Pudding Pauli rührt um

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„Und was tut sich in der verdammten Herz-Angelegenheit?“, fragte der Pauli leise.

„Da tut sich der helle Wahnsinn“, flüsterte die Rosi und die Englisch-Lady rief: „Ruhe da hinten! Keine Privatgespräche, wenn ich bitten darf!“

Die Rosi nahm ihren Notizblock, schrieb drauf: Jetzt halten den Jonas schon fast alle für den Dieb. Außer dem Felix und dem Anton und dem Nenad. Der Sepp und der Max schwanken noch.

Sie schob den Block zum Pauli hin. Und der schrieb auf die nächste Seite: Nur drei Vernünftige in einer Klasse! Ein trauriger Prozentsatz!, und schob den Block zur Rosi zurück.

Mit uns sind es fünf! Und das sind 25 Prozent! Mehr Hirn hat der liebe Gott nicht zu verteilen!, schrieb die Rosi und ließ dann den Notizblock blitzschnell im Pult verschwinden, denn die Englisch-Lady marschierte auf sie zu und keifte: „Langsam reicht es mir mit euch zwei beiden. Wo sind denn eure Englisch-Bücher? Oder bestreikt ihr vielleicht den Unterricht?“ Brav holten der Pauli und die Rosi ihre Englischbücher aus den Rucksäcken.

„Und wo ihr sie aufschlagen sollt, wisst ihr natürlich auch nicht!“

Die Englisch-Lady bekam ihr nervöses Augenlider-Zucken. Den Tick kriegt sie immer, wenn sie sich sehr ärgert.

„Bedauerlicherweise nicht“, sagte die Rosi.

„Werde nicht auch noch frech!“ Die Augenlider der Englisch-Lady zuckten jetzt bereits beängstigend schnell.

„Wir sind auf Seite dreißig!“, rief der Jakob.

„Danke“, sagten die Rosi und der Pauli im Duett und blätterten sich in den Englisch-Büchern zu Seite dreißig durch. Und dann mussten sie – abwechselnd – je einen Absatz übersetzen. Bis zum Ende der Stunde. Das ist so die feine englische Art der Englisch-Lady, unaufmerksame Schüler zu bestrafen.

Da aber sowohl die Rosi als auch der Pauli in Englisch sehr gut sind und keinen einzigen Fehler beim Übersetzen machten, beruhigten sich die Augenlider der Englisch-Lady langsam.

Total erschöpft waren der Pauli und die Rosi hinterher. Sie waren noch am Verschnaufen, als die Dr. Krautsack zur zweiten Stunde einmarschierte und sich freute, dass alle Fenster geschlossen waren und sie sich den üblichen Disput mit dem Pauli ersparte.

Erst in der Zehn-Uhr-Pause konnte sich der Pauli in der Klasse umhören. Er musste feststellen, dass die Rosi wahrlich nicht übertrieben hatte. Grüppchenweise standen die 2a-Schüler beieinander und tuschelten aufgeregt.

Der Jonas saß mopszufrieden auf seinem Platz und studierte ein Comics-Heftl.

„Ich glaube, der hat keine Ahnung“, sagte der Pauli zur Rosi. „Ich setz mich mal kurz zu ihm!“ Er schlenderte, sein Super-Schinken-Käse-Gurken-Brot in der Hand, zum Jonas.

„Willst beißen?“, fragte er den Jonas und hielt ihm das Super-Brot unter die Nase.

„Na sowieso!“ Der Jonas biss gierig zu.

„Sag einmal, Jonas, heißt deine große Schwester eigentlich Lea?“, fragte der Pauli.

Der Jonas schüttelte den Kopf und erklärte, winzige Schinken- und Gurkenbröckerln spuckend: „Nein. Die heißt eigentlich Lia. Von Liane kommt das. Aber ihr zweiter Vorname ist Desiree und seit ein paar Monaten darf man die alte Ziege nur noch Desiree nennen, sonst wird sie biestig!“

Der Pauli kletterte aufs Pult vom Jonas und brüllte: „Alles mal herhören, bitte!“

Die Grüppchen stellten das Getuschel ein, alle Kinder drehten sich zum Pauli und schauten neugierig zu ihm rauf.

