Totensteige

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3

Die Wasserburg Kalteneck lag mit wachsamem Blick ins für ­heranrückende Heere geeignete Tal in einer dörflichen Wohngegend. Die Fensterläden waren rot gestrichen, die Wände weiß, das Fachwerk grau. Von der Straße gesehen, sah sie aus wie ein Altstadthaus, deshalb war ich zweimal vorbeigefahren. Erst wenn man an die Mauer herantrat, sah man den Wassergraben.

Gegen die angrenzenden Grundstücke mit ihren verstädterten Bauernhöfen war der Graben abgezäunt. An seinen Böschungen stand Gebüsch in Winterstarre. Mit dem Festland von Holzgerlingen war die Insel der Geister nur durch einen Steg verbunden. »Institut für Grenzwissenschaften und Parapsychologie« stand auf dem Schild. Darunter die Sprechzeiten für Beratung.

Das Boot lag hinten an einer Terrasse. Ein paar vereiste Stufen führten hinunter. Die dünne Eisdecke splitterte, als ich in die Nussschale stieg, schwarzes Wasser quoll empor. Vermutlich würde es sich rudern lassen. Nur musste man dazu Ruder haben. Wir fanden sie zusammen mit der Leiter zwischen Bierbänken und Kisten im Gewölbekeller. Ich legte die Aluminiumleiter längs und setzte mich darauf. Bei jedem Zug knackte das Eis unterm Bug. Ich ruderte unterm Steg hindurch. Straßenseitig knallte die Sonne auf die hohe weiße Wand, die mit steinernen Widerlagern verstärkt war. Die erste Reihe der Fenster lag meterhoch, an die zweite musste ich heran. Desirée hatte mir die Fenster von Rosenfelds Eckbüro gezeigt.

Schnapsidee!

Allein die Leiter vom Boot ins Wasser schieben, ausziehen und aufstellen, grenzte an Slapstick. Der Wassergraben war allerdings nicht tief. Ertrinken konnte man darin nur, wenn man sich platt auf den Bauch legte. Die Leiter stand ganz gut im geziegelten Grund des Grabens und reichte gerade bis an den Sims des Fensters, das ich mir ausgesucht hatte. Ich leinte das Boot an einer Sprosse an und versuchte, nicht ins Wasser zu fallen, als ich zur Leiter hinüberstieg. Wenn man knirschende und wippende Gestänge erklimmt, darf man nicht nachdenken. Schnell lag das Boot tief unten. Ich sah in die Gärten der modernisierten Dorfhäuser, auf Autodächer, auf die Straße. Hinter der Mauer war ein älteres Ehepaar neben dem fröstelnden Sonnenscheinchen stehen geblieben.

Um durchs Fenster blicken zu können, musste ich mich an der nackten Wand abstützen. Die Sonne machte aus der Scheibe einen Spiegel, ich sah nur mein Rübengesicht und musste mit beiden Händen das Glas verschatten.

Es leuchteten Bücherregale und Ablagen, wo die Wintersonne hinlangte. Genau vor mir, unterm Fenster, stand ein Schreibtisch. Ich blickte auf die Rückseite eines Mac-Bildschirms, Stapel wissenschaftlicher Zeitschriften, Bücher, einen Köcher mit Stiften, eine Kaffeetasse. Doch unter dem Tisch hervor ragte ein Paar khakifarbener Hosenbeine. Die Füße steckten in braunen Trekkingschuhen. Sie stießen fast an die Tür.

Sackzement!

Den ganzen Morgen hatte ich schon ein blödes Gefühl gehabt. Wie neben der Kapp. Seit mich im Oktober ein Irrer auf der Buchmesse so gut wie totgeschossen hatte, neigte ich zu Raumzeitkrümmungen. Vielleicht eine Folge des Ketamins, mit dem man mich sediert hatte, oder der vorübergehenden Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff, jedenfalls war etwas in meinem Kopf aus der Spur gesprungen und geisterte linksherum. Manchmal wusste ich nicht, wie ich von A nach B gekommen war, ich dachte, was Richard erst Minuten später sagte, oder ich hörte mein Handy klingeln, schaute auf die Anzeige, und erst dann baute sich tatsächlich ein Anruf auf und es begann zu klingeln. Solche Sachen.

