Personalentwicklung im Bereich Seelsorgepersonal

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1.3 Eingrenzungen und Entgrenzungen





Personalentwicklungskonzepte müssen maßgenau auf eine Organisation zugeschnitten sein. Deswegen geht es zunächst um Eingrenzung des Themas. Entgrenzungen werden da vorgenommen, wo klassische Konzepte der Personalentwicklung nur einen bestimmten und zu engen Ausschnitt der Organisationskultur in den Blick nehmen. Eine umfassende und strategisch ausgerichtete Förderung des Personals überschreitet die traditionellen Funktionszyklen der Personalentwicklung, deren Schwerpunkt auf Aus- und Weiterbildung lag.








1.3.1 Eingrenzungen des Personenkreises und der Themenfelder





Personalentwicklung beschäftigt sich mit Fragen der Entdeckung und Förderung von Berufungen, der Gewinnung von Mitarbeitern im Dienst der Seelsorge sowie deren Ausbildung und Fortbildung. Die Bereitstellung geeigneter Arbeitsbedingungen und Arbeitsstrukturen gehört im weiteren Sinne ebenso zum Themenfeld der Personalentwicklung wie Fragen der Personalbeschaffung und Personalauswahl.



Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Priester, Diakone und Pastoral- und GemeindereferentInnen, die in den deutschen Diözesen zumeist unter dem Begriff „Seelsorgepersonal“ geführt werden. Mit dem Begriff

Seelsorger

 sind im Kontext dieser Arbeit kirchenamtlich autorisierte und durch theologische Ausbildung professionalisierte Frauen und Männer gemeint, die mit oder ohne Weihestatus, in Voll- oder Teilzeit im Dienst deutscher Diözesen stehen und „aufgrund einer besonderen Sendung oder aufgrund der Übertragung eines Kirchenamtes Aufgaben im Namen der Kirche erfüllen.“

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 Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf Personalentwicklung von Seelsorgern in Pfarreien und Pfarreiengemeinschaften. Innerkirchliche Professionalisierung bedeutete in den letzten Jahrzehnten fast immer Aufbau einer Handlungsstruktur außerhalb der traditionellen kirchlichen Basisstruktur, der Pfarrei. Der Schwerpunkt diözesaner Personalentwicklung bezieht sich überwiegend auf Kompetenzentfaltung von Theologen in Spezialgebieten (Klinikseelsorge, Eheberatung, therapeutische Zusatzqualifikationen). Der Etat diözesaner Fortbildungsabteilungen fließt überwiegend in Weiterbildungsmaßnahmen jenseits von Gemeindepastoral und territorialer Seelsorge.



Demgegenüber steht das Phänomen, dass „Kirche“ von den Menschen in ihrer Biographie und ihrem Erlebenshorizont überwiegend mit konkreten Pfarrern, mit Kaplan oder Gemeindereferentin assoziiert wird. Der Pfarrer bei der Hochzeit von Freunden oder der Beerdigung der Mutter, die Gemeindereferentin und ihr Gespür für die Kinder stehen mehr für katholische Kirche als Bildungsreferenten oder Verbandsvorsitzende. Befragt nach den Wahrnehmungen von und Wünschen an die Kirche beziehen sich viele Interviewpartner von Lebensweltstudien auf ihre Erfahrungen mit der konkreten Kirche und den Personen vor Ort. Kirche ist keine abstrakte Größe, sondern wird maßgeblich mit der Pfarrei und den dort agierenden Personen identifiziert.

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 Die primären Assoziationen mit dem Begriff Kirche beziehen sich nicht auf den Bereich Caritas, Bildung oder Verbandsarbeit, sondern immer noch auf die konkreten Frauen und Männer in der Gemeindeseelsorge. Gemeinden haben eine zentrale Funktion hinsichtlich der Vermittlung von religiösem Bedürfnis und konkreter christlicher Praxis, weil in ihnen idealiter sowohl die Perspektive des Einzelnen und dessen Wünsche als auch die (wie immer geartete) Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft gelebt und erfahrbar wird. „Kirche vor Ort hat eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die buchstäbliche Wahrnehmung und die Glaub-Würdigkeit der Kirche als Ganzes. Dementsprechend ist die Pfarrei also nicht nur der Ort, an dem fundamentale Konflikte der Kirche in der Gegenwart sichtbar werden. Sie ist auch der Ort, an dem sie zu lösen sind.“

