Lintu

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

„Was ist?“, flüsterte er in mein Ohr.

Normale Vorsichtsmaßnahme, Reiter im Anzug, gab ich zurück.

Keine Reaktion. Ach verdammt, er war ja kein Lintu. Erstaunlich, wie vertraut mir das Gehirnsprechen in der kurzen Zeit mit Großmutter geworden war. Großmutter. Einen Moment lang überwältigte mich die Erinnerung und mir schossen die Tränen in die Augen. Verdammt, Elli, jetzt nicht! Reiß dich zusammen! Du kannst dir jetzt keine Schwäche erlauben! Ich sparte mir eine mündliche Antwort auf Juliens Frage. Er bestand auch nicht darauf, war wohl zu beschäftigt. Mit einem Mal reizte es mich zu versuchen, ob es nicht auch mit einem Madur gehen könnte. Warum sollte Julien nichts empfangen können? Vielleicht wusste er nur nicht, wie es ging. Ich konnte auf jeden Fall etwas senden. Es würde mich auf andere Gedanken bringen. Während wir zwischen den Bäumen zurückflogen, sendete ich ununterbrochen.

Hallo Julien, hörst du mich? Da vorn sind Reiter, kannst du mich hören? Wir fliegen jetzt schneller, Julien, hörst du mich?

Ich erhöhte das Tempo, als wir an den Reitern vorbeikamen und landete kurz darauf im Schatten der Bäume neben dem Parkplatz.

„Und?“

„Du bist wegen der Reiter so schnell zwischen die Bäume geflogen“, strahlte er mich an.

„Ja, hast du mich gehört?“

„Gehört? Nein, hast du denn etwas gesagt? Ich hab messerscharf geschlossen, bin schließlich bei der Kripo.“

Schade. „War gar nichts anders als sonst?“

Ein leichtes Misstrauen lag in seinem Blick. „Was soll anders gewesen sein? Es hat noch mehr Spaß gemacht als beim letzten Mal, weil ich jetzt schon wusste, wie es geht. Vor allem, als du über die Reiter geflogen bist. Hab mich gefühlt wie beim Räuber-und-Gendarm-Spielen früher, wenn wir den Gegner umschlichen haben.“ Vor lauter Begeisterung hatte er sein Misstrauen kurzzeitig vergessen. Doch er war ein guter Polizist. „Also, was sollte die Frage? Hast du etwas gemacht?“

„Ich habe etwas versucht.“

Er sah mich auffordernd an.

„Ich habe dir Gedanken gesendet.“

„So wie deiner Großmutter?“ Er riss die Augen auf.

„Ja.“ Ich war ein bisschen enttäuscht. „Hast du denn überhaupt gar nichts gemerkt?“

„Doch, es war unruhig in meinem Schädel. Irgendwelche Störungen, ich konnte nicht ausmachen, ob es Geräusche sind oder Schmerzen, irgendwie unangenehm. Hab mich dann nicht weiter drum gekümmert, ich wollte den Flug genießen.“ Er schaute mich entschuldigend an. „Tut mir leid. Wollen wir es nochmal versuchen?“

„Ich glaube nicht. Nicht jetzt. War nur so eine Anwandlung von mir.“ Ich fühlte mich gerade erschöpft, musste dringend etwas essen.

Julien dagegen war Feuer und Flamme. „Aber denk nur, wenn das ginge! Wie cool das wäre. Wir könnten uns immer heimlich verständigen!“

Ich schaute ihm in die Augen, fragte mich, ob er die Realität verdrängte oder vergessen hatte.

„Oh … ja … immer ist ja nicht mehr. Und du bist auch nicht bei der Polizei. Entschuldige, ich bin manchmal doch ein Kindskopf.“

„Brauchst dich nicht entschuldigen. Du hast ja recht. Wir hätten viele Möglichkeiten – wenn die Welt ein bisschen anders wäre als sie ist.“ Seine Begeisterung hatte mich wieder aufgemuntert. „Zum Glück bist du so ein Kindskopf. Wie solltest du sonst an mich glauben?“

Er lachte und drückte mir einen Schmatzer auf die Wange. „Lass uns gehen, bevor du zum Skelett abgemagert bis.“

Im Wagen sagte er plötzlich: „Wir sollten nicht dein Lieblingscafé nehmen. Wir müssen dich nicht auf dem silbernen Tablett präsentieren.“