Vermutlich wurde ich nur deshalb an diesem Montag, dem 31. Januar Teil dessen, was manche heute die Kalteneck-Verschwörung nennen. Hätte ich akzeptiert, dass ich zu spät zum Termin gekommen war, und wäre einfach wieder gegangen, wäre alles anders gekommen. Hätte ich nicht nachgeguckt, wäre Rosenfeld nicht tot gewesen. Das ist das Geheimnis von Schrödingers Katze und allen Psi-Phänomenen. Sie sind erst da, wenn man im System ist. Und aus diesem System komme ich erst wieder raus, wenn ich weiß, wie ich hineingekommen bin.

Auf der Leiter an der Außenwand der Burg Kalteneck handelte ich reflexartig, routiniert, fatalistisch. Lisa Nerz findet wieder mal eine Leiche. Ich krustelte mein Handy aus der Jackentasche – nicht fallen lassen! – und machte ein paar Fotos. Was draufkam, konnte ich nicht erkennen, denn die Sonne verblendete das Display.

»Sehen Sie was?«, rief Desirée Motzer vom Fußweg über den Graben.

»Ich komme runter«, antwortete ich.

Beim Absteigen von der Leiter rutschte mir das Boot unterm Steiß weg. Ich sprang ab und stand bis zum Knie im eiskalten Wasser. Die Leiter, an der ich mich festgeklammert hatte, kippte von der Wand und schlug aufs Boot. Beinahe hätte der untere Holm mir noch einen Kinnhaken versetzt. Ganz fein, wenn man alles gut im Griff hat.

Ich angelte das Boot herbei, wuchtete die Leiter drauf, watete durch brechendes Eis zu den Stufen, die straßenseitig hochführten, und machte das Boot an einem Busch fest. »Zutritt verboten«, stand außen am Törchen. »Das Betreten der Eisfläche ist nicht gestattet.« Genau genommen hatte ich die Eisfläche nicht betreten. Ich war durchgebrochen. In meinen Schnürstiefeln quatschte Wasser. Gern hätte ich wem anders die Schuld gegeben. Zum Beispiel den Schaulustigen an der Mauer. Oder dem kichernden Sonnenscheinchen.

»Ich fürchte«, sagte ich, als wir über den Steg zurück auf die Insel gingen, »der Professor liegt in hilfloser Lage in seinem Büro.«

»O Gott! Hoffentlich ist ihm nichts passiert!«

Wenn einer rücklings auf dem Boden liegt, ist ihm was passiert. Ich hätte vielleicht gleich von einer leblosen Person sprechen sollen.

Die Uhr im Fachwerkgiebel unterm Dachfirst stand auf drei nach acht, obgleich es gerade fünf nach zwölf war. Das fiel mir auf.

»Habt ihr nicht vielleicht doch einen Generalschlüssel? Oder soll ich die Tür eintreten? Andernfalls muss der Schlüsseldienst her, und zwar zügig.«

Desirée wurde plötzlich fahrig. »Ich weiß nicht … da muss ich die Frau Doktor fragen.«

»Denk nach, Sonnenscheinchen. Eine Schließanlage wie diese hat einen Generalschlüssel!«

Desirée zog krachend Schreibtischschubladen auf und wühlte. Das beste Versteck ist Unordnung.

Ich setzte mich inzwischen auf den Besucherstuhl und zog meine nassen Stiefel und Socken aus. Das Parkett war nagelneu und angenehm warm unter den Fußsohlen. Alle Wände waren weiß gestrichen, die Türen glänzten und spiegelten. Sonnenlicht ist der Feind des Gelichters.

»Ist er das?«, rief Desirée und hielt einen Schlüssel in die Höhe.

Ich schnappte ihn mir.

»Was haben Sie vor?«, rief Dr. Barzani, aus den Tiefen des Gangs herbeieilend. »Moment!«

Auch wenn die Frau Autorität war – Doktorin, stellvertretende Leiterin eines Instituts, im Kopf ein Mann –, so war sie doch auch wieder nur das Geschöpf von Männern. Und Männer wollen hören, wenn Frauen kommen, am Klacken der Absätze, am Rascheln der Röcke, am nylonzarten Aneinanderreiben der Oberschenkel.

»Ich kann auch gleich die Polizei rufen.« Bei Akademikern half, wie bei anderen Menschen auch, das Vorhalten von harten Alternativen.

Sie schwieg.