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 Selbst Fernstehende beziehen sich in ihrem Wunsch oder ihrer Kritik an Kirche auf reales Leben vor Ort in Diakonie oder Liturgie. Das territoriale Prinzip der Kirche bedeutet auch Präsenz vor Ort und bewahrt davor, den „Zeichen der Zeit“ auszuweichen und sich in pastorale Nischen zurückzuziehen. In der Pfarrei Tätige sind in hohem Maße von gesellschaftlichen Veränderungen und pluralen Formen von Spiritualität betroffen: das Ausmaß an Rollendiffusion und Verunsicherung durch diözesane Umstrukturierungsprozesse ist in dieser Gruppe von Hauptamtlichen besonders hoch. Umsetzung von Personal- und Organisationsentwicklung und damit ausgelöste Professionalisierungsprozesse finden bisher in kirchlichen Subsystemen wie sozialen Einrichtungen, Verbänden oder Bildungshäusern statt. Personalentwicklung für die Hauptamtlichen in den klassischen Seelsorgefeldern im Territorium, die trotz Errichtung neuer Pastoralräume nach wie vor auf personale Präsenz vor Ort setzen, ist im Vergleich zu Mitarbeitenden in Spezialseelsorge oder in diözesanen Hauptabteilungen weit weniger professionalisiert und reflektiert.



Im Kontext dieser Arbeit geht es nur um die Situation römisch-katholischer Diözesen im deutschsprachigen Raum, die Theologen als hauptberufliche Mitarbeiter in der Seelsorge einsetzen. Studium und Ausbildung von Theologen als ein Teil von Personalentwicklung kommen nur am Rande zur Sprache. Dieser Bereich umfasst im Verhältnis zur Lebensarbeitszeit nur wenige Jahre und ist durch Universitäten, Priesterseminare und Mentorate in den deutschen Diözesen professionalisiert und personell gut aufgestellt. Der Focus liegt auf der gesamten Berufsbiographie hauptberuflicher Theologen im pastoralen Dienst. Nicht der im Verhältnis zum Berufsleben relativ kurze Zeitraum der Ausbildung oder Personalauswahl, sondern die viele Jahrzehnte umfassende Arbeitsbiographie der im Auftrag der Kirche tätigen Seelsorger steht im Mittelpunkt meiner Erörterungen.



Amtsspezifische Unterscheidungen werden zugunsten von für alle Dienste gültigen Prinzipien von Personalentwicklung zurückgestellt und nur da vorgenommen, wo es um Themenfelder wie z.B. Personalführung geht, welche aus amtstheologischer Perspektive differenziert und vertieft werden müssen. Bewusst ausgespart im Kontext dieser Arbeit werden auch Fragen nach neuen Zugängen zu existierenden Ämtern und die Entwicklung neuer Dienste und Ämter in der katholischen Kirche.






1.3.2 Entgrenzungen des Wirkungsbereiches von Personalentwicklung



Eine einheitliche Definition dessen, was Personalentwicklung ist, gibt es nicht und kann es nicht geben. Der Begriff Personalentwicklung ist kein Etikett einer einfach vorzufindenden Wirklichkeit, sondern beinhaltet Sollensforderungen und hat insoweit auch normativen Charakter. Grunddimensionen sind jedoch allen Definitionen gemeinsam: „Als Personalentwicklung bezeichnet man das Insgesamt der Strategien, Konzepte und Modelle, die darauf bezogen sind, die Kompetenzen der Mitarbeiter eines Unternehmens kontinuierlich zu verbessern, an Wandlungen anzupassen bzw. Wandlungen qualifikatorisch zu antizipieren. Insofern das auf der Basis und im Kontext von Unternehmenszielen geschieht, spricht man von strategischer Personalentwicklung.“

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Personalentwicklung grenzt sich grundlegend ab von überwiegend administrativen Konzepten der Personalverwaltung oder Personalbewirtschaftung und umschreibt eine Perspektiverweiterung. Klassische Aufgabenschwerpunkte lassen sich in den meisten Konzepten von Personalentwicklung als Zyklus von Personalplanung über Qualifizierungsprozesse bis zu Transferoptimierungen darstellen.