Tja, es wurde wirklich Zeit zu gehen, wenn ich nicht einmal mehr meine vertrauten Plätze aufsuchen konnte. Auf dem Weg in die Stadt fertigte ich im Kopf eine Liste der Dinge an, um die ich mich kümmern musste. Ich teilte sie ein in einfache und schwierigere Aufgaben. Zu den schwierigeren zählte eindeutig das Gespräch mit meinen Eltern. An oberster Stelle. Dicht gefolgt von dem Gespräch mit Olivia, wobei das wiederum nicht in die Zeit vor meiner Abreise fallen würde. Wegen Aufenthalts der jungen Dame in Übersee. Ich würde sie aufsuchen müssen. Die dritte schwierigere Geschichte war Großmutters Nachlass. Ich konnte nicht verhindern, dass mir jedes Mal, wenn ich auch nur in ihre Nähe dachte, die Tränen in die Augen schossen. Schnell wandte ich den Kopf zum Seitenfenster und blinzelte verstohlen, weil ich nicht wollte, dass Julien etwas merkte. Ich spürte das Amulett, wie es sich um meine Taille schmiegte. Über den Laden hatte ich nicht mit ihr gesprochen, dennoch ahnte ich, was sie gewollt hätte. Sie hätte den Laden aufgegeben, um mit mir in die Kolonie zu gehen. Das Gleiche würde sie jetzt von mir verlangen. Nach den Ereignissen kam auch gar keine andere Lösung in Frage. Keiner aus der Straße würde den Laden weiterführen, in dem Großmutter ermordet worden war. Und jemand anderen würde ich nicht hineinlassen. Ich konnte Frau Keller fragen, eine Freundin von Großmutter, die in dem Gemischtwarenladen schräg gegenüber Verkäuferin war. Sie wusste bestimmt, was ich machen musste, um den Laden aufzulösen. Großmutters Wohnung würde ich selbst durchsehen. Meinen Eltern diese Aufgabe anzutragen, war wohl kaum eine gute Idee. Vielleicht würde ich meinen Vater fragen, ob er etwas haben wollte, obwohl ich das für unwahrscheinlich hielt. Alles, was verschenkbar war, würde ich weggeben. Es gab genügend Organisationen, die es brauchen konnten.

Der Rest war einfach. Mit meiner Wohnung würde ich es genauso machen. Julien wollte ich bitten, auf unbestimmte Zeit einen Karton mit persönlichen Sachen von mir aufzuheben, mehr würde ich mit Sicherheit nicht behalten. Dann die Abmeldung von der Uni und den ganzen anderen Kram, Versicherungen, Bankkonto und so weiter. Soweit es ging, würde ich die Spuren meiner Existenz auslöschen. Einwohnermeldeamt nicht zu vergessen. Umzug nach Moskau, Studentenwohnheim als Adresse. Nie ankommen dort.

Julien war nicht übermäßig begeistert von meinen Moskauplänen. Er hatte von einer recht aktiven Neonaziszene in Russland gehört, die Großmutter offensichtlich nicht kannte. Es war nicht klar, ob die Kameradschaft nicht auch dorthin Verbindungen geknüpft hatte – so wie zum Rest der Welt. Wir konnten nur hoffen, dass sie aus reiner Tradition nicht in östliche Richtung agierten. Das Handy war auch noch ein Problem. Mit dem konnte ich überall geortet werden. Das musste ich mit Julien besprechen. Er wäre im Grunde der Einzige, den ich anrufen würde. Ich warf einen Blick zu ihm hinüber. Seit wir losgefahren waren, telefonierte er eigentlich ununterbrochen. Er fuhr langsamer als sonst, es mussten wichtige Gespräche sein. Ich hatte mir zur Angewohnheit gemacht, mich gedanklich mit anderen Dingen zu beschäftigen, wenn er telefonierte, damit ich nicht aus Versehen interne Geheimnisse erfuhr. Julien wusste das zu schätzen. Anfangs hatte er angehalten und draußen weitertelefoniert, wenn ich nicht mithören sollte. Doch inzwischen wusste er, dass ich nichts ausplauderte und telefonierte einfach. Endlich hielten wir vor dem Café, in dem wir uns vor knapp einer Woche getroffen hatten, als die Welt sich noch anders drehte. Im Hineingehen raunte Julien mir zu: „Gute Neuigkeiten, das Zeugenschutzprogramm gilt für deine ganze Familie. Wir können in den nächsten Tagen alles festmachen.“

Er suchte uns einen Tisch im hinteren Teil des Cafés aus.

„Bestell du“, sagte ich und ließ mich auf den Stuhl fallen. Ich war zwar hungrig, aber Appetit hatte ich nicht wirklich. Julien kam mit zwei Cappuccinos zurück.