Der Pauli rief: „Die große Schwester vom Jonas heißt eigentlich Lia, Lia von Liane! Aber sie besteht drauf, dass sie mit ihrem zweiten Vornamen angeredet und Desiree genannt wird!“ Dann sprang er, sehr elegant, wieder vom Pult runter.

„Warum erzählst du denn das allen? Das interessiert doch niemanden!“, staunte der Jonas und biss noch mal von Paulis Super-Brot ab, wobei ihm die Spitze von Paulis Zeigefinger zwischen die Zähne kam.

„Doch, doch!“, sagte der Pauli, legte das Brot weg und besah sich den gebissenen Finger. „Das interessiert alle brennend!“


„Echt? Aber wieso denn, Pudding?“ Der Jonas schaute kugelrund. Die versammelten 2a-Schüler schauten nicht minder kugelrund. Und die Maria fauchte die Anna und die Verena an: „Ihr seid sowas von saublöd! Euch glaube ich echt kein Wort mehr!“

Worauf die Anna der Maria die Zunge rausstreckte und aus der Klasse rannte und die Verena hinter ihr herlief.

„Ich versteh zwar nur Bahnhof“, sagte der Jonas zum Pauli, „aber dein Jausenbrot war echt das beste Jausenbrot, das ich je gegessen habe!“

Da merkte der Pauli erst, dass der Jonas inzwischen auch noch den Rest vom Super-Brot verputzt hatte. Er ging zu seinem Platz zurück und ließ sich seufzend auf den Sessel plumpsen.

„1a gemacht, Pudding!“, lobte ihn die Rosi und schaute grinsend zu, wie die 2a-Schüler langsam und ziemlich belämmert auf ihre Plätze gingen. „Jetzt haben sie was zum Nachdenken!“

„Und ich hab Hunger!“, sagte der Pauli.

„Du könntest eigentlich für den Jonas auch immer ein Jausenbrot machen“, sagte die Rosi. „Er hat nämlich nie eines.“

„Das tät doch ausschauen, als ob ich ihn für armutsgefährdet halten würde.“ Der Pauli schaute ablehnend.

„Ist er ja auch!“, sagte die Rosi

„Aber will er, dass wir das wissen?“ Der Pauli benagte sinnend seine Unterlippe und nahm sich vor, darüber bei Gelegenheit nachzudenken.

3. Kapitel,

in welchem zwei Steaks zu durchgebraten sind und einer mit Segelohren leider schneller läuft als der Pauli.


„Ich glaube“, sagte die Rosi auf dem Heimweg sehr zufrieden zum Pauli, „jetzt ist den Deppen in der Klasse das Verdächtigen aber gründlich vergangen.“

„Bringt uns aber auch kein bisschen weiter“, murmelte der Pauli und trat wütend nach einer leeren Bierdose. Die Bierdose sauste über den Gehsteig und landete auf dem Hintern eines krummbeinigen, kleinen Hundes, der gerade mitten auf dem Gehsteig einen Haufen machte. Der Hund jaulte auf, und die alte Frau, die ihn an der Leine führte, fing fürchterlich zu schimpfen an.

„Entschuldigung, tut mir leid, war keine Absicht!“, rief der Pauli und rannte mit der Rosi an der alten Frau und dem krummbeinigen, kleinen Hund, der jetzt nicht mehr jaulte, sondern seinen Haufen vergrößerte, schnell vorbei. Und die Rosi drehte sich im Rennen um und rief der alten Frau zu: „Nimm ein Sackerl fürs Gackerl!“

Erst bei der nächsten großen Straßenkreuzung verschnauften die Rosi und der Pauli.

„Die hat vielleicht Sachen gekeift“, staunte die Rosi. „So alt und so etwas von ordinär! Und da heißt es immer, dass man im Alter weise wird!“

„Auf so ziemlich alles, was es immer heißt, kannst getrost vergessen“, sagte der Pauli. „Außer darauf, dass es immer heißt, dass der Rimpel die besten Steaks in der ganzen Gegend hat.“

Also marschierten die beiden die Straße runter bis zum Fleischhauer Rimpel.

„Zwei Steaks vom Rindslungenbraten, bitte schön“, verlangte der Pauli.