Abbildung 1: Funktionszyklus der Personalentwicklung

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Im Kontext des Themas dieser Arbeit soll der Begriff der Personalentwicklung ausgeweitet werden. Personalführung, Personaleinsatz und Arbeitsstrukturen werden thematisch beleuchtet als integraler Bestandteil von Personalentwicklung, um ein rein bildungsbezogenes Verständnis von Personalentwicklung zu weiten. Personalentwicklung ist strategisches Instrument der Gestaltung einer Gesamtorganisation. Personalentwicklung spielt nicht nur eine nachvollziehende, sondern impuls- und richtungsgebende Rolle für die Entwicklung der Gesamtorganisation. „Personalentwicklung ist ... nicht nachhinkender Erfüllungsgehilfe für die ‚von oben‘ in Gang gesetzten organisatorischen Veränderungen. Eine moderne Personalentwicklung steht eher in einer antizipativen, mindestens aber parallelen Relation zur Organisationsentwicklung.“

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 Das Verständnis von Personalentwicklung als Dienst des Arbeitgebers Kirche muss sich in diözesanen Strukturen niederschlagen. „Personalentwicklung“ kann nicht nur der Name einer Abteilung des Ordinariates sein, sondern muss Leitbild und Handlungsmaxime sein, der sich alle betrieblichen Abläufe, beginnend von Haus- und Schlüsselordnungen über Tarif- und Fortbildungsordnungen bis hin zu Formen der Anstellung oder Verabschiedung von Mitarbeitern, verpflichtet sehen.



Zu Recht warnt Erzbischof Robert Zollitsch aus seiner Erfahrung als Personalreferent vor einer allzu unbedarften und individuellen Verwendung des Begriffs Personalentwicklung, der diffuse Vorstellungen transportiert. Personalentwicklung darf nicht eingeengt werden auf die Erwartung, besser gefördert zu werden, um einen Zugewinn an Einfluss oder eine höhere Stellung und bessere Bezahlung zu erhalten. Personalentwicklung ist zunächst ein Instrument der Personalführung. „Im Mittelpunkt steht nicht der Einzelne, sondern die zu erledigende Arbeit und letztlich die vorgegebenen Ziele. Diesen werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter untergeordnet.“

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Der Begriff der Personalentwicklung als Potenzialentwicklung wird im Rahmen dieser Arbeit insofern „entgrenzt“, als er nicht nur verstanden wird als Sammelbegriff für ein Maßnahmenbündel, als Arbeitsstrukturierungsinstrument oder als eigene Bezeichnung einer einzelnen Abteilung innerhalb eines Ordinariates. Personalentwicklung als Beitrag zur Humanisierung und Glaubwürdigkeit des „Unternehmens Diözese“ soll in diesem Kontext vielmehr als eine grundlegende Perspektive und Handlungsmaxime aufgezeigt werden. Personalentwicklung im Sinne von Potenzialförderung eines jeden Mitarbeiters zugunsten der Zukunftsfähigkeit der Organisation muss Maxime jeglichen Leitungshandelns sein und kann nicht an eine „Stabsstelle Personalentwicklung“ oder Fachabteilungen einer Diözese delegiert werden.



Nicht zuletzt geht es um Entgrenzung von Lernprozessen. Die Realität entstandardisierter Lebens- und Arbeitsbiographien der einzelnen Mitarbeiter und entgrenztes, weil zunehmend nicht mehr steuerbares betriebliches formelles Lernen lässt sich nicht in ein Format traditioneller Weiterbildungsveranstaltungen pressen. Weder Zielvorgaben noch klassische Leitungsstile lassen sich klar definieren. Selbstgesteuertes Lernen findet außerhalb von Fortbildungsmaßnahmen statt. Lernorte haben sich ausdifferenziert, Lernprozesse lassen sich zunehmend schwerer steuern, weil sie in und außerhalb von Seminaren stattfinden, am Arbeitsplatz und in der Freizeit, mit unterschiedlichsten Medien zu nicht festlegbaren Zeiten. Schlüsselkompetenz ist die Fähigkeit zu Selbststeuerung und eigenständiger Problemlösung. Diese zu fördern ist Ziel von Personalentwicklung in einer lernenden Organisation.



5

 Vgl. Murken Sebastian (Hg.), Ohne Gott leben. Religionspsychologische Aspekte des „Unglaubens“, Marburg 2008, 249. Auf der mehrjährig angelegten Internetplattform

www.ohneGott.de

 wurde das Lebensgefühl von sogenannten Atheisten abgefragt und die Antworten wurden ausgewertet. Auffallend war eine „oft verblüffend einfache Gleichung von Kirchenvertreter = Kirche = Religion = Gott“. Im kirchlichen Kontext erlebte Verletzungen werden psychisch pars pro toto bewertet.



6

 MDG Medien-Dienstleistung GmbH (Hg.), MDG-Trendmonitor, Religiöse Kommunikation 2010, Kommentarband I: Erkenntnisse zur Situation von Kirche und Glaube zur Nutzung medialer und personaler Informations- und Kommunikationsangebote der Kirche im Überblick, München 2010, 90.



7

 Ebd., 92.



8

 Ebd., 94f.



9

 Die Befragungen der sogenannten Sinus-Studie machen deutlich, dass ein Großteil der Interviewpartner sich auf Erfahrungen aus dem Kontext der konkreten Pfarrei vor Ort bezieht. Die primäre Assoziation mit Kirche bezieht sich nicht auf Vertreter von Caritas, Bildung oder Verbandsarbeit. Vgl. Spielberg Bernhard, Ladenhüter oder Laboratorium? Milieusensible Pastoral - die letzte Chance für die Pfarrei?, in: Ebertz Michael N. / Hunstig Hans-Georg (Hg.), Hinaus ins Weite. Gehversuche einer milieusensiblen Kirche, Würzburg 2008, 84-91, hier 88.



10

 Vgl. „Schön dass Sie wieder da sind. Eintritt und Wiedereintritt in die evangelische Kirche“, Kirchenamt der EKD (Hg.), 2009 (EKD-Texte 107), 17.



11

 MDG Medien-Dienstleistung GmbH (Hg.), MDG-Trendmonitor, 111.



12

 Ebd., 107.



13

 Ebd., 109f.



14

 Karrer Leo, Erfahrung als Prinzip der Praktischen Theologie, in: Haslinger Herbert u.a. (Hg.), Handbuch Praktische Theologie, Band 1 Grundlegungen, Mainz 1999, 199-217, hier 216.



15

 Vgl. Lörsch Martin, Kirchen-Bildung. Eine praktisch-theologische Studie zur kirchlichen Organisationsentwicklung, Würzburg 2005, 424.



16

 Kontinuierliche jährliche Erhebung statistischer Eckdaten über Priester, Diakone und andere hauptamtliche Mitarbeiter/innen in der Pastoral, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz Bonn 2010,

www.dbk.de/zahlen-fakten

 (20.06.2010).



17

 Katholische Kirche in Deutschland. Statistische Daten 2007, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Bonn 2009 (=Arbeitshilfe Nr. 231).



18

 Schuster Norbert, Aus gleichem Schrott und Trott hinaus. Organisationale Grunddaten zur Exodus-Funktion der Leitung, in: AnzS 114(2005/3), 20-24, hier 21.



19

 Hallermann Heribert, Seelsorger(in) – ein geschützter Begriff?, in: LS 55(2004), 210-214, hier 213. Der Versuch, den Begriff Seelsorger ausschließlich für Priester reservieren zu wollen, kann aus dem geltenden Kirchenrecht heraus nicht begründet werden.



20

 Vgl. Spielberg Bernhard, Ladenhüter oder Laboratorium? Milieusensible Pastoral – die letzte Chance für die Pfarrei?, in: Ebertz Michael N. / Hunstig Hans-Georg (Hg.), Hinaus ins Weite. Gehversuche einer milieusensiblen Kirche, Würzburg 2008, 84-91, hier 86.



21

 Ebd., 88.



22

 Arnold Rolf, Personalentwicklung – Grundlagen und Einführung, Studienbrief PE 0110 des Fernstudiums „Personalentwicklung im lernenden Unternehmen“, Kaiserslautern 2000, 4.



23

 Münch Joachim, Personalentwicklung als Mittel und Aufgabe moderner Unternehmensführung. Ein Kompendium für Einsteiger und Profis, Bielefeld 1995, 55.



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 Ebd., 26.



25

 Zollitsch Robert, Wenn es ganz konkret wird – Personalplanung und Personalentscheidung, in: Der pastorale Dienst in einer Zeit der Aussaat, 5. Juni 2004, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2004 (Arbeitshilfen 185), 29-37, hier 34.









2. Neue Choreographien des Religiösen – Kränkungspotenzial für Seelsorger





Viele Hauptamtliche erkennen, dass ihre pastoralen Bemühungen oft ins Leere laufen. Resignation, innere Kündigung oder offene Rebellion gegen einen nur schwer fassbaren Gegner (im Zweifelsfall die Bistumsleitung) sind die Folge. Die im Zuge der Moderne weg gebrochene Kontrollmöglichkeit über die Biographie der Mitglieder wird in der Pfarrei nicht als Befreiung, sondern als Bedrohung erlebt. Eine künstliche und realitätsferne „Inszenierung des Pastoralmonopols“ wird besonders für die „Darsteller“, sprich hauptamtlich Tätigen, ein kräftezehrendes Unterfangen. „Der territorial umschriebene, pastorale Verantwortungsbereich wird weniger als Freiraum verstanden denn als Anspruchsrahmen. Vor diesem Hintergrund messen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Idealen einer – meist fiktiven – Glanzzeit pfarrlichen Lebens, an denen sie letztlich nur scheitern können. Deutlich wird diese Denkstruktur etwa dann, wenn ein Pfarrer verkündet, er sei Seelsorger von mehreren tausend Gläubigen. Das kann für beide Seiten nicht gut ausgehen.“

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Gesellschaftlicher und kultureller Wandel schlägt sich nieder in veränderter kirchlicher Praxis und Religiosität. Gesellschaftliche Megatrends wie Individualisierung und Pluralisierung lassen Gegentrends auf der Ebene soziokultureller Lebenswelt entstehen. Das neue Modell von Religiosität lässt sich umschreiben mit einer „selbstreferenziellen Religiosität“, einem gesellschaftlichen Transformationsprozess weg von der Wiederholung des ewig Gültigen hin zu einer lebenslang suchenden Identität.

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Gemeindeseelsorger sind durch ihre breit gestreuten Arbeitsfelder von diesem Wandel existentiell betroffen. Wenn es um die Beschreibung eines neuen Umgangs mit Religion und Kirche geht, ist es Anliegen dieser Arbeit, diejenigen in den Blick zu nehmen, die mit Beruf und Biographie für Religion und Kirche stehen. Sich mit der Gestaltung von Veränderung in Organisationen zu beschäftigen, bedeutet, eine aktive Rolle in der Personalentwicklung einzunehmen.



Im Folgenden werden exemplarisch einige gesellschaftliche Signaturen und Veränderungen im kirchlich-praktischen Vollzug mit daraus resultierendem möglichem Kränkungspotenzial für hauptberufliche Seelsorger beschrieben. Verschiedene Phänomene gewandelter Religiosität werden auf ihr Verunsicherungspotenzial für die pastoralen Dienste hin beleuchtet.








2.1 „... dabei hatte ich mir solche Mühe gegeben.“ – Relevanzverlust durch Pluralisierung als Anfrage an das Selbstverständnis von Seelsorgern





„Die territorial verfassten Ortsgemeinden sind als Sozialform des Glaubens ungenügend und leiden unter hochgradiger Irrelevanz. Da sie immer noch lokal gebunden und somit wohnraumorientiert sind, verfehlen sie die größeren Lebensräume, in denen sich Menschen mit wechselnden Kombinationen ihrer Lebensorte und Beziehungen bewegen.“

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 Viele Pfarreiseelsorger fühlen sich damit auch in ihrer Rolle als „hochgradig irrelevant“.

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Kirche steht unter dem Zustimmungsvorbehalt ihrer eigenen Mitglieder. Anders als in Zeiten der herkunftsbezogenen religiösen Schicksalsgemeinschaft steht damit auch der einzelne Seelsorger mit seiner fachlichen und personalen Kompetenz unter Beobachtung und wird als Vertreter der Institution Kirche beurteilt. Das kognitive Wissen um eine Pluralisierung der Anbieter auf dem Gebiet der Sinnstiftung, der Kultur- und Freizeitgestaltung nimmt dem einzelnen Seelsorger als „Mitanbieter“ nicht den Schmerz, selbst mit großem Zeitaufwand und hoher Profession eine Predigt oder einen Elternabend vorbereitet zu haben und dann zu erkennen, dass alternative Angebote oder die häusliche Entspannung attraktiver waren. Heterogene Ansprüche in der Pastoral sind Ausdruck einer Deregulierung. Es ist kaum vorhersehbar, welche Gottesdienste gut besucht sein werden, welche Bildungsangebote auf Resonanz stoßen.



Die „Marktsituation“ der katholischen Kirche zu akzeptieren, fällt vielen Mitarbeitern, insbesondere im pastoralen Bereich schwer. Bucher unterscheidet dabei verschiedene Motive: Diese kritische Position gibt es in einer „konservativen, institutionsstolzen“ wie in einer „progressiven, kapitalismuskritischen Variante“.

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 Die Abwehrreaktion ist verständlich, wenn der Eindruck entsteht, die Kirche hätte ein „austauschbares Produkt“ anzubieten, was zugleich impliziert, dass auch die Anbieter und Verkäufer austauschbar sind.



Als ein weiterer, nicht zu unterschätzender Kränkungsfaktor ist in diesem Zusammenhang die steigende Zahl der Kirchenaustritte zu nennen. Die „Transformation der Kirche von einer Zwangs- in eine Freiwilligengemeinschaft“

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 bedeutet, dass die Kirchenmitgliedschaft dem Kosten-Nutzen-Kalkül des Einzelnen unterstellt wird.



Sowohl eine Organisation als auch der einzelne in ihr und für sie Tätige muss damit umgehen, dass man nichts, oder zumindest nicht viel von ihr wissen will. Der Stolz „dazuzugehören“ schwindet bei haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern. Hier unterscheiden sich Institutionen nicht allzu sehr von Personen: Beide sind gekränkt. Als nahe liegende Möglichkeit der Deutung und Reaktion nennt Bucher die depressive Passivität, welche die Ausgetretenen als „Abgesprungene“ und „Abtrünnige“ denunziert; als Gegenstück dazu findet sich bei nicht wenigen, insbesondere jüngeren Seelsorgern die Flucht in den betriebsamen Aktivismus, welcher auf Kränkungslinderung durch betäubende Selbstbeschäftigung hofft. Beide Kränkungsstrategien sind theologisch wenig reflektiert, sozialpsychologisch jedoch verständlich.



Die rückläufige Zahl der Gottesdienstbesucher, die weder durch ansprechende Predigten des Pfarrers noch durch kindgerechte Gestaltung der Gemeindereferentin oder durch lange Vorbereitung im Liturgieausschuss aufgehalten wird, birgt hohes Kränkungspotenzial für die pastoralen Mitarbeiter. Die aufwändig vorbereitete liturgische Nacht für die Jugend war nicht für eine Kleingruppe gedacht, die sich am Ende, trotz schummrigen Lichtes und abgeteilter Kirchenbänke noch im Kirchenraum verliert. Der Jugendkreuzweg, der überwiegend aus Teilnehmern des Vorbereitungsteams besteht, ist eine Enttäuschung für den Dekanats- oder Diözesanjugendseelsorger.



Pluralisierung der Geschmacksmilieus und der spirituellen Bedürfnisse führt zur Notwendigkeit pastoraler Differenzierungen und Pluralisierung auch innerhalb der Pastoral. Dabei muss die bestehende kirchentreue „Klientel“ gehalten und „gepflegt“ werden, neue Adressatenkreise, Milieus und Zielgruppen gilt es zu erschließen und anzusprechen. Seelsorger sehen sich heute einer großen Bandbreite an liturgischen Erwartungen gegenüber: Da ist die „relativ stabile und große Zahl von motiviert praktizierenden Gliedern der Kirche, die sich für eine lebendige und glaubwürdig gefeierte Liturgie am Ort ihres kirchlichen Lebens einsetzen. Unübersehbar ist aber zweitens die nicht zu unterschätzende Zahl der traditionell oder traditionalistisch eingestellten Gemeindemitglieder, die sich in der Tridentinischen Messe beheimatet fühlen und oder zu ihr wegen einer überbordenden liturgischen Experimentierwilligkeit in Pfarreien und anderen kirchlichen Gemeinschaften Zuflucht nehmen. Daneben gibt es drittens eine große und stets größer werdende Zahl von Kirchenmitgliedern, die ihre Kirchenzugehörigkeit weitgehend passiv leben und vor allem oder nur an den Hochfesten und an den Knotenpunkten ihres Lebens unter Tatbeweis stellen und die deshalb vor allem passagerituelle Erwartungen an den Gottesdienst der Kirche herantragen. Viertens ist an jene Kirchenglieder zu denken, die zwar getauft sind, aber sich eigentlich in einem präkatechumenalen Zustand aufhalten und die man am ehrlichsten als getaufte Katechumenen bezeichnet. Nicht zu vergessen ist fünftens die bedrängend große Zahl von Randchristen und Fernstehenden, von Konfessionslosen und Ungetauften in der heutigen säkularen Gesellschaft, die dennoch relativ hohe Erwartungen an die gottesdienstliche „Dienstleistung“ der Kirche haben.“

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 Wenngleich in allen genannten Erwartungsmilieus die Sehnsucht nach „Wandlung“ und „Verwandlung“ zu spüren ist – in je eigener Ausformung und Ausdrucksweise –, wissen der Priester und die Seelsorger vor Ort um die Unmöglichkeit der Befriedigung aller Bedürfnisse. Es gilt der Gefahr überzogener Partizipationsansprüche gegenüber Menschen mit geringer Kirchenbindung zu begegnen.

 



Das breite Panorama der Spiritualitäten wird in jeder Eucharistiekatechese deutlich, wenn die Bandbreite der elterlichen Gestaltungsvorschläge vom esoterischen Naturerleben einer Nachtwanderung mit Baumverehrung bis hin zur verpflichtenden Teilnahme an wöchentlichen Rosenkranzandachten für Kinder reicht. Der einzelne Seelsorger kann sich nun entscheiden, von welcher Seite er Kritik, Lob, Unterstützung oder Widerstand im Gemeindealltag riskieren, ertragen und theologisch verantworten kann.

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 Und immer sieht er sich unter dem Erwartungsdruck, Positionen vertreten zu müssen, die er selbst kaum verantworten kann.

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Eine Pluralität der Kirchenbilder impliziert auch divergierende Vorstellungen von Leitung und Kirchlichkeit: Der Wunsch nach mehr Strenge und klarer Struktur steht neben der Forderung nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Der Seelsorger vor Ort sieht sich selbst innerkirchlich einer Vielzahl von Spiritualitäten, Leitungswünschen, Zukunftsvisionen und Ansprüche an Leitung gegenüber.

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 Die Anforderungen „von außen“ werden pluraler und unübersichtlicher, die innerkirchlichen Zeichen stehen auf Straffung und Bündelung. Personalabbau, Rückgang finanzieller Ressourcen und gewandeltes Ehrenamt betreffen wieder direkt den Seelsorger als Person. Pfarreien werden zusammengeführt, diözesane Arbeitsstrukturen gestrafft, Abteilungen und Dienstleister innerhalb der Diözese werden aufgelöst oder umgelegt.



Zielgruppenorientierung und Ständepastoral, mit der der gesellschaftlichen Pluralisierung begegnet wurde, werden nun zur „Altlast“ für die vor Ort Tätigen. Unter den Jungsenioren (im Unterschied zu den klassischen „Alten“, die am Seniorennachmittag zum Pfarrsaal gefahren werden, bis hin zu den Pflegebedürftigen) befinden sich zufriedene Vorruheständler, enttäuschte Langzeitarbeitslose, hochaktive Freiberufler, glückliche Großeltern, Singles, die nie verheiratet waren, tief religiöse, aber zunehmend auch kirchlich desinteressierte, vielleicht aber kulturell aufgeschlossene Menschen. Die Pluralisierung in diesem Fall bedeutet für die Pastoral, dass Schwerpunkte gesetzt werden müssen, dass Prioritäten und Posterioritäten zu bestimmen sind, dass im Sinne einer lebensraumorientierten Pastoral delegiert und kooperiert werden muss. Die Praxis zeigt aber, dass in Veränderungsprozessen derjenige, der notwenige Schritte (z.B. die Reduktion der Anzahl von Eucharistiefeiern oder die Zusammenführung von Katechesen im pastoralen Raum) proaktiv und zukunftsträchtig umzusetzen beginnt, dafür angefeindet und bestraft wird, im schlimmsten Falle als faul oder „untreuer Hirte“ gilt, der ohne Not die „Weide eng macht“ und die „Herde“ im Stich lässt.



Viel mehr als Theologen in Referaten und Abteilungen eines Ordinariates klagen Territorialseelsorger über mangelnde Freiräume zum Experimentieren. Eine G