„Der Rest kommt gleich“, grinste er. Warum grinste er?

„Meinst du wirklich, die Kameradschaft überwacht den Buchladen?“ Einerseits hielt ich es für möglich, andererseits für übertrieben.

„Ich habe keine Ahnung. Wir überwachen ihn jedenfalls nicht mehr. Die Untersuchungen sind abgeschlossen, es gibt keinen Grund mehr, dort zu sein. Aber die Kameradschaft könnte beobachten, was mit dem Laden weiter geschieht. Vielleicht warten sie auf dich. Leider haben wir keine Informationen, wie weit sie über dich Bescheid wissen. Bis jetzt sind sie zwar nicht wieder aufgetaucht, doch das heißt gar nichts.“

„Hast du nicht gesagt, dass drei Abteilungen hinter ihnen her sind?“

„Ist ja auch so, nur haben wir noch nicht viel.“

„Und warum sollte ich dann sicher sein, wenn ich in Deutschland bleibe?“

„Nur im Zeugenschutzprogramm.“ Er beugte sich zu mir herüber und sah mich mit ernster Miene an. „Die nächsten Tage, in denen du deine Angelegenheiten regelst, können gefährlich werden. Du musst sehr vorsichtig sein. Wie gesagt, wir haben keinen Hinweis, wie viele sich wo herumtreiben, um dich ausfindig zu machen.“

Tolle Aussichten. „Ich muss in den Laden und in Großmutters Wohnung.“

„Ich weiß. Ich will versuchen, dir einen Personenschutz zu organisieren.“

„Nee, oder? Kannst du das nicht machen?“

„Du, ich muss auch mal wieder was arbeiten. Ich gehe viel zu oft mit dir im Wald spazieren und frühstücken. Ich werde dir einen jungen hübschen Burschen aussuchen, der charmant ist und gut schießen kann.“ Julien zwinkerte mir zu.

„Ach, und du meinst, wenn er dir gefällt, hilft mir das darüber hinweg, dass ich mich dann die ganze Zeit im Schneckentempo bewegen muss wie dein Sonnyboy?“, raunzte ich zurück.

Die Bedienung kam und häufte Berge von Essen auf unseren Tisch. Jetzt wurde mir klar, warum er vorhin so gegrinst hatte. „Wer kommt denn noch?“, fragte ich.

„Du musst alles aufessen, und was du nicht schaffst, lassen wir dir einpacken. Ich wette, dein Kühlschrank ist eine Eiswüste“, antwortete er. Er hatte eine Miene aufgesetzt, die wenig Raum für Widerspruch ließ.

Seufzend zog ich einen Teller Bratkartoffeln aus dem Gewirr zu mir her. Wahrscheinlich hatte er seinen ganzen Charme spielen lassen, um mir die zu organisieren. Ich sollte dankbar sein. Schon nach den ersten Bissen merkte ich, wie gut mir das Essen tat. Julien schien auch Hunger zu haben. Wir mampften schweigend einen Teller nach dem anderen leer. Die Bedienung lief während unseres Gelages ständig hin und her und räumte das abgegessene Geschirr ab. Auch wenn das ihr Job war, fand ich es nett. Als Julien wieder zu sprechen begann, hatten wir nur noch zwei Schälchen mit Pudding übrig.

 

„Du siehst besser aus“, bemerkte er. „Wie sind deine Pläne?“

„Ab wann hetzt du mir den schießenden Schönling auf den Hals?“ fragte ich zurück.

„Ab sofort. Er wird jede Minute eintreffen.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“ Ich war wirklich aufgebracht. Wie sollte ich denn vorwärtskommen, mit so einem Klotz am Bein? Für den Laden und die Wohnung von Großmutter sah ich es ja ein, aber ich konnte doch nicht von morgens bis abends mit einem Kindermädchen rumlaufen! Damit würde ich doch erst recht auffallen. Und vor allem schön verfolgbar bleiben. Madurgeschwindigkeit!

Julien schien meine Gedanken zu erraten. Er lachte laut. „Du machst ein Gesicht, als würde ich dich anketten. Ich hab eine Überraschung für dich. Du kriegst nicht nur einen, sondern sogar zwei Aufpasser.“ Mit einem lieblichen Lächeln wartete er meine Reaktion ab.

Ich versuchte, meinen Missmut nicht ganz so stark zu zeigen. Er meinte es ja nur gut. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass mir ein „oh nein“ herausrutschte.