„Daumendick“, fügte die Rosi hinzu.

„Mein Daumen oder deiner?“ Der Fleischhauer Rimpel hielt der Rosi einen seiner knackwurstdicken Daumen hin.

„Er ist der Koch, er kennt sich da besser aus!“ Die Rosi deutete auf den Pauli.

Der Pauli betrachtete den Fleischhauerdaumen eingehend, dann entschied er: „So wie Ihrer ungefähr!“

Diese Entscheidung bereute er an der Kassa allerdings, denn er musste für die zwei Steaks und ein Häuptl Salat sein gesamtes Geld rausrücken.

„Für den Rest der Woche ist Schmalhans Küchenmeister“, erklärte er der Rosi, als sie heimkamen. „Wir haben nur mehr ein paar lumpige Euro im Topf.“

Jeden Montag legen die Rosi und der Paul nämlich „Kostgeld“ in einen alten Schmalztopf. So viel, wie ihre Mütter für das Mittagessen im Hort bezahlen würden, und dazu noch Jausenbrot-Geld. Pro Kind und Tag den Gegenwert von zwei Topfenkolatschen. Und sie nehmen sich vor, mit dem Kostgeld auszukommen. Was ihnen aber nur selten gelingt. Meistens müssen ihre Mütter noch ein bisschen drauflegen, damit der Freitag kein Fastentag wird.

Weil die Rosi schon wieder arbeitslos war – Mathe hat die 2a am Donnerstag nicht –, half sie dem Pauli und machte, während er die Steaks briet, den Salat. Mit ihrem Spezial-Dressing aus Obers, Zitronensaft und Zucker, das der Pauli nicht ausstehen kann. „Baby-Soße“ nennt er diese Mischung. Er ist eher für viel Öl, wenig Essig und eine Winzigkeit Salz und Pfeffer. Aber er hatte einen friedlichen Tag und protestierte nicht gegen den Salat. Außerdem war er ein bisschen kleinlaut, weil ihm die Steaks „zu durch“ geraten waren. Sie waren innen nicht blutig, wie von der Rosi gewünscht, sondern rosa. Und dabei ist der Pauli immer so stolz drauf, dass er je nach Wunsch, ein Steak „rare“ oder „medium“ oder „well done“ hinkriegt, perfekter als seine Oma, die eine Super-Köchin ist.

Der Pauli brät die Steaks ganz kurz auf beiden Seiten an und stellt sie dann ins hundert Grad heiße Backrohr. Sollen sie innen blutig sein, holt er sie nach fünf Minuten raus, sollen sie innen rosa sein, nach zehn Minuten. Bleiben sie noch länger im Backrohr, sind sie völlig durchgebraten. Diese Methode hatte immer funktioniert!

Aber weil die Steaks diesmal so besonders dick gewesen sind, doppelt so dick wie die Steaks, die er sonst macht, hat er gedacht, er muss sie auch doppelt so lange im Backrohr lassen, und das ist sichtlich ein Irrtum gewesen.

 

„Das kommt davon, weil ich dauernd über den verflixten Herz-Dieb nachdenken muss“, entschuldigte er sich, als die Rosi ihr rosa geratenes Steak zersäbelte. Total zersäbelte! Sie hat die unfeine Angewohnheit, das ganze Essen auf ihrem Teller klein zu schneiden und sich dann mit der Gabel drüber herzumachen. Und wenn der Pauli das „babymäßig“ findet, behauptet sie: „Das machen die Amerikaner auch. Sogar der Mister President. Damit sie beim Essen eine Hand frei haben, um jederzeit den Colt ziehen zu können. Das gehört dort zum guten Ton.“

Der Pauli schluckte mit Todesverachtung einen Happen vom zuckrigen Salat und sagte: „Aber ab jetzt verbiete ich mir diese ewige, sinnlose Nachdenkerei. Das schwöre ich dir, Rosi! Man muss einsehen, dass manche Fälle eben nicht zu lösen sind, wenn einem Kommissar Zufall nicht hilft!“

Bis zum Samstag hielt der Pauli seinen Schwur. Eisern verbot er sich jeden Wer-könnte-der-Dieb-sein-Gedanken. Am Freitag war das goldene Herz zwar immer noch Gesprächsthema Nummer eins in der Klasse, aber den Jonas schien niemand mehr zu verdächtigen. Die 2a-Schüler stritten sich bloß darüber, ob der Dieb der Lea das Herz zurückschicken wird oder nicht. Und wie lange so ein Brief mit der Post brauchen kann. Und ob ein Grafologe, falls der Dieb das Herz zurückschickt, auch mit einer in Blockbuchstaben geschriebenen Adresse den Schreiber rauskriegen könnte.