Der Schlüsselschlitz nahm den Schlüssel in Empfang wie eine gut geschmierte Möse. Das Schloss drehte sich widerstandslos. Allerdings ließ sich die Tür nicht mehr als eine Handbreit öffnen. Auf der anderen Seite bremsten Füße in Trekkingschuhen. Es roch nach Eisen. Nach Blut. Es hatte die ganze Zeit hier schon nach Blut gerochen, ich hatte es nur falsch interpretiert. Im Hinterstübchen schaltete ich auf Tatort um. Keine Spuren verwischen. Mit der Hand zog ich erneut mein Handy aus der Tasche und stellte das Display auf Spiegelmodus. Mit dem Arm kam ich gerade so durch den Türspalt.

»Was ist? Was machen Sie da?«, fragte Barzani hinter mir.

Im Spiegel sah ich die khakifarbenen Hosenbeine und … Ich musste ausschnaufen.

Der Tote sah aus, als wäre ein Raubtier beim Fressen gestört worden. Gedärm, Nieren, Leber und Magen matschten herum, aus dem Brustkorb ragten Knochen. Die Leibeshöhle klaffte. Mit dem Kopf lag er neben dem Radkranz des Schreibtischstuhls im Schatten des Tischs. Zuerst dachte ich, das Raubtier hätte auch seine Augen herausgerissen, dann erkannte ich, dass sie zugeklebt waren mit ockerfarbenen Vierecken, Stücken von Paketklebeband. Ein längeres Stück klebte über seinem Mund. Die Arme waren nach oben gerissen und schienen gefesselt. Ich zog meine Hand ein, um das Telefon auf Kamera umzustellen. Ich machte kleine, unauffällige Bewegungen, damit die Damen es nicht mitbekamen, und knipste fünf- oder sechsmal rasch in den Raum.

»Was ist?«, riefen Derya und Desirée mit sich überschlagenden Stimmen. »Was ist los? Ist was mit ihm?«

Desirée riss mich aus der Tür. »Lassen Sie mich durch! Ich muss …«

Ich hielt sie fest. »Lieber nicht! Wir müssen die Polizei verständigen.«

»Ist er tot?«, flüsterte Derya Barzani.

4

Den Nachmittag verbrachte ich bei Karin Becker im feuerfesten Archiv des Stuttgarter Anzeigers. Becker hatte Wikipedia und Konsorten gegenüber den Vorteil, dass sie für mich vor­auswählte. Ich konnte im Keller des Pressehauses an dem grauen Tisch mit den Bildschirmen im Geviert der Hängeregisterschränke und Regale die Füße ausstrecken und mich doof stellen, während sie die Wunder der Stichwortsuche und ihrer symbiotischen Kenntnisse des Archivs vor mir ausbreitete.

»Ich habe mal die spektakulärsten Fälle der letzten fünfzig Jahre herausgesucht«, sagte sie, »Nina Kulagina, der Rosenheim-Spuk, Uri Geller. Warum müssen die Medien eigentlich immer über dieselben Fälle berichten? Wird das nicht langweilig?«

 

»Das sehen Sie falsch, Frau Becker. Sex ist auch immer dasselbe, aber es ist nie langweilig!«

Beckers Braue zuckte. Sie lebte mit einer männlichen Katze und drei Tageszeitungen in einer Wohnung in der Elfenstraße in Möhringen mit Blick auf den Riedsee und schaute auf eine leidenschaftliche Jugend zurück, über die sie Stillschweigen bewahrte.

»Woher der Begriff kommt, wissen Sie?« Sie schaute mir kurz in die Augen. »Para bedeutet auf Griechisch neben.«

»Eine Nebenseelenwissenschaft also. Haben Gespenster eine Psyche?«

»Erstens geht es in der Parapsychologie nicht nur um Gespenster, sondern um Hellsehen, Wahrsagen, um Fernwirkungen wie Telekinese und Telepathie, um alles, was so aussieht, als wirkten Kräfte, die nicht direkt physikalisch erklärbar sind. Und zweitens sind naturgemäß alle diese Erscheinungen an Menschen gekoppelt, die davon berichten, weil sie sie wahrgenommen haben.«

»Also Einbildung.«

»Vielleicht.« Becker legte mir den ersten Packen hin, Papier und eine DVD. »Der Fall Nina Kulagina. Sie war im Krieg in Leningrad Funktechnikerin in einem Panzer, bekam Kinder und wurde in den Sechzigern mit telekinetischen Fähigkeiten bekannt. Nur einem einzigen westlichen Parapsychologen ist es 1970 gelungen, sie zu besuchen und zu filmen.«

Die Schwarzweißaufnahmen, die Becker mir am Computer vorführte, zeigten eine frisierte Hausmutter an einem Tisch mit einem Häufchen Streichhölzer und einem Salzstreuer. Sie ließ die Hände intensiv, konzentriert, beschwörend über den Gegenständen kreisen, und die ruckten dann auf sie zu. Auch einen Kompass brachte sie zum Kreiseln.