„Tja, und die beiden sind professionelle Skater. Unsere Special Agents für Jugendkriminalität.“ Er lehnte sich zurück, um seine Worte wirken zu lassen.

Ich schaute ihm direkt in die Augen und fand, dass er die Wahrheit sagte. Mir fiel ein Stein vom Herzen. „Mensch Julien, ich könnt dich echt schlagen! Mich so zu erschrecken! Aber – du bist einfach ein Schatz! Das ist voll cool! Ich könnte dich knutschen!“

„Was denn jetzt?“

„Beides!“ Mit einem Satz war ich auf seiner Tischseite und knuffte ihn auf den Oberarm. Ein bisschen fest, damit es ihm auch ein bisschen wehtat. Und dann fiel ich ihm um den Hals. Er schlang seine Arme um mich und drückte mich an sich. „Ich vermisse dich jetzt schon“, sagte er leise.

8. Kapitel

Meine Aufpasser, wie Julien sie genannt hatte, waren überhaupt nicht schlimm. Ganz im Gegenteil, ich mochte sie von Anfang an. Matthes und Tom – klang cooler und passte besser zu ihnen als Matthias und Thomas, wie sie vermutlich hießen. Sie wirkten wirklich wie Jungs. Julien hatte ja schon so ein halbes Babyface, aber die beiden … Ich würde sie als meine jüngeren Brüder ausgeben müssen, wenn ich irgendwo mit ihnen auftauchte. Nein, das ging nicht, am Ende würden meine Verfolger sie auch für Lintu halten. Also Freunde. Sandkastenfreunde vielleicht, die auf Besuch waren. Äußerlich konnte man sie nicht von irgendwelchen Jugendlichen auf der Straße unterscheiden. Die gleichen Klamotten wie andere Skater, die gleiche Gestik, Mimik, die gleichen Sprüche. Solange sie untereinander redeten. Sobald sie mit Julien oder mir sprachen, waren sie so professionell, dass ich Mühe hatte, Bild und Ton zusammenzubringen. Wenn ich daran dachte, dass unter den XXL-Klamotten eine Waffe im Halfter steckte, wurde es noch absurder. Anders als echte Bodyguards hatten sie nicht die Verpflichtung, sich zwischen mich und irgendwelche Kugeln zu werfen, aber ansonsten gab es, glaube ich, keine großen Unterschiede. Einer sollte mich von morgens bis abends und der andere von abends bis morgens begleiten. Ich fragte Julien, wie er es verantworten könne, sie ohne Unterbrechung Nachtwache schieben zu lassen. Er blieb ungerührt: „Das ist ihr Job. Die haben schon ganz andere Dinger machen müssen. Das sind Profis, Ellimaus.“

Dann kam er auf die Idee, ich könnte für meine letzten Tage in Deutschland zu ihm ziehen und damit den Jungs die Nachtwache ersparen. All meine Argumente, die ich dagegen anbrachte, fegte er mit Schwung vom Tisch. Er rief sogar Gus und Martha an und ließ sie eine persönliche Einladung an mich aussprechen.

Ehrlich gesagt, gefiel mir sein Vorschlag sogar ganz gut. Die Aussicht, andernfalls die verbleibenden Nächte in meiner Wohnung – die sich gar nicht mehr wie meine Wohnung anfühlte – mit einem der Jungs zu verbringen, war nicht gerade verlockend. Nächtliche Ausflüge hatte Julien mir so oder so strikt verboten. Sie hatten in der Wohnung von Bertram Kurz, dem einzigen bisher identifizierten Kameradschaftsmitglied, eine Menge Waffen gefunden, darunter auch Präzisionsgewehre mit Zielfernrohr und Nachtsichtgerät. „Die wissen doch, wen sie jagen“, hatte Julien ohne Mitleid kommentiert.

Das Verbot einzusehen war eine Sache, mir vorzustellen es durchzuhalten, eine andere. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals länger als zwei Tage nicht geflogen zu sein. Welche Wirkung es wohl auf mich haben würde? Wenn ich bei Julien wohnte, könnte es einfacher werden. Die Gesellschaft könnte mich ablenken.

Juliens Zuhause lag am Stadtrand in einer gutbürgerlichen Wohngegend. Von außen sah es nicht anders aus als die Nachbarhäuser, aber innen war es genauso verrückt wie Juliens Familie. Julien behauptete, das habe das Haus Gus zu verdanken. Er selbst sprach sich jedes Talent für Inneneinrichtung ab. Auch Marthas Mutter hatte auf Wohnlichkeit nicht allzu sehr geachtet. Erinnerte mich ein bisschen an meine eigene Wohnung. Funktional bis zur Ungemütlichkeit.