Doch dann ging der Pauli am Samstag, zu Mittag, mit der Rosi auf den Kinder-Flohmarkt. Weil der Rosi in ihrer Sammlung zwei Hefte „Tim und Struppi“ fehlen und auf dem Kinder-Flohmarkt immer alte Comics angeboten werden.

Die Rosi fand keines der Hefte, die sie suchte. „Lauter Ramsch und Schrott“, sagte sie enttäuscht zum Paul. „Von mir aus können wir gehen, mich hält da nichts mehr.“

Aber der Pauli packte sie am Arm und flüsterte aufgeregt: „Dort!

Der Bub mit den Segelohren!“

„Wo?“ Die Rosi schaute sich ratlos nach allen Seiten um. „Wen meinst du denn?“

„Der mit der dicken Erdäpfelnase und dem Muttermal auf der Wange. Der mit dem verboten komischen Haarschnitt. Direkt vor uns!“, flüsterte der Pauli.

„Und was ist mit dem?“, fragte die Rosi.

„Der hat ein kleines goldenes Herz auf seiner Decke liegen. Könnte das der Lea ihr Herz sein?“ Der Pauli war ja noch nicht in der Klasse gewesen, als die Lea ihr Herz rumgezeigt hatte.

Der segelohrige Bub saß zwischen zwei kleinen Mädchen, die Barbiepuppenkleider, Glasperlen, Stoffrosen und Abziehbilder feilboten, im Türkensitz hinter einem Geschirrtuch, auf dem allerhand Kram ausgebreitet war. Eine kleine Taschenlampe, ein paar Match-box-Autos, eine lederne Geldbörse, ein Schweizer Taschenmesser, eine rote Krawatte, ein paar Schlüsselanhänger und ein daumennagelgroßes Herz, das golden glänzte.

Die Rosi ging zu dem segelohrigen Buben hin und beugte sich über das Geschirrtuch und wollte nach dem Herz greifen.

„Liegen lassen!“, schnauzte sie der Segelohrige an. „Das ist wertvoll!“

„Ich will es mir doch nur anschauen“, sagte die Rosi freundlich.

„Was kostet es denn?“

„Man schaut mit den Augen, nicht mit den Pfoten!“ Der Segelohrige nahm das Herz in die Hand und hielt es der Rosi hin. In das Herz war Lea graviert!

Der Pauli war hinter der Rosi hergekommen und starrte über ihre Schulter auf das goldene Herz. Er konnte es einfach nicht fassen!

Da hockte ein wildfremder Bub, einer, der garantiert nicht in ihre Klasse, sicher nicht mal in ihre Schule ging, und der bot tatsächlich Leas Herz zum Verkauf an! Das konnte doch nicht sein, das war völlig unmöglich und ausgeschlossen! Es sei denn, der gute Kommissar Zufall hätte sich seiner erbarmt!

Weil der Pauli stumm wie ein Karpfen blieb, meinte die Rosi, die Sache übernehmen zu müssen, und fragte den Segelohrigen: „Woher hast du denn dieses Herz?“

Der Segelohrige schaute misstrauisch, machte eine Faust um das Herz, rappelte sich aus dem Türkensitz hoch und zischte: „Das geht dich einen Schmarrn an!“

„Das geht mich sehr wohl was an“, sagte die Rosi. „Weil das Herz gehört einer aus unserer Klasse!“

Sie war mit dem Satz noch gar nicht fertig, da hatte der Segelohrige schon sein Geschirrtuch an den vier Ecken gepackt und flitzte, in einer Faust das Herz, in der anderen den Geschirrtuch-Binkel mit dem übrigen Kram drin, affenschnell los. Hurtig drängte er sich zwischen den Flohmarkt-Besuchern durch, rannte einen kleinen Buben über den Haufen, sprang über eine große Holzeisenbahn und rempelte rücksichtslos zur Seite, was ihm in den Weg kam.