»Mit Magneten an der Hand oder auf dem Knie unterm Tisch eine durchaus lösbare Aufgabe«, bemerkte ich.

»Hat man ihr aber nicht nachweisen können. Finley McPierson, der diese Filmaufnahmen gemacht hat, ist bei Zauberkünstlern in die Lehre gegangen. Er tritt sogar auf damit, bis heute. Er hat Kulagina allerdings nur durch die Tür filmen dürfen.«

»Finley McPierson?« Das war doch der, den Rosenfeld am Freitag vom Flughafen hätte abholen sollen. Als er den Kulagina-Film drehte, war er ein junger Mann mit wilden blonden Locken gewesen. Ein aktuelles Foto zeigte einen jetzt weißen Lockenkopf mit dicker Brille vor teichblauen Augen, hagerem Gesicht und bübischem Lachen.

»Er und Professor Dr. Gabriel Rosenfeld vom Institut für Para­psychologie in Holzgerlingen …« Sie schaute mich an.

»Rosenfeld ist tot«, sagte ich. »Seine Leiche wurde am Vormittag gefunden.«

Becker blickte mich scharf an. »Ah so, darum das Interesse.«

»Dieser McPierson, wer ist das?«

»Jahrgang 1949, geboren in Bombay, dem heutigen Mumbai, als Sohn von Diplomaten. Alte schottische Familie. Er hat in der ganzen Welt studiert, auch bei Hans Bender.«

»Und wer ist das?«

»Der bekannteste deutsche Geisterjäger. Ist Ihnen der Fall Chopper ein Begriff?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Das war 1982 der Geist in einer Zahnarztpraxis. Er hat eine attraktive Helferin mit obszönen Stimmen verfolgt, die aus Klos und Waschbecken tönten. Bender hat sich in die Untersuchung gestürzt. Doch dann haben die Arzthelferin, der Zahnarzt und dessen Frau gestanden, dass sie alles inszeniert hätten. Allerdings im Fall Rosenheim …«

Ich schüttelte wieder den Kopf.

»Das war 1967.«

»Da war ich noch im vorrationalen Zustand der Menschwerdung.«

Becker lächelte nachsichtig. »Da gingen in einer Anwaltskanzlei Leuchtstoffröhren an und aus, Glühbirnen zerplatzten. Ein Telefon wählte von selbst ununterbrochen die Zeitansage an und trieb die Telefonrechnung in die Höhe, Kronleuchter schaukelten an der Decke, Bilder drehten sich um den Nagel in der Wand. Die Stromwerke maßen starke Spannungsausschläge, ohne jedoch im Leitungsnetz tatsächlich eine Überspannung feststellen zu können. Die Polizei rückte an. Dann kam Bender. Ihm gelang es zu filmen, wie sich ein an der Wand hängendes Bild einmal um sich selbst drehte. Ein einmaliges Filmdokument!« Becker lächelte untergründig und zeigte mir ein Filmchen. Auf einem blassen Schwarzweiß-Röhrenfernseher in Benders Büro sah man unter Interferenzstreifen schemenhaft ein gerahmtes Bild, das sich plötzlich gewaltig schnell um den Nagel drehte.

»Irre!« Womöglich war doch was dran an diesen Geschichten.

»Dann passen Sie mal auf.« Becker stoppte den Film. »Ich gehe noch mal zurück und wir schauen uns das Sekunde für Sekunde an. Sehen Sie her: Eine Minute, 55 Sekunden, das Bild hängt. Eine Minute, 56 Sekunden …«

»Kein Bild zu sehen, nur unscharfe weiße Streifen.«

»Und bei 58 Sekunden …«

»Da ist es wieder. Es hängt schief auf der Ecke. Was habe ich da vorhin gesehen?«

»Das.« Becker ließ die drei Sekunden lange Sequenz noch mal laufen, und in der Tat, das Bild drehte sich so schnell, dass man nicht sah, wie es sich drehte. Es schaukelte kurz aus und hing dann schief.