Gus meinte, das Haus hätte ausgesehen wie ein großes unaufgeräumtes Jugendzimmer, als er es zum ersten Mal betreten hatte. Ich kannte nur die Gus-Version und die gefiel mir. Gus liebte es, großflächig zu arbeiten, deshalb waren ihm der Umgang mit Farbeimern und einer Menge Räume gerade recht. Keller, Dachboden, Garage, Gus machte vor nichts halt. Er hatte in der Innenstadt einen Laden für Nippes und bezeichnete sich selbst als Kitschnudel mit gutem Geschmack und handwerklichem Talent. In meinen Augen war er ein Künstler. Ob er mit den Gemälden von Martha oder den Fotos von Greenpeaceaktionen, die Marthas Mutter ihrer Tochter schickte, die Wände schmückte oder sich des Vorgartens annahm, bei dem Julien ihm strenge Auflagen gemacht hatte, damit das Haus in der Straße nicht allzu sehr aus dem Rahmen fiel, er konnte einfach aus allem etwas machen. Einschränkungen oder schwierige Umstände störten Gus nicht. Er betrachtete sie als Anregung für seine Kreativität. Den Vorgarten übrigens fand wohl nicht nur ich schön. Mindestens die Hälfte der Nachbarvorgärten in der Straße sahen dem von Gus verdächtig ähnlich.

Die Angst, Martha und Gus mit meiner Anwesenheit zu gefährden, war der Grund, weshalb ich Juliens Angebot nicht annehmen wollte. Julien tat alles, um ihn zu entkräften. „Jetzt bilde dir mal nicht zu viel ein, du kleines Lintuwürstchen. Die schießen dich einfach ab, wenn sie das vorhaben. Die Leute drum herum interessieren sie nicht. Wie bei deiner Großmutter. Wir zählen zwar in deren Augen bestimmt nicht zu den schützenswerten Exemplaren, wenn ich an Gus und mich denke, doch das Jagdziel bist du. Sonst niemand.“

„Aber sie könnten einen von euch treffen statt mich“, wandte ich ein.

Er sah mich mit diesem Gesichtsausdruck an, den er immer aufsetzte, wenn er meinte, ich solle aufhören, Unsinn zu reden. Damit war die Diskussion beendet und mein Umzug beschlossen.

Am Nachmittag begleitete mich Matthes zu Frau Keller. Er hockte sich im Gemischtwarenladen auf das Kundenbänkchen und beobachtete die Straße, während ich mit Frau Keller nach hinten ging. Bis jetzt wusste keiner in der Straße, was mit Großmutter geschehen war. Sie hatten die Schießerei und den Polizeieinsatz miterlebt und gehört, Großmutter werde vermisst. Mehr hatten sie nicht in Erfahrung gebracht, deshalb rechneten sie mit dem Schlimmsten. Frau Keller weinte, als ich ihr von Großmutter erzählte. Ich weinte mit ihr. Ich berichtete ihr im Vertrauen, dass ich Großmutter nach Spanien auf einen Friedhof gebracht hatte, weil sie dort bei ihrem geliebten Mann liegen konnte. Das war der einzige Trost, den ich für sie hatte. Sie schwor mir, diese Information für sich zu behalten. Wir sprachen lange, obwohl Frau Keller über ihre alte Freundin nicht viel erzählen konnte.

„Sie war immer geheimnisvoll“, sagte sie und lächelte bekümmert. „Eines Tages ist sie hier aufgetaucht und hat nach dem leerstehenden Laden auf der anderen Straßenseite gefragt. Der war schon so lange frei, dass das Schild vom Vermieter abgefallen war. Doch ich kannte den Mann und hab ihr die Adresse gegeben. Kurz danach ist sie wiedergekommen und hat mich auf einen Kaffee eingeladen, weil es geklappt hat. Sie hat den Laden angemietet. Sie hat alles allein gemacht, gestrichen, geputzt, die Regale aufgebaut. Ich hab dann mit dem Chef gesprochen und ihr unseren Lehrjungen zur Hilfe geschickt, die Regale waren doch schwer und erst die Kisten mit den Büchern! Das war vor ziemlich genau siebzehn Jahren.“

Vor siebzehn Jahren. Da war ich fünf gewesen. Aus meinem Leben war sie zwei Jahre vorher verschwunden.

