und letztlich vieles für kommensurabel halten: Es lassen sich dann christliche und esoterische, buddhistische und animalistische Formen miteinander kombinieren, ohne dass damit die einzelnen Formen diskreditiert werden.“44

In der Gemeindepastoral sind diese Szenen in „Randgesprächen“ erspürbar, wenn z.B. von treuen Kirchgängern zugegeben wird, dass die eigentliche Kraft aus dem täglichen Joga kommt, wenn ein Teil der Pfarrgemeinderäte lieber zu Jazzgottesdiensten am Sonntagabend geht oder das Herz der Lektorin für die Zenmeditation schlägt. Dieses Phänomen belegen auch die Ergebnisse des Religionsmonitors. „Unser empirisches Material zeigt aber, dass innerhalb des Religionssystems gewissermaßen unorganisierte und unorganisierbare Formen religiösen Erlebens sich etablieren - auch bei denjenigen, denen intensives religiöses Erleben alles andere als fremd ist.“45 Und für pastorales Personal noch schmerzlicher: „Je intensiver sich die je eigene Religiosität darstellt, desto innerlich unabhängiger scheinen Personen von ihrer Kirchlichkeit zu sein.“46

Das Phänomen der „Adaptiven Navigation“ wird von den Verfassern der Sinusstudie verwendet, um die Grundstimmung junger Milieus zu beschreiben. Es geht nicht mehr um eine auf dauerhaften Sinn ausgerichtete Suche. Es geht nicht darum, mithilfe geistlicher Übungen und Begleitung den einen lebensübergreifenden Sinn zu entdecken. Ziel ist nicht, den eigenen lebenslangen Weg zu entdecken. Jede Lebensphase, beruflich und privat, hat ihren eigenen Sinn, den es zu entdecken gilt, ohne Anspruch auf dauerhafte Sinnstruktur. Dies bedeutet eine Rollenneuformatierung für den Seelsorger, weil es nicht mehr um lebenslange Begleitung der „Schafe“, sondern zunehmend um punktuelle und lebensbiographisch ausschnitthafte Angebote geht. Hinter den verschiedenartigen Phänomenen neuer Religiosität stehen unterschiedlich zu bewertende Ausdrucksformen menschlicher Sehnsucht und Transzendenzsuche. „Neue Religiosität ist insofern eine seelsorgliche Herausforderung. Sie erinnert Kirchen an die Notwendigkeit ihrer eigenen religiösen Profilierung und unterstreicht die Aufgabe, suchende Menschen zu begleiten, unterschiedliche Motive und Gesprächssituationen wahrzunehmen, die hinter den Suchbewegungen stehen, und die eigene spirituelle Kompetenz zu vertiefen.“47

Blasberg-Kuhnke verweist auf das bleibende Dilemma, als Repräsentant einer Institution und als kirchlicher Rollenträger in dieser kirchlichen „Großwetterlage“ den eigenen theologischen und pastoralen Überzeugungen (oder Zweifeln) treu bleiben zu können. Misstrauen und Ablehnung oder Desinteresse bekommen die pastoral Handelnden in ihrer Person und Rolle zu spüren. „Die Spannung von (notwendiger) Identifikation mit der Kirche und (ebenso notwendiger) Distanz wird gegenwärtig wohl nicht leichter, sondern vielmehr schwieriger und belastender ...“48 Aggression und Ärger oder Trauer und Depressivität können Reaktionen auf das wahrzunehmende Desinteresse vieler Kirchenmitglieder an kirchlichen Themen und Angeboten sein. Auch kann nicht verschwiegen werden, dass das spirituelle Spektrum der Hauptamtlichen in der Kirche selbst eine große Bandbreite umfasst. Unter katholischen Religionslehrern und Pastoralreferenten finden sich praktizierende Zenbuddhisten, Berührungspunkte mit schamanischen Heilungsriten erlebt man auch im Kreis kirchlicher Kur- und Klinikseelsorger und Seelsorger geben in Berufsgruppentreffen und internen Kreisen zu, dass sie sich selbst von vielen liturgischen Feiern des Kirchenjahres als Privatperson kaum ansprechen lassen. „Je intensiver unsere Interviewpartner ihr eigenes Glaubensleben erleben, desto mehr geraten sie in innere Distanz zur kirchlichen Praxis, ohne diese freilich generell abzulehnen.“49 Das Resümee des Soziologen Armin Nassehi nach Auswertung des qualitativen Materials des Religionsbarometers betrifft hauptberufliche Seelsorger in zweifacher Hinsicht. In ihrer Berufsrolle als Gemeindepfarrer oder Pastoralreferent leiden sie unter der spirituellen Abwanderung der Gläubigen; sie selbst wagen ihre eigenen außergemeindlichen Suchbewegungen kaum offen zu kommunizieren, um nicht unglaubwürdig zu erscheinen. Der Synkretismus, der insbesondere in Gemeinden erlebt wird, korrespondiert mit den „verschiedenen Seelen“ in der Brust manches Gemeindeleiters, der sich jedoch – zumindest in den konservativen Milieus – dem Anspruch ausgesetzt sieht, offizielle Kirchenlehre vertreten und verkünden zu müssen. Seelsorger als Vertreter einer Institution, welche als sinnstiftende Instanz kein Sinnmonopol mehr besitzt, weil auch die Erwartungen bezüglich Konsistenz und konfessioneller Eindeutigkeit gesunken sind, müssen sich selbst neu definieren. Hauptamtliche in der Pastoral als offiziell Beauftragte stehen vor neuen Herausforderungen, wenn „Inhalte in den Hintergrund geraten, weil sie letztlich nicht für sich zählen, sondern nur in der Form, wie sie authentisch eingesetzt werden können.“50 Neben fachlich theologischer Auskunftsfähigkeit gewinnt die personale und soziale Kompetenz im Glaubensvermittlungsgeschehen an Bedeutung. Es geht um Diskursund Konfliktfähigkeit.

