Lintu

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6. Kapitel

Die Vögel machten weiter, als wäre nichts gewesen. Plötzlich konnte ich sie nicht mehr ertragen. Ihr Gezanke und Geflattere zerrte an meinen Nerven. Ich brauchte wirklich Ruhe. Musste raus aus dem Tal, so gern ich geblieben wäre – ohne die Vögel. Brauchte Wasser, in diesem Gebirge musste es irgendwo einen Bach geben, in jedem Gebirge gab es Bäche. Ich musste nicht nur trinken, sondern auch meine Kleider waschen, die zusammengeknäult und blutverschmiert in meinem Rucksack lagen. Wenn ich mir vor meinem Rückflug noch etwas zu essen besorgen wollte, brauchte ich normale Straßenkleidung. Außerdem hatten mein Anzug und ich selbst eine Wäsche mehr als nötig und der Rucksack sah zum Fürchten aus. Ich schnallte ihn mir um und flog zum Eingang des Tals hinauf. Er lag mehrere Meter über dem Boden. Ich setzte mich in die Felsspalte und schaute noch einmal zurück in den Valle. Vogeltal. Im Augenblick die Sorte Vögel, die man nicht so gern sah. Ich tat ihnen Unrecht, sie folgten ihrer Natur, und genau das hatten die Lintu gewollt. Trotzdem war ich froh, ihnen den Rücken kehren zu können.

Ich suchte nach einem Abschiedsgruß für Großmutter, doch ich war zu erschöpft, um noch geradeaus denken zu können. Wollte einfach nur noch weg. Trinken, waschen, schlafen. In dieser Reihenfolge. Großmutter war nicht an den Valle gebunden, jetzt nicht mehr. Ich konnte sie überall hin mitnehmen.

Ich drehte mich um und stürzte mich in die Felsspalte. Die Dunkelheit beunruhigte mich nicht mehr, es war, als würde ich den Weg seit Ewigkeiten kennen. Alles war wieder da, der Geruch, die Empfindung der Luft, die Temperatur, die Geräusche. Das hatte Großmutter mit dem roten Faden gemeint, als ich sie nach der Strecke hierher gefragt hatte. Der Weg lag so sicher vor mir, als hätte ich eine topografische Karte im Gehirn.

Komisch, dass ich diese Fähigkeit nie bemerkt hatte. Nein, nicht komisch. Zu Hause flog ich doch immer die gleichen Strecken in einer Umgebung, die ich kannte wie meine Westentasche. Tatsächlich war ich das erste Mal in meinem Leben weg von zu Hause. Irre. Besonders, wenn man sich überlegte, wer ich war. Angehörige eines fliegenden Volkes. Eines reisenden Volkes, das keine Grenzen kannte. Und ich hatte Deutschland noch nie verlassen, mit Mühe vielleicht das Bundesland. Danke, liebe Eltern!

Wir waren nie in Urlaub gefahren. Aus heutiger Sicht konnte ich es verstehen, doch damals hatte ich mich immer gefragt, warum wir als einzige Familie in den Sommerferien zu Hause blieben. Hatte die anderen Kinder um jeden noch so nahen Urlaubsort beneidet. Bei Schulfreizeiten hatte ich auch nicht mitfahren dürfen. Meine Eltern hatten Angst gehabt, ich würde mich verraten. Den anderen Kindern gegenüber hatte ich mir abenteuerliche Geschichten einfallen lassen, weshalb ich nicht mitkonnte. Meistens hatte ich erzählt, ich würde meinen Vater auf eine Geschäftsreise ins Ausland begleiten. Wenn ich dann zu Hause gesessen und darauf gewartet hatte, dass die anderen zurückkamen, hatte ich mir alle Einzelheiten meines Auslandsaufenthaltes ausgedacht, für den Fall, dass jemand fragen würde, und weil ich so das Gefühl erzeugen konnte, wirklich weggewesen zu sein.