»Eine optische Täuschung?«

Becker nickte mit seligem Glanz auf dem hageren Jungferngesicht. »Wir ergänzen, was wir nicht sehen, zu einem Film und sehen folglich, wie es sich dreht und ausschwingt.«

»Oha!«

»Beweis oder geniale Täuschung, das ist bei diesen Phänomenen immer die Frage. Den Rosenheim-Spuk haben insgesamt vierzig Leute untersucht. Bender hat immer die These vertreten, dass ein Spuk an eine Person gekoppelt ist und von ihr ausgelöst wird. In diesem Fall wurde eine neunzehnjährige Angestellte, Annemarie Schaberl, Tochter eines Kraftfahrers, ausgemacht. Eine junge Mutter, die in einer Beziehungskrise steckte. Bender diagnostizierte bei ihr, was er für die Kennzeichen von spukauslösenden Persönlichkeiten hielt: eine Lebenskrise, seelische Labilität, leichte Erregbarkeit, geringe Frustrationstoleranz, Gier nach Beachtung. Pubertär im Grunde.«

»So was wird heute Massenmörder. Vermutlich hat man sie … wie sagte man früher? … ständig gehänselt in der Kanzlei.« Was natürlich die Phänomene nicht erklärte.

»Wer kann das heute noch sagen?« Becker legte mir einen Spiegel-Artikel vom 15.1.1968 vor und sagte: »Der Anwalt wollte das Mädchen übrigens nicht entlassen, obgleich Annemaries Fähigkeiten …«

»… falls es ihre waren oder überhaupt Fähigkeiten …«

»… obgleich sie beträchtlichen Schaden anrichteten. Er wolle einen solchen Geist nicht gern aufgeben, wird er hier zitiert. Das hört man doch heute mit ganz anderen Ohren, nicht?«

Ich stutzte und hörte es auch. Die alte Jungfer und ich alte Kriegerin, wir lächelten uns wissend an. »Nur sagen darf man es nicht, schon gar nicht schreiben! Oder?«

»Besser nicht. Annemarie lebt noch, und der Sohn des Anwalts auch. Als sie übrigens dann doch bald darauf die Kanzlei verließ, hörte der Spuk auf. Sie bestreitet bis heute, diese Kräfte besessen zu haben und die Auslöserin gewesen zu sein.«

»Vielleicht ging der Schabernack nicht von ihr, sondern von einem Witzbold aus. Eine Lampe kann man hinter ihrem Rücken anstoßen und sagen, sie sei es gewesen.«

»Wenigstens ein Fall ist dokumentiert, wo sie selbst der Lampe den Schubs gegeben hat.«

»Na bitte!«

»Bis heute ist jedoch ungeklärt, wie sie ein Telefon dazu hätte bringen können, dass es ununterbrochen die Zeitansage anwählt, ohne dass sie den Hörer abnimmt und die Wählscheibe dreht.«

Ja, die alten mechanischen Dinger. »Oder man hätte am anderen Ende der Geschichte die Telefonrechnung manipulieren müssen.« Ich ließ die Augen über die Sammlung der Artikel gleiten, darunter eine Schlagzeile der Abendzeitung: Hexenspuk in Anwaltskanzlei. »Ja, was war die denn nun?« Ich wunderte mich. »Praktikantin, Sekretärin, Auszubildende?«

»Sie werden feststellen«, sagte Becker, »dass solche Widersprüche typisch für Berichte über parapsychologische Phänomene sind. Immer sind die Daten je nach Autor ein wenig anders, auch die Maßnahmen und Erscheinungen, die geschildert werden, variieren. Ich denke manchmal, es ist, als würde hier die gewaltige erzählerische Kraft des Hörensagens und Fabulierens durchscheinen.«

»Oho!«

»Ja, Spukgeschichten sind nämlich so alt wie die Menschheit.«

Ich schaute auf. Becker war noch durchsichtiger geworden im Lauf der Jahre, noch trockener und leiser. Die Strähne, die sich so gern aus ihrem Gebinde stahl, war grau geworden. Die Glut jahrzehntelang missachteter Kompetenz lag tief versunken in dunklen Augen.

»Alle Geschichten, die uns begleiten, sind Spukgeschichten«, sagte sie. »Die halbe Bibel erzählt von paranormalen Vorgängen, Psychokinese, Telepathie, Untoten, Geistern, Wahrsagerei. Der Koran auch, unsere Märchen ebenfalls, eigentlich alle Bücher. Immer gibt es abwegige Zufälle, die sich als Schicksal erklären, geheimnisvolle Zusammentreffen, Vorahnungen, die sich erfüllen. Alles hat Bedeutung. Und es geschehen Wunder. Leute überleben Kämpfe, die sie nicht überleben können.«

Ich hüstelte und verschwieg ihr, wie ich es Richard, sogar Sally verschwiegen hatte, dass mich derzeit ebenfalls allerlei Zufälle plagten, für die ich keine Newton’sche Erklärung hatte, von denen ich nicht einmal mit Bestimmtheit sagen konnte, ob sie geschahen.