Da erwachte der Pauli endlich aus seiner Staun-Starre und rief: „Ihm nach! Volle Kraft voraus, Rosi!“

Aber quer durch einen Flohmarkt voll Kindern ist schwer rennen, wenn man nicht so rücksichtslos wie der segelohrige Bub ist und einem dauernd jemand im Weg rumsteht.

Als die Rosi und der Pauli endlich aus dem Flohmarkt draußen waren, hatte der Segelohrige schon einen gewaltigen Vorsprung. Gut zwei Häuserblocks vor ihnen jappelte er dahin.

Der Pauli und die Rosi liefen so schnell, wie sie noch nie gelaufen waren, und der Vorsprung vom Segelohrigen wurde kleiner und kleiner. Kaum fünf Meter vor ihnen trabte er!

Doch plötzlich blieb die Rosi stehen, hielt sich eine Hand auf den Bauch und stöhnte: „Pudding, ich kann nimmer, ich habe Seitenstechen, renn allein weiter!“

„Okay!“, keuchte der Pauli und rannte weiter, aber inzwischen hatte der Segelohrige seinen Vorsprung schon wieder gewaltig vergrößert und dann flitzte er durch das große, sperrangelweit offene Gittertor eines riesigen Gemeindebaus. Und als der Pauli mit letzter Kraft in den Hof kam, war der Segelohrige einfach futsch!

Der Pauli ließ sich auf eine Bank unter einem Kastanienbaum plumpsen und schaute sich schnaufend um. Im Hof, stellte er fest, konnte sich der Segelohrige nirgendwo versteckt haben. Bloß ein paar Kastanienbäume mit Bänken drunter gab es da, und mitten im Hof eine Kleinkinder-Sandkiste und dahinter einen Ballspielplatz.

Und rund um den Hof waren die Eingangstüren zu den einzelnen Stiegen. Elf Eingangstüren.

Dann kam die Rosi, Hand an der Hüfte, in den Hof gezockelt und setzte sich zu ihm. „Tut mir leid, Pudding“, sagte sie. „Mit meinem Seitenstechen hab ich alles verpatzt.“

„Nicht mehr als ich“, seufzte der Pauli. „Zuerst steh ich wie der Blöde da und glotze nur, und dann rennt der Kerl auch noch schneller als ich!“

„Aber jetzt wissen wir wenigstens, wo er wohnt. Weil, schau einmal …“

Die Rosi zeigte auf eine Frau, die gerade die Eingangstür von Stiege 7 aufsperrte. „Wenn er nicht irgendwo da drin wo wohnen würde, wäre er nicht zu einer Tür reingekommen. Ohne Schlüssel geht das nicht.“

„Da gibt es elf Stiegen“, sagte der Pauli. „Und jede hat sieben Stockwerke und auf jedem Stockwerk sind sicher vier Wohnungen, wenn nicht gar fünf. Elf mal sieben ist siebenundsiebzig. Und siebenundsiebzig mal fünf ist … ist …“

„Dreihundertfünfundachtzig!“, half ihm die Rosi aus.

„Exakt!“ Der Pauli hob ein Kastanienblatt vom Betonboden auf und zerrupfte es. „Willst du an dreihundertfünfundachtzig Klingeln klingeln und fragen, ob es vielleicht in der Wohnung einen potthässlichen Buben mit Segelohren, Erdäpfelnase und Stoppelglatze gibt?“

Die Rosi schüttelte den Kopf. „Würde auch nichts bringen. Weil nämlich meistens die Mamas an die Gegensprechanlage kommen. Und Mamas halten ihre Kinder nie für potthässlich.“

„Aber der Kerl muss ja wohl in die Schule gehen, der ist sicher nicht viel älter als wir“, meinte der Pauli. „Und wenn wir am Montag ab halb acht vor dem großen Eingangstor auf ihn lauern, müssten wir ihn erwischen.“