Für den Rückweg brauchte ich höchstens die Hälfte der Zeit. Vorsichtig lugte ich aus der Spalte, um die Umgebung abzusuchen. Der Anblick war überwältigend. Ich hatte das Gefühl, ich könnte halb Frankreich überblicken, so weit konnte ich schauen. Egal, wie müde ich war – das hier musste ich genießen. Ich blieb einfach sitzen und saugte die Landschaft in mich ein. Das ausgeblichene Grün der Wiesen und Bäume wirkte wie ein Stärkungsmittel. Die Weite ließ mein Herz schneller schlagen. Ich wünschte so sehr, ich könnte mich hineinstürzen und den ganzen Himmel befliegen. Warum mussten wir uns immer verstecken! Hoch über dieser wunderschönen Landschaft im Sonnenlicht – das wäre das Größte!

Links von mir, fast am Horizont, entdeckte ich eine Baumlinie – wenn ich Glück hatte, ein Bach, mit Pech nur eine Straße. Ortschaften gab es weit und breit nicht, auch sonst waren keine menschlichen Spuren zu sehen. Trotzdem flog ich dicht über dem Boden, als ich mich auf den Weg machte, und hatte immer das nächste Versteck im Blick. Flog nicht ganz so schnell wie mit Großmutter, es gab zu viele Hindernisse und ich war wirklich erschöpft. Das Glück war mir hold. Die Bäume standen entlang eines kleinen Flüsschens. Der Abend dämmerte, es gab Schnaken ohne Ende, doch das störte mich jetzt auch nicht mehr. Nachdem ich mich ein letztes Mal vergewissert hatte, dass ich mutterseelenallein war, schlüpfte ich aus den Klamotten und warf mich in die Fluten. Das Wasser war sehr kalt, aber klar, und ich trank, bis mir der Magen wehtat. Dann schrubbte ich mir mit einem zerfaserten Ästchen die Zähne, so gut es ging, säuberte den Rucksack und wusch meine Sachen, alle, auch den Fluganzug, den ich angehabt hatte. Er war aus diesem atmungsaktiven Material für Sportler und es war warm genug, er konnte auch auf der Haut trocknen.

Jetzt brauchte ich nur noch einen Platz zum Schlafen. Vom höchsten Baum aus suchte ich die Gegend nach einer passenden Stelle ab, solange es noch hell genug war. Die Wildnis um mich herum bestand hauptsächlich aus mageren Wiesen mit ein paar Sträuchern hier und da. Etwas weiter vom Flüsschen entfernt standen mehrere kleine Bäume zusammen, sah nach der einzigen Möglichkeit aus. Ich kreiste um die Bäume, begutachtete sie von allen Seiten – und hatte keine Idee. Es gab nichts, was ich als Schutz hätte bezeichnen können. Ich hätte gern oben geschlafen, in einem der Bäume, doch sie waren einfach zu klein, kein breiter Ast, auf den ich mich hätte legen können. Unter den Bäumen gab es nur Wiese, kein Gebüsch, nichts, was mich ein bisschen getarnt hätte. Müde setzte ich mich ins Gras. Die Vorstellung, einfach so auf dem Boden zu schlafen, ohne etwas drunter oder drüber, war nicht gerade verlockend. Ich wusste nicht, ob es hier größere Tiere gab und wenn ja, welche, und wie sie es finden würden, auf eine schlafende Lintu zu treffen. Allerdings war mir auch klar, dass Tiere sich kaum von irgendwelchem Gestrüpp über mir täuschen lassen würden. Während ich Gedanken dieser Art wälzte, fielen mir immer wieder die Augen zu. Schließlich ergab ich mich, breitete meine Klamotten zum Trocknen auf dem Boden aus und legte mich nieder. Die Erde war noch warm. Gras und Kräuter verströmten sonnendurchflutetes Aroma. Um mich herum trieben die Insekten ihr emsiges Geschäft. Ich blickte in die unendliche Weite des Himmels mit seinen ungezählten Sternen und wurde dann doch vollkommen ruhig.