2.3 „Cocooning“ und „Clanning“ oder: Warum niemand zum Pfarrfamilienabend kommt

„Wer die Woche über unterwegs ist, braucht eine Zufluchtsstätte, wo es ihm gut geht, der richtet sich sein Zimmer, seine Wohnung, sein Haus so ein, dass er dort alles hat, was er braucht, um sich von der Welt zu erholen, ein Kokon. Der Markt hat sich darauf eingestellt: Die Gartencenter blühen und bieten alles, um aus den paar Beeten rund ums Haus oder dem Balkon ein Paradies zu machen mit Brunnen und allem drum und dran. Mit Beamer richtet man sich ein Heimkino ein. Im Chatroom nimmt man Kontakt zu Freunden auf und der Italiener um die Ecke bringt die Pizza ins Haus.“51 Mit dem Wort „Cocooning“ wird ein soziokultureller Trend beschrieben, es sich zu Hause gemütlich zu machen. Die Wohnung wird zum schützenden „Kokon“ angesichts der Rollenpluralität, des modernen Nomadentums durch berufliche Mobilitätszwänge.52 Das Phänomen des „Cocooning“ bedeutet eine Herausforderung für die Gemeindepastoral, die darauf angewiesen ist, dass sich Menschen am Feierabend und Wochenende aus dem Haus begeben, um (nicht immer ästhetisch gestaltete und oft nicht einmal adäquat beheizbare) Pfarrsäle aufzusuchen.

 

Die Gemeindebilder – manchmal auch Gemeindeideologien – der 50er Jahre (Pfarrfamilie) und der aktiven Gemeinde der 70er Jahre (Wer mitmacht erlebt Gemeinde) erweisen sich nicht als tragende pastorale Antworten für die gegenwärtige Pastoral; auch das idealtypische Gemeindemodell der Personal- oder Basisgemeinde in der deutschen Kirche ist im Territorium nicht zu verwirklichen. Ein Grund für Enttäuschung und Verunsicherung von haupt- und ehrenamtlich Aktiven in den Gemeinden liegt in der „nach-konziliar gemeindlich-familiaristischen Kirchenbildung“53, welche vom Leitbild eines „hierarchiefreien Raumes voller (Pfarr-)Aktivitäten, (Familien-)Kreise und voller Kommunikation in, zumeist, freundschaftlicher Halbdistanz“54 ausgeht. Auffällig ist, dass sich in den konkreten Planungen im Kirchenjahr die Kernaktivitäten nach wie vor auf das „Familienmodell“ beziehen. Der „Pfarrfamilienabend“ steht als verpflichtende Veranstaltung in der Pfarrgemeinderatssatzung vieler Diözesen, die Pfarreiwallfahrt setzt auf das Ideal der Pfarrfamilie, die unterwegs ist. Der Familientag im Sommer wird mit einfachen, fröhlich illustrierten Plakaten und Handzetteln beworben, auf denen „Alt und Jung“ geladen werden. Das Modell der Pfarrfamilie geht vom priesterlichen Vater aus, den es de facto nicht mehr vor Ort geben wird. Auch die Pfarrkinder – überwiegend die Frauen – entziehen sich der Pfarrfamilie. Religiöser Erfahrungsort wird nicht mehr nur in einem zugewiesenen sozialen Raum gesucht. Die alte Einheit von sozialem Beziehungsraum, lokalem Nahraum und gesellschaftlichem Organisationsraum löst sich auf. Der Alltag spielt sich in verschiedenen Szenerien ab, als häufiger Wechsel von Settings, „Bühnen“ und „Kostümen“. Intervalle und Brüche geben den Takt an, verschiedene Welten werden miteinander konfrontiert und relativieren sich gegenseitig. Die Pfarrei ist ein Ort unter vielen, der auf seine Relevanz hin je neu befragt wird.55 Es geht in Zukunft um mehr als um marginale Korrekturen pastoraler Abläufe.