»Übrigens war Bender selbst eine, sagen wir, mythenumwobene Gestalt. Beispielsweise fehlte ihm das Diplom seines Doktortitels als Mediziner, den er 1940 erworben haben wollte. Er hat ihn vierzig Jahre später nachgemacht. Und auch von den Nazis hat er sich nicht so ferngehalten, wie wir das heute wünschen würden. Er hat sich zwar hauptsächlich mit Psychologie und Wahrnehmung beschäftigt, aber er hat eben auch mit der SS-Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe zusammengearbeitet. Der ging es darum, den arischen Rassentypus wissenschaftlich zu untermauern.«

»Ein ebenso sinnloses Unterfangen, wie dieses ganze Teledings nachweisen zu wollen, scheint mir.«

Die Archivarin lächelte fein. »Der Beweis, dass es diese geistigen Fernwirkungen nicht gibt, ist ebenso schwer zu führen. Wenn nicht noch schwerer. Um die Fermat’sche Vermutung zu beweisen, hat man auch 350 Jahre gebraucht.«

Ich jaulte auf.

»Dabei geht es ebenfalls um den Beweis, dass es etwas nicht gibt, nämlich, dass der Satz des Pythagoras, a² + b² = c², für Hochzahlen größer als 2 keine Lösung mit ganzen Zahlen hat. Das hat man zwar gewusst, aber beweis es mal bei einer unendlichen Menge von Zahlen.«

Ich beruhigte mich wieder. »Schön, wie Sie das erklären.«

»Jedenfalls haben das Koestler-Institut in Edinburgh, wo Finley McPierson lehrt, und das Institut von Gabriel Rosenfeld in Holzgerlingen den umgekehrten und leichteren Weg gewählt und vor drei Jahren eine Million Euro ausgelobt für denjenigen, der sich mit seinen Psi-Fähigkeiten Labortests unterwirft und besteht.«

»Und haben sie den gefunden, der es kann?«

»Bisher nicht. Das hätte sicher immenses Aufsehen erregt.«

»Ganz sicher.«

»Und irgendetwas gibt es.« Beckers Lächeln war diabolisch, dann ging es Schlag auf Schlag. »1989 hat der russische Schachcomputer M2-11 den damaligen Schachmeister Gudkow mit einem Stromschlag getötet. Die Maschine hatte zweimal verloren. Ein technischer Defekt wurde nicht gefunden. 1985 haben sich in Thailand einige Dieselloks selbständig gemacht. Das hat sogar die Tagesschau gemeldet. Eine Ursache wurde nie gefunden. In Brighton hat eine Aufzugsmaschine den Aufzug rauf- und runterfahren lassen, obgleich sie keinen Strom hatte, denn das Haus wurde gerade abgebrochen. Man musste die Anlage zertrümmern. 1987 stellte sich ein PC, ein Amstrad 15-12, nachts immer wieder von selber an, sogar wenn er gar keinen Strom hatte. Er produzierte Buchstaben und Wortfetzen auf seinem Bildschirm, so als ob er träumte. Man hat das über Monate gefilmt. Und dann das Dorf Canneto di Caronia auf Sizilien. Seit Januar 2004 geschehen unheimliche Dinge. Haushaltsgeräte gehen zusammen mit Sicherungskästen in Flammen auf, auch wenn der Strom abgeschaltet ist, Autos starten von allein, Autotüren lassen sich mit Fernbedienung nicht mehr öffnen, ein Bus explodiert, Handys wählen massenhaft Nummern, die es nicht gibt. Physiker der NASA geben dem Ätna die Schuld.«

»Außerirdische wären mir lieber!«

»Eher Unterirdische. Die NASA vertritt die Ansicht, dass vulkanische Aktivitäten bei diesem Dorf hochgeladene Ionen an die Erdoberfläche treiben, die elektrische Geräte entzünden und manipulieren könnten.«

Ich langte nach der Erklärung wie eine Ertrinkende nach dem Strohhalm. Damals konnte ich noch schwimmen. »Aber gibt es auch Gespenster, Frau Becker? Geister von Verstorbenen, die ­herumspuken?«