Recht gab die Rosi dem Pauli zwar schon, aber sie war strikt dagegen. Weil für Montag in der ersten Stunde die Mathe-Schularbeit angesagt war. Und wenn sie bis knapp vor acht Uhr vor dem Gemeindebau lauern und eventuell sogar den Segelohrigen schnappen würden, dann würden sie die Mathe-Schularbeit versäumen. Das wäre zwar für die Rosi überhaupt kein Problem gewesen, aber der Pauli stand in Mathematik zwischen vier und fünf; was halt leicht passiert, wenn man sich die Hausübungen von wem anderen schreiben lässt. Und würde er die Mathe-Schularbeit versäumen, müsste er sie mutterseelenallein nachholen. Und dann wäre ihm – ohne helfende Rosi nebenan – der Fünfer hundertprozentig gewiss.

„Von mir aus“, sagte sie. „Lauern wir, wenn es unbedingt sein muss, am Dienstag, da ist in der ersten Stunde Musik. Aber gern mache ich das echt nicht.“

Eine Zeitlang saßen die beiden stumm nebeneinander. Die Rosi mit den Beinen baumelnd, der Pauli ein zweites und ein drittes Kastanienblatt klein zupfend.

Schließlich sagte der Pauli: „Garantiert steht der blöde Kerl jetzt da irgendwo hinter einem Fenster und lacht uns aus.“

Eine junge Frau kam von der Straße her in den Hof rein, ein alter Mann trat aus der Tür von Stiege 7 und humpelte zum großen Tor raus, eine Mama verließ mit einem kleinen Buben an der Hand die Stiege 3, ging mit ihm zur Sandkiste, setzt ihn rein und packte aus einer Tragetasche Küberl und Schauferl und Backe-backe-Kuchen-Formen aus. Dem kleinen Buben passte irgendetwas nicht. Er fing zu brüllen an. Die Mama hockte sich zu ihm in die Sandkiste und füllte ihm das Küberl mit Sand. Da hörte der kleine Bub zu brüllen auf, nahm das Küberl, hob es hoch und leerte es über dem Kopf seiner Mama aus. Worauf die Mama zu brüllen anfing. Und aufsprang und sich den Sand aus den Haaren zu beuteln versuchte, was ihr nicht gelang. Sie griff nach dem kleinen Buben, packte ihn an den Hosenträgern und schleppte ihn schimpfend zu Stiege 3. Das Sandspielzeug und die Tragetasche blieben in der Sandkiste liegen.

„Ob so ein kleines Kind so etwas mit voller Absicht macht?“, fragte der Pauli.

„Na klar, was denn sonst?“, sagte die Rosi. „Kleine Kinder können ziemlich boshafte Zwerge sein. Die haben es faustdick hinter den Ohren. Und genieren sich nicht, zu tun, was ihnen grad einfällt.

Aber noch länger da rumsitzen und den Ureinwohnern beim Leben zuschauen, hat echt keinen Sinn.“

Der Pauli nickte und stand auf. Neben der Rosi latschte er zum großen Tor raus. Auf dem Heimweg wurde dem Pauli und der Rosi erst klar, wie weit sie hinter dem Segelohrigen hergerannt waren.

Eine halbe Stunde brauchten sie zum Flohmarkt zurück, obwohl sie schnell gingen. Mindestens zwei Kilometer, wenn nicht gar drei, mussten das gewesen sein.

„Unternehmen wir zwei beide heute noch etwas Aufbauendes?“, fragte die Rosi.

„Keine Lust auf gar nichts!“, antwortete der Pauli muffig. „Ich gehe heim!“

Und da er nicht gefragt hatte, ob die Rosi zu ihm heim mitkommen will, verabschiedete sie sich schnell. Sich jemandem aufzudrängen, ist ihre Sache nicht. Aber ein bisschen sauer war sie schon. Doch da die Rosi von heiterer Gemütsart ist, war ihr Gram bereits verschwunden, als sie nach Hause kam und im Wohnzimmer eine aufgeschlagene Zeitung liegen sah. Auf der einen der aufgeschlagenen Seiten war ein postkartengroßes Bild. Die Rosi starrte das Bild an, murmelte: „Das könnte hinhauen“, lief zum Festnetz-Telefon, um ihre Handy-Wertkarte zu schonen, und rief den Pauli an.

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