Menschen suchen je nach individuellen Bedürfnissen wechselnde und unterschiedliche Formen des Christseins, zunehmend auch an Orten jenseits von Pfarrgemeinden. „Letztere können den differenzierten Bedarf aufgrund ihrer eingefahrenen Strukturen bzw. Praxisformen und vor allem aufgrund ihrer territorialen Bindung an einen Ort nicht befriedigen; sie haben ihre Funktion als zentraler Ort religiöser Praxis verloren. Die Pfarrei-Seelsorger versuchen zwar angesichts dessen, ihr Angebot zu vermehren oder die Attraktivität desselben zu erhöhen, erleben aber umso mehr Frustration.“56

Der soziokulturelle Trend des Clanning zeigt gerade, dass „nicht Gemeinschaft schlechthin dem Individualisierungstrend anheimgefallen ist, sondern neue Formen der Gemeinschaftung gesucht und realisiert werden.“57 Kirchliche Rollenträger legen auch selbst Wert auf die eigene individualisierte Lebensform, wollen sich selbst immer weniger in „familiare“ Kirchenstrukturen auf Pfarrei-, Verbands- oder Diözesanebene einbinden lassen, leiden unter mangelnden Freiräumen für die eigene Person und Familie und schätzen nationale und internationale Vernetzungen, um den Blick zu weiten.

„In Zukunft werden Sozialformen christlichen Lebens bzw. kirchlicher Praxis, die eine spezifische Lebensform im Blick haben, auf steigende Nachfrage treffen, weil sie den ausdifferenzierten Lebensorten der Menschen heutiger Gesellschaft entsprechen. Daher wird neben der klassischen Kirchengemeinde eine Vielfalt kirchlicher Sozial- und Organisationsformen notwendig werden. Die praktisch-theologische Konzeption von Gemeinde wird sich wohl noch mehr als bisher darauf einstellen müssen, dass diese Pluralität der Sozialformen eine Normalität der gesellschaftlichen Präsenz von Kirche und christlichem Glauben darstellt.“58

Es ist selbstzerstörerisch und demotivierend, nach jeder mager besuchten Veranstaltung aufs Neue den „fetten Jahren“ und den „Schlaraffenländern“ der Pastoral nachzutrauern. Manche Kerngemeinde versteht sich selbst als kleine aufrechte Widerstandstruppe und fühlt sich vom hauptberuflichen Personal verraten, wenn dieses eine weitere Perspektive einbringt. Gemeindeleitung meint nicht nur die Erledigung formaler Leitungsaufgaben, sondern das Aufzeigen pastoraltheologischer Perspektiven. Die Fixierung auf die Gemeindepastoral muss aufgelockert werden; man muss sich ohne Abwertung der „punktuell Aktiven“ auch den pastoralen Zwischenräumen und Gelegenheitsstrukturen in der Pastoral widmen. Die Leitungspersonen müssen Gemeinden darauf vorbereiten und Zukunft aufzeigen.