„Sie ist direkt aus Paris gekommen“, erzählte Frau Keller weiter. „Sie hat dort in einer ganz bekannten Buchhandlung gearbeitet, aber die Sehnsucht hat sie wieder hierher zurückgetrieben.“ Frau Keller machte eine kurze Pause, als ob sie nachdächte. Dann fuhr sie fort: „Das war das Einzige, was ich je von ihr erfahren habe.“ Sie beugte sich zu mir herüber und sagte leise: „Sie hat niemals erzählt, wonach sie sich so gesehnt hat.“ Während sie sich zurücklehnte, wischte sie sich mit einem Taschentuch die aufsteigenden Tränen aus den Augen. „Und ich weiß nicht, ob sie es bekommen hat. Sie war immer so ernst, so traurig. Zu allen Menschen war sie freundlich und man konnte mit allem zu ihr kommen. Sie hatte immer einen Rat und hat jedem geholfen, der sie darum gebeten hat. Aber sie selbst hat nie jemanden um Hilfe gefragt. Und nichts von sich erzählt. Wenn ich nachgefragt habe, hat sie immer gesagt: ‚Ach Hannchen – so hat sie mich genannt – was soll ich schon groß erzählen. Ich bin eine alleinstehende alte Frau, da gibt es spannendere Lebensläufe.‘ Dann hat sie von irgendeinem Menschen angefangen, über den sie ein Buch im Laden hatte und das Thema war erledigt. So war sie, die Elsbeth.“ Frau Keller kämpfte erneut mit den Tränen, beruhigte sich einigermaßen und tätschelte meine Hand. „Es wurde anders, als Sie in ihr Leben traten, Kindchen. Sie war immer noch ernst, doch ein bisschen weniger traurig. Und mit Ihnen habe ich sie sogar lachen gesehen. Sie hatte ein wunderschönes Lachen.“

Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich auch nicht. Es war so eine Freude, das zu hören, was Frau Keller über Großmutter und mich gesagt hatte. Ich schwankte kurz, ob ich ihr nicht doch erzählen sollte, dass ich die Enkelin ihrer Freundin war. Aber es hätte zu viele Fragen aufgeworfen, die ich mit Halbwahrheiten hätte beantworten müssen. Darum blieb ich bei meinem Entschluss, nichts zu sagen.

Frau Keller begann wieder zu sprechen, mit tränenerstickter Stimme und immer wieder von Schluchzern unterbrochen: „Warum musste sie sterben? Diese Verbrecher – was wollten die von ihr? Man kann doch nicht in einen Buchladen gehen und einfach um sich schießen! Das ergibt überhaupt keinen Sinn!“

Jetzt musste ich auf die Kameradschaft zu sprechen kommen. Ich erzählte Frau Keller, dass Großmutter und ich zu einer kleinen ethnischen Gruppe gehörten, die damals von den Nazis und bis heute von der Kameradschaft verfolgt wurde. Frau Keller fragte nicht genauer nach, ihr genügte, dass wir verfolgt wurden. Von den älteren Leuten in dieser Straße war keiner ein Freund des Naziregimes gewesen. Alle hatten sie unter ihm gelitten und harte Zeiten durchgestanden. Sie würden mir helfen und mich schützen, soweit es in ihrer Macht stand, daran ließ Frau Kellers Reaktion keinen Zweifel. Ihre Trauer schlug in wütenden Tatendrang um.

„Den Räumungsverkauf lassen Sie mal meine Sorge sein, Kindchen. Sie werden sich besser nicht zeigen. Wollen doch mal sehen, ob wir den Laden nicht unter den Augen dieser Verbrecherbande aufgelöst kriegen, ohne dass sie noch weiteres Unheil anrichten können. Das wäre ja gelacht. Das bin ich meiner alten Freundin schuldig! Also – am Wochenende machen wir den Laden für drei Tage auf, Freitag, Samstag und Montag und verkaufen alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Und den Rest nehmen wir dann hierher auf einen Sondertisch. Der Chef wird uns helfen, er hat die Elsbeth verehrt! Mit dem Vermieter kann ich auch sprechen, man kennt sich schließlich schon eine halbe Ewigkeit. Von dem Gewinn können wir die restliche Miete bezahlen und die Reinigung vom Laden. Und den Rest bekommen Sie. Sie können es bestimmt gebrauchen. Was werden Sie denn jetzt machen?“

 

„Ich gehe für ein paar Semester nach Moskau an die Uni, um russisch zu studieren. Das wird mich auf andere Gedanken bringen.“ Damit hatte ich die Botschaft in der gesamten Straße verbreitet. Ich war Frau Keller dankbar dafür, ich war ihr dankbar für alles. Sie hatte sogar den Laden geputzt, noch am gleichen Tag, als die Kripo ihn freigegeben hatte. Ihr Chef, der Gemischtwarenhändler, hatte auch geholfen, die Wirtsleute vom Café nebenan und noch zwei andere Frauen aus der Straße. Alles Freunde von Großmutter.