Ich erwachte, weil mir heiß war. Das bedeutete, es war Tag und ich war weder auf- noch angefressen worden. Um mich herum zirpten Legionen von Grillen. Der Lärm, den sie erzeugten, rief die Erinnerung an die Vögel im Valle wach. Großmutter. Ich war allein. Bevor ich in Trübsinn verfallen konnte, sprang ich auf, klaubte meine Siebensachen zusammen und wechselte die Klamotten. Zwar hatte ich vor, noch ein Stück zu fliegen, doch es war definitiv zu heiß für eine doppelte Kleiderlage, und ich wollte für alle Fälle die Straßenkleidung schon anhaben. Die Blutflecken waren nicht rausgegangen ohne Seife, aber immerhin waren sie heller geworden und sahen jetzt nur noch bräunlich aus, konnten auch Erdflecken sein. Ich flog Richtung Valle zurück, um die Route nach Hause zu erwischen. War gespannt, wie mein neuentdecktes Orientierungssystem sie finden würde. Es war unerwartet einfach. Als ich in die Nähe der Route kam, erkannte ich die Umgebung wieder und musste nur noch einbiegen. Das hatte ich mir spektakulärer vorgestellt.

Im nächsten Ort, auf den ich stoßen würde, wollte ich etwas zu essen kaufen und warten, bis es dunkel wurde. Und die Tagebücher zu Ende lesen. Wenn ich nach Hause kam, würde ich wahrscheinlich keine Zeit mehr dafür haben.

In dieser menschenleeren Gegend eine Ansiedlung zu finden, war gar nicht so leicht. Meine Route lag außerhalb jeglicher Reichweite von Straßen. Ich musste mehrere hohe Bäume anfliegen, bis ich in ziemlicher Entfernung etwas ausfindig machte, das wie ein Dorf aussah. Den letzten Kilometer legte ich sicherheitshalber aufrecht, knapp über dem Boden schwebend, zurück. Wenn mich jemand so gesehen hätte, hätte das schon Fragen aufwerfen können, denn ich sparte nicht an Geschwindigkeit. Es sah mich aber keiner, besser gesagt, ich sah niemanden. Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Kein Wunder, bei der Hitze. Es hatte einen winzigen Marktplatz mit einer Art Bar und einer Bäckerei. Soweit ich gehört hatte, brauchte man in Frankreich nicht mehr. Zwei Croissants aus der Bäckerei, ein Café au Lait in der Bar und fertig war das absolute Glücksgefühl. Zumindest für eine kleine Weile.

Die Bar war schummerig und wunderbar kühl. Es gab keine weiteren Gäste. Das gefiel mir und ich beschloss, erst einmal hier zu bleiben. Der Patron hinter dem Tresen nickte mir freundlich zu. Seine Anwesenheit würde helfen, mich zusammenzunehmen, wenn ich die Tagebücher weiterlas. Das brauchte ich jetzt. Ich balancierte immer noch so nah am Abgrund, dass ich mir keine Nachlässigkeit erlauben konnte. Großmutter gehen zu lassen, fiel mir viel schwerer, als ich es mir gewünscht hätte. Gestern war sie gestorben – oder war es vorgestern gewesen? – und ich war noch so traurig, als wäre es gerade erst geschehen … War ich denn ganz bescheuert? Was erwartete ich eigentlich, wie schnell so was gehen würde? Vielleicht sollte ich mal eine Weile nicht mehr nachdenken, im Moment kam doch nur Blödsinn dabei heraus.

Ich suchte im Rucksack nach den Tagebüchern. Plötzlich hatte ich mein Handy in der Hand. Wow, in den Tagen unterwegs hatte ich nicht einmal daran gedacht. Natürlich war es aus. Ließ sich auch nicht anschalten. Es störte mich nicht. Ich wollte sowieso mit niemandem sprechen. Ich fand das zweite Tagebuch. Dummerweise hatte ich mir ja den schrecklichen Teil für später aufgehoben. Jetzt war später. Eindeutig nicht besser geeignet als die Nacht, in der ich mit dem Lesen angefangen hatte. Es blieb mir nichts übrig, als mich auf den Patron zu verlassen. Ich schlug das Buch auf und machte mich an die Arbeit.