Der Pfarrer muss sich nicht schämen für den Rückgang der aktiven Gemeindemitglieder. Der Gemeindeverantwortliche darf sich nicht treiben lassen zu immer neuen und teilweise peinlich anmutenden Versuchen, ein familiäres Gemeindebild aufrecht zu erhalten. Seelsorger müssen zur Vielfalt individueller Biographien ein positives konstruktives Verhältnis entwickeln. Die Individualisierung lediglich als bequemen Rückzug des Einzelnen zu verteufeln, wird diesen gesellschaftlichen Phänomenen nicht gerecht. Personalentwicklung hat hier den Auftrag, Frustration in proaktive Such- und Lernerfahrung umzuwandeln, Erfahrungen theologisch zu deuten und das Suchpotenzial kreativ zu nutzen.

2.4 Die unbekannte Mehrheit – „Kasualienfromme“ als Anfrage an Seelsorgekonzepte

Ein immer größer werdender Teil der getauften Katholiken erfüllt offenkundig die für Katholiken bestehende, in can. 1247 CIG 1983 normierte Sonntagspflicht nicht mehr. Die Mehrheit der Katholiken – so die Untersuchung der sog. „kasualienfrommen“ Christen – betrachtet weder die Eucharistie als Quelle und Höhepunkt ihres eigenen religiösen Lebens, noch hält sie kontinuierlichen Kontakt zum kirchlichen Sozialraum.59

In der Erzdiözese Bamberg wurde zusammen mit dem „Institut zur Erforschung der religiösen Gegenwartskultur“ der kulturwissenschaftlichen Fakultät in Bayreuth eine Untersuchung durchgeführt, die einen tiefen Einblick in die Lebens- und Glaubenswelt von Katholiken bietet. „Die wichtigste Erkenntnis dieser Studie liegt wohl darin, deutlich gemacht zu haben, dass Menschen, die sich äußerlich vom kirchlichen Milieu deutlich distanzieren, dennoch latent ein Leben führen, das vom Glauben und Wirken der Kirche (Gottesvorstellung, Gebet, Moral, Einstellung zum Leben und Sterben etc.) geprägt ist. Diese Katholiken aktualisieren punktuell an den Lebenswenden oder bei besonderen Ereignissen in und mit der Kirche ihr Katholischsein. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Elemente kirchlich-christlicher Erziehung als ‚schöne Erinnerung‘ präsent sind.“60 Ein Großteil der Katholiken nimmt nicht mehr am intensiven Angebot gemeindlichen Lebens teil, hat aber großes Interesse, an Lebenswenden und zu bestimmten Anlässen kirchliche Begleitung zu erhalten. Diese „unbekannte Mehrheit“ der Katholiken, die „Kasualienfrommen“, sind für die Kirche eine pastoraltheologische Herausforderungen. Die Kirche funktioniert offenbar anders, als sie sich selbst definiert. Zentrales Merkmal der untersuchten Gruppe und der Grund, sie zu erforschen, ist die Tatsache, „dass sich die kasualienfrommen Christ/inn/en klassisch-vorkonziliaren wie nachkonziliaren gemeindeorientierten Konzepten der Kirchenbildung entziehen, ohne freilich jeglichen Kontakt zur Kirche aufzugeben. Sie nutzen die Kirche also in anderer Weise, als diese es möchte.“61 Für das Seelsorgepersonal in den Pfarreien bedeutet Kasualienfrömmigkeit eine Infragestellung des eigenen Auftrags. Die katholische Kirche – so wünschen es vor allem die in ihr tätigen Gemeindeseelsorger – möchte als Gemeindekirche funktionieren, wird aber von der Mehrheit der getauften Gemeindemitglieder als rituelle Lebensbegleitungskirche genutzt.

Schmerzhaft ist dabei der Abschied von der stillschweigenden Vorstellung, „innerhalb der Kirche gäbe es, bei allen sündenbedingten Abweichungen, nur glaubenskonforme Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen.“62 Zwei Reaktionsmechanismen sind in diesem Fall typisch für viele Abwehrhaltungen gegenüber Veränderungen in der Glaubenspraxis der Mitglieder: Zum einen besteht die Gefahr, die erhobenen Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen zu „taufen“ und damit in die bestehenden Normalinterpretationen der kirchlichen Kasualien einzuordnen. Ebensolches geschieht im Umgang mit außerchristlichen Spiritualitäten, welchen dann im weitetesten Sinne christliche Handlungsintentionen zugedeutet werden, um z.B. esoterische Heilungs- oder Selbsterlösungspraktiken als Angebot der Erwachsenenbildung in einem katholischen Bildungshaus zu legitimieren. Eine Vereinfachung im Umgang mit Kasualienfrommen wäre aber auch die heimliche Disqualifizierung derer, die an Weihnachten mit festen liturgischen Vorstellungen die Christmette besuchen oder eine traditionelle Hochzeit sehr feierlich wünschen.

Ein anderer Reaktionsmechanismus im Umgang mit Veränderungen ist die „Exkommunikation“ der „Abweichler“ um sich mit den „Abtrünnigen“ nicht auseinander setzen und sich selbst nicht in Frage stellen zu müssen. Beide Abwehrstrategien bestimmen das gegenwärtige Bild kirchlichen Handelns angesichts neuer Phänomene der Spiritualität und Lebensform. Das Verständnis des „Katholischseins von der Wiege bis zur Bahre“ ist für viele Katholiken nicht mehr gültig. Kirchenmitgliedschaft und Teilnahme am kirchlichen Leben gehören für viele getaufte Gemeindemitglieder nicht selbstverständlich zusammen.

Die Entscheidung kirchendistanzierter Menschen anlässlich wichtiger Lebenspassagen den Kontakt mit ihrer Kirche und den Sakramenten zu suchen, ist Ausdruck der Hoffnung, Lebensdeutung an den Übergängen, Schutz, Segen und Halt zu finden. Dieses „Sympathisanten-Umfeld“ sieht im Priester vorrangig die sakramental-mystagogische Kompetenz. Die Dimension des Heiligen und des Geheimnisses wird gerade in Grenzerfahrungen in bestimmten kultisch-liturgischen Zeichen, Gesten, Handlungen vergegenwärtigt. Es handelt sich um ernsthafte und eigenständige Konzepte der Sinngebung und Lebensbewältigung, die sich im Unterschied zu früheren katholischen Frömmigkeitsentwürfen von der Kirche (als Institution) weitgehend gelöst haben und im privaten Bereich verortet werden. Auch wenn die kasuale (Wieder-)Begegnung mit der Kirche als positiv geschildert wird, kommt es nicht mehr zu einem dauerhaften Kontakt. Die „kirchlich-kasuale“ Beteiligung ist für viele ein integraler Bestandteil eines umfassenden Frömmigkeitsentwurfes.

Die beschriebene „Kasualien-Frömmigkeit“ hinterfragt die meisten Konzepte von Gemeindeaufbau und damit das Selbstkonzept vieler „Gemeindebauer“. Anerkennung erfährt pastorales Personal durch gut gestaltete Kasualienfeiern oder sozialpädagogische Leistungen in der Katechese und Schule. Die Legitimität dieses Anspruchsverhaltens wird in der Kirchensteuer gesehen. Der Berufsstolz eines Pfarrers oder Diakons macht sich jedoch gerade nicht an diesen Dienstleistungen fest.63 Pastoralreferenten gestalten theologische Vortragsabende, der Pfarrer bemüht sich um eine ansprechende Erklärung des Firmsakraments an verschiedenen Elternabenden oder gestaltet eine Reihe von Weggottesdiensten im Rahmen der Eucharistiekatechese. Der Großteil der Katholiken lebt jedoch eine „natürliche Religiosität“. „Ohne viel mit dem trinitarischen, christologischen und ekklesiologischen Credo anfangen zu können, ohne es aber auch direkt und dezidiert abzulehnen, möchten sie einfach nur bei bestimmten Anlässen für sich und ihre Kinder den Segen Gottes erbitten.“64 Das Interesse an Kirche bezieht sich auf die Kasualie selbst und bleibt auf Vorgänge rund um das kirchliche Ritual begrenzt. Trotz positiver Erfahrungen mit Kirche, im Erleben z.B. einer Trauung, kommt es zu keiner dauerhaften Besuchspraxis der sonntäglichen Eucharistiefeier. Ausschlaggebendes Kriterium ist immer die persönlich gefühlte biographische Betroffenheit, welcher besonders in Kasualfeiern Rechnung getragen werden soll.

 

Wie bewahrt eine Ortsgemeinde ihre Identität, wenn die Mehrheit nur ab und zu „tanken“ will? Wie bewahrt ein Pfarrer seine Kraft, wenn immer mehr Menschen ihn nur an den „Übergängen“ liturgisch in Anspruch nehmen oder diakonische Begleitung „abrufen“, wenn Lebensentwürfe zu zerbrechen drohen? Wenn die meisten Menschen nur an den Lebensübergängen um seelsorglich-rituell-liturgische Begleitung nachfragen, sind Seelsorger nicht mehr als Hirte gefragt. Die Rolle des Seelsorgers als liturgischem „Anbieter“ verändert sich hin zum Gastgeber, der ohne eigene Kränkung offen dafür ist, Menschen an gewissen Wendepunkten zu begleiten, ohne dauerhaft erwiesene „Treue“ zum Gemeindeleben erwarten zu können.

Kränkungspotenzial für Seelsorger liegt darin, dass der Kirche kaum mehr eine notwendige Funktion für die persönliche Alltagsfrömmigkeit beigemessen wird. „Insofern die Kirche immer weniger als spirituell relevantes Moment für den Alltag aufgefasst wird, ist dann doch von einem Wandel im Kirchenbild zu sprechen. Vor dem Hintergrund der neueren Sozialgeschichte des Katholizismus dürfte dieser Befund als signifikantes Novum zu bezeichnen sein.“65 Die teilweise geäußerte positive Identifikation mit der Kirche trug bei den Befragten meist keine allgemeinen, sondern „okkasionelle“ Züge. Den Kasualien, so Först, messen die Befragten Bedeutsames zur Lebensorientierung bei, „besonders hinsichtlich einer von Unwägbarkeiten gezeichneten Zukunft. Verglichen dazu, spielt die Institution Kirche, welche die Kasualien ausrichtet, eine weit untergeordnete Rolle.“66

Der Verlust der kirchlichen „Deutungshoheit“ schmerzt Katecheten, die in der Vorbereitung und Gestaltung von Kasualienfeiern als Institutionsvertreter fungieren. Als Gemeindeverantwortliche und als Anwälte der real existierenden Kirchengemeinschaft am Ort müssen sie erkennen, dass die vielfältigen Angebote der Pfarrei von Kasualienfrommen als nicht relevant eingestuft werden.

In diesem Dilemma zwischen realem Funktionieren von Kirche und ihrem Selbstverständnis arbeiten Seelsorger im Gemeindealltag. Zwischen den Polen „Was ist leistbar?“ und „Was ist theologisch vertretbar?“ bewegt sich der Seelsorger. Praktische Theologen im Pfarreidienst sehen sich angesichts einer „unbekannten Mehrheit“ im eigenen Haus mit gänzlich neuen Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen von zentralen kirchlichen Ereignissen, wie Sakramente es sind, konfrontiert und müssen sich bei Kasualhandlungen und der Gestaltung von Gottesdiensten konkret positionieren.

Regelmäßig praktizierende Katholiken fühlen sich durch Kasualien in den Sozialraum der Kirche integriert, „Kasualienfromme“ lehnen genau diesen Anspruch als „Vereinnahmung“ ab. Das „beredte Schweigen“67 seitens der Kasualienfrommen, wenn Hauptamtliche einladen, liturgische Feiern mitzugestalten und sich aktiv einzubringen, resultiert auch aus einem völlig verschiedenen Kasualienverständnis. „Kasualienfromme“ haben nicht das Hineinwachsen in die kirchliche Gemeinschaft zum Ziel; die Differenz wird nicht ausgesprochen, sondern äußert sich in peinlichem Schweigen.

Gemeindeseelsorger stehen in einem Dilemma: Ihr Auftrag ist es, Gemeinde aufzubauen, den Glauben zu „verorten“ und spirituelle Beheimatung für die Gemeinschaft der Glaubenden und Suchenden im pastoralen Lebensraum zu bieten.68 Andererseits wächst der Wunsch nach individueller, rein biographisch ausgerichteter Kasualiengestaltung. Kasualiengottesdienste müssen durch den Vorsteher persönlich gestaltet sein, um die biographische und theologische Bedeutsamkeit aufscheinen zu lassen. Dies verlangt vom Seelsorger einen hohen Zeit- und Arbeitsaufwand, ohne dass durch dieses Bemühen die Zahl der aktiv praktizierenden Gemeindemitglieder dauerhaft erhöht würde oder der Gemeinschaft vor Ort aktive Mitglieder hinzugefügt werden könnten.

Gemeindeleiter haben das Bestreben, „Gemeindekirche“ mit allen Grundvollzügen kirchlichen Tuns aufzubauen, während die Mehrheit der eigenen Mitglieder Gemeinde als gelegentliche „rituelle Lebensbegleitungskirche“ nutzt. Auch wenn zu allen Zeiten der Kirchengeschichte eine gewisse Differenz zwischen kirchlichem Selbstverständnis und kirchlicher Realität auszumachen ist, so ist diese gegenwärtige Abweichung unabweisbar, nicht mit moralischen Kategorien abzuwerten und eine Herausforderung an das nachkonziliare Selbstverständnis von Priestern, Diakonen und Laien.69

Personalentwicklung muss das Personal in pastoralen Transformationsprozessen stützen und unterstützen. Wenn die Studie zur „Kasualienfrömmigkeit“ in befreiender Weise nicht „von der Institution her fragt und von ihren – an sich ja durchaus berechtigten – Interessen an Partizipation und Integration ihrer Mitglieder her, sondern von jenen Mitgliedern und deren Selbstwahrnehmung selber ausgeht“70, dann müssen auch die haupt- und ehrenamtlichen Kirchenvertreter mit ihrer Perspektive ernst genommen werden. Das Leiden der Verantwortlichen am Auszug der Gläubigen und an der schwindenden Reichweite und Relevanz des eigenen Handelns resultiert auch aus inneren Unstimmigkeiten einer Sakramentenpastoral, „die in Zeiten nach jeder volkskirchlichen Selbstverständlichkeit immer noch unter volkskirchlicher Fiktion abläuft.“71 Hier ist theologische Deutung als Beitrag zur Personalentwicklung im Sinne einer Entlastung und des Aufzeigens neuer Handlungshorizonte gefragt.

Ottmar Fuchs verweist auf die vor allem für hauptamtliches Seelsorgepersonal relevante sakramenten-theologische Herausforderung der „dispersen“ Ekklesiologie, in die hinein sich die Kasualienfrommen mit ihrer Teilnahme an spezifischen Akten begeben. In der Taufe ist jeder Mensch unbedingt von Gott angenommen, die darin grundgelegte Zugehörigkeit zur Kirche besteht und gilt auch dann noch, wenn sie „kontrafaktisch zu den Zugehörigkeitskriterien und Integrationswünschen bestehender kirchlicher Sozialwünsche steht. Mit der Taufe wird klar, dass das Subjekt der Zugehörigkeitsbestimmung zur Kirche nicht die kirchlichen Akteure sind, sondern Gott selbst ist.“72 Diese nicht regulative Zugehörigkeit zur Kirche, über deren Zustandekommen die Hauptamtlichen nicht zu befinden haben und welche auch nicht sichtbar ist, fordert den Seelsorgern „pastorale Demut“ ab. Für Hauptamtliche gilt es, die eigene Sprach- und Handlungslosigkeit auszuhalten, die Grenzen eigener „Pastoralmacht“ zu erkennen und die menschenunabhängige Wirksamkeit der Sakramente neu zu erkennen und anzuerkennen. Die Gültigkeit der Heilszusagen Gottes ist trotz neuer Taufvorbereitungskonzepte oder jahrelanger Firmkatechesen nicht an das Sozialverhalten oder die Kirchenpraxis der Getauften und Gefirmten gebunden.

Das Wissen um die Gnade als Basis der Lebensgestalt und um den Geschenkcharakter der göttlichen Hinwendung zum Menschen kann hauptberufliche Katecheten und Kasualiengestalter entlasten. Der Abriss der Beziehungen nach Kasualien darf nicht als kirchenschädigendes Verhalten oder als Beleidigung aufgefasst werden. Theologie mit Fokus Personalentwicklung muss Seelsorger in dem Glauben an die Wirksamkeit Christi durch die Sakramente im Leben der Menschen bestärken. Kasualien sind ein Dienst am Reich Gottes in der Gesellschaft; der „Erfolg“ ist zunächst unsichtbar und entzieht sich unserem pastoralen Kontrollbedürfnis. Zu lernen ist eine spirituelle Weite, die es Seelsorgern ermöglicht, Menschen eine Zeit lang zu begleiten und danach wieder freizugeben in der Hoffnung, dass Gnade erlebt wurde und Erfahrung nicht verloren geht.73