„Das viele Blut, Kindchen ...“, seufzte Frau Keller und begann wieder zu weinen, „das viele Blut …“

Zum Abschied kam der Gemischtwarenhändler mit einer Flasche Schnaps und drei Gläsern und wir tranken auf Großmutter. Ich würde die Herzlichkeit der Leute in dieser Straße vermissen.

Als ich aus dem Hinterzimmer in den Laden hinaustrat und zum Abmarsch rief, schienen Stunden vergangen zu sein. Matthes erhob sich gleichmütig von seinem Bänkchen und wir dampften ab.

Für das Gespräch, das ich mir im Anschluss vorgenommen hatte, brauchte ich einen freien Kopf: Ich wollte meine Eltern aufsuchen. Nicht lange fackeln, direkt rein in die Herausforderung. Wenn ich mir Zeit lassen würde, würde ich mich nur mit lauter Wenns und Abers verrückt machen. Doch jede Minute zählte. In jeder Minute konnte die Kameradschaft unsere Familienzusammenhänge herausfinden. Da halfen kein Müller und kein Schmidt. Den freien Kopf konnte ich am besten bekommen, wenn ich mich ein bisschen austobte. Ich hatte einen Ausflug zu einem Ort im Sinn, an dem wir skaten konnten. Verlassenes Fabrikgelände am Rand der Stadt, der Parkplatz war noch gut in Schuss und frei zugänglich. Immer leer. Bis dahin mussten wir durch die halbe Stadt fahren, allein das würde schon für frischen Wind im Gehirn sorgen. Im übertragenen Sinn. Es war später Nachmittag und drückend heiß. Am Horizont brauten sich Gewitterwolken zusammen – nach über zwei Wochen Hitze vielleicht mal wieder Regen. Matthes war auch unter Überwachungsgesichtspunkten einverstanden und wir brausten los. Ich hätte am liebsten Vollgas gegeben, so stand ich unter Spannung. Ging natürlich nicht. Doch allein das Schweben und die Konzentration darauf, zum richtigen Zeitpunkt Skaterbewegungen zu machen, halfen. Bis wir am Parkplatz ankamen, ging es mir schon besser.

Matthes wirkte ein klein wenig beeindruckt. Er hatte mich wohl anders eingeschätzt. Wenn der wüsste. Jetzt forderte er mich zu einem Battle heraus. Den konnte er haben. Das war genau das, was ich brauchte. Er führte mir einen lächerlich leichten Sprung vor. Ich machte ihn nach und hängte einen von meinen dran, hielt mich an den vorgelegten Schwierigkeitsgrad. Matthes wiederholte die beiden Sprünge und fügte wieder einen Trick von sich dazu. Diesmal wenigstens eine Spur komplexer. Wir verlängerten die Sequenz immer weiter, bis wir zum Schluss eine Reihenfolge abzufahren hatten, die einen geübten Skater durchaus beanspruchen konnte und bei der wir den gesamten Parkplatz zweimal umrunden mussten. Als ich wieder mit Zuschauen an der Reihe war, sprang ich auf mein Board und fuhr den ganzen Ablauf synchron mit ihm. Das Synchronfahren war ein ganz neues Erlebnis. Wir hatten richtig Spaß. Ich hätte ewig so weitermachen können. An dem Punkt merkte ich, dass mein Ziel erreicht war. Ausgetobter Körper, leichtere Gefühle, freier Kopf, obwohl die Hitze immer noch drückte. Ich rollte Richtung Ausgang, Matthes kam hinterher. Wir jagten durch die Stadt zurück bis zum Haus meiner Eltern.

Kurz bevor ich die Klingel drückte, raunte ich ihm zu: „Hier bist du, was du bist. Mein Begleitschutz. Wundere dich bitte trotzdem nicht, meine Eltern sind sehr ängstlich, besonders Fremden gegenüber. Du musst wahrscheinlich in der Küche sitzen, während wir uns unterhalten.“ Dass mir das ganz recht war, brauchte er nicht zu wissen.