 

Ich las das zweite Buch fertig, danach das dritte. Bestellte Wasser, noch ein Wasser, Café au Lait, noch ein Wasser und noch eins. Dann war ich durch. Und endgültig sicher, dass ich hochsensible Daten zu bewachen hatte. Großmutter hatte im letzten Teil des dritten Buches alles notiert, was sie über ihre Gegner im Francoregime und über die Mitglieder der Kameradschaft in Erfahrung gebracht hatte. Namen, Decknamen, Adressen, Daten, verübte Verbrechen. Es war eine lange Liste. Die Geschehnisse, von denen ich erfahren hatte, waren so unfassbar, dass ich zusammengebrochen wäre, wenn ich gekonnt hätte. Ich versuchte jedoch, mir nichts anmerken zu lassen, äußerlich gegenüber dem Patron, innerlich gegenüber meinem System. Ich durfte jetzt nicht nachgeben. Hatte einen Auftrag zu erfüllen – den meine sterbende Großmutter mir gegeben hatte: überleben, mich ausbilden. Die einzige Möglichkeit, die Kameradschaft zu bekämpfen. Zu besiegen. Großmutters Tod zu vergelten.

Es hielt mich nicht mehr in diesem Ort. Das einzige, was jetzt half, war körperliche Aktivität. Deshalb kehrte ich zurück zu meiner Route. Inzwischen war es fast Abend geworden. Immer noch heiß, aber nicht mehr ganz so schlimm. Dennoch ließ ich meine Straßenkleidung an, nur für den Fall. Im Wald flog ich unterhalb der Baumkronen, damit ich von oben nicht entdeckt werden konnte. Wenn ich jemanden sähe, könnte ich mich jederzeit im Grün über mir verbergen, auch wenn die Nadelbäume weniger Schutz boten als Laubbäume. Auf diese Weise kam ich nicht sehr schnell voran, doch das war mir egal. Hauptsache, ich war in Bewegung. Wenige sehr schmale Landstraßen ohne Autos kreuzten meinen Weg. Die Stille des Waldes beruhigte mich. An manchen Stellen fiel das letzte Sonnenlicht bis auf den Waldboden und beschien lauschige kleine Lichtungen, die mich unter anderen Umständen eingeladen hätten, ein wenig zu bleiben. Nach kurzer Zeit tauchten die ersten Laubbäume auf, langsam verlor sich die südliche Atmosphäre. Die Blätter rauschten leise in einer kaum wahrnehmbaren Brise und leuchteten grüngolden im letzten Sonnenlicht. Als es ganz dunkel war, wechselte ich die Kleidung und stieg über das Blätterdach. Erhöhte die Geschwindigkeit und unterbrach meinen Flug nicht mehr, bis ich zu Hause war.

7. Kapitel

Es war noch dunkel, als ich auf meinem Balkon landete. Unten auf der Straße konnte ich nichts Verdächtiges erkennen. Machte trotzdem kein Licht in der Wohnung, duschte im Dunkeln, putzte mir endlich wieder richtig die Zähne und legte mich ins Bett. Beim Einschlafen nahm ich mir noch vor, dem dauerhaften Inhalt meines Rucksacks eine Zahnbürste hinzuzufügen. Als ich erwachte, hatte ich für einen Augenblick Orientierungsschwierigkeiten. Das war seltsam, war auf dem Flug nicht vorgekommen. Ich fühlte mich fremd in der Wohnung. Es war zu viel passiert, ich war wirklich nicht mehr die Alte. Ich kramte nach meinem Handy und versuchte es zu aktivieren. Der Akku war komplett leer, dafür war die Mailbox, nachdem ich es ans Netz gehängt hatte, ziemlich voll. Alles Anrufe von Julien. Oh weh, er machte sich bestimmt Sorgen. Ich rief ihn an.

„Elli?“