Meine Mutter öffnete die Tür. „Elli – das ist ja eine Überraschung!“ Sie musterte Matthes. „Willst du mir deinen Begleiter nicht vorstellen?“

„Das ist mein Begleitschutz. Wir müssen reden.“

Sie sah mich erschrocken an und trat zur Seite. „Kommt rein. Was ist passiert?“

„Ist Papa auch da?“ Rhetorische Frage, er saß bestimmt im Wohnzimmer vor dem Fernseher.

„Ja, er ist im Wohnzimmer.“ Meine Mutter wandte sich an Matthes. „Würden Sie in der Küche Platz nehmen? Ich mache Ihnen einen Kaffee.“

„Danke, sehr freundlich. Ich nehme ein Wasser.“ Matthes verzog keine Miene.

Ich ging ins Wohnzimmer. „Hallo Papa.“

„Elli.“ Mein Vater schaltete den Fernseher aus. Er war kein Freund großer Worte. In seinem Tonfall drückte er Überraschung, Sorge und vielleicht ein kleines bisschen Freude aus. Er deutete auf das Sofa. Wir saßen schweigend, bis meine Mutter hereinkam.

Ich hatte so viele Neuigkeiten zu überbringen, dass ich nicht wusste, mit welcher ich anfangen sollte. „Es ist etwas Schlimmes passiert“, platzte ich heraus. „Großmutter ist tot.“

Mein Vater starrte mich aus seinem Sessel an, stumm, meine Mutter schnappte nach Luft, griff ins Leere, setzte sich neben mich. Sie sahen beide nicht so aus, als könnten sie irgendeine Frage stellen, also fuhr ich fort: „Die Kameradschaft hat sie aufgespürt. Sie haben sie erschossen. In ihrem Laden.“

Mein Vater blieb stumm. Er lehnte sich mit steifem Rücken zurück und schloss die Augen. Meiner Mutter stand das Entsetzen im Gesicht. „Woher wusstest du …? Woher wussten sie …?“

„Ich habe sie nach Spanien gebracht, auf unseren Friedhof.“ Ich wollte meine Eltern nicht quälen, aber ich musste die Information unterbringen, dass ich von unserem Volk wusste. „Ich habe ihre Tagebücher.“

Meine Mutter bewegte hektisch ihren Kopf in Richtung meines Vaters, doch der saß weiterhin reglos mit geschlossenen Augen im Sessel.

„Die Kameradschaft sucht die Tagebücher. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns auf die Spur kommen. Im letzten Tagebuch gibt es eine Liste mit den Namen der Mitglieder der Kameradschaft, die werde ich der Polizei übergeben. Dafür werden wir alle ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen.“

Mein Vater rührte sich nicht. Meine Mutter sah mich mit großen Augen an. „Was heißt das?“

„Das heißt eine neue Identität, neue Namen, eine andere Stadt, eine andere Arbeitsstelle. Sicherheit.“

Die Augen meiner Mutter füllten sich mit Tränen. Sie schüttelte langsam den Kopf.

„Nein.“ Das Nein kam nicht von ihr, sondern von meinem Vater. Der immer noch mit geschlossenen Augen im Sessel saß. Reglos wie zuvor. Nur dieses „Nein“.

Ich war darauf gefasst gewesen. Dennoch traf es mich. „Papa, bitte! Ihr müsst hier weg! Sie werden euch umbringen. Du kennst sie doch!“

Endlich öffnete er die Augen. Sein Blick loderte wild, als er antwortete. „Sie finden uns nicht. Sie können uns nicht erkennen. Wir weisen keines der Merkmale auf.“

„Papa, das ist doch Illusion. Großmutter ist auch nicht mehr geflogen, seit Jahren nicht. Das hat nichts genutzt!“

„Das ist etwas anderes. Wir sind unauffällig. Sie finden uns nicht. Wir gehen hier nicht weg.“

„Papa, ihr seid hier nicht mehr sicher! Bitte! Wir haben nur diese eine Chance!“ Ich schaute hilfesuchend zu meiner Mutter.

Sie schüttelte immer noch den Kopf. Wie in Zeitlupe. In ihren Augen sah ich, wogegen ich vergeblich kämpfte: Angst. Sie hatten Angst vor der Kameradschaft, doch scheinbar noch mehr Angst vor dem, was eine Veränderung bringen würde.

Trotzdem wollte ich noch nicht aufgeben. „Ich bringe Julien mit hierher, ihr wisst doch, meinen Freund bei der Kriminalpolizei. Er bearbeitet den Fall. Ihr könnt ihn kennenlernen und er kann euch genau erklären, wie das Zeugenschutzprogramm funktioniert. Hört ihn euch an, bitte!“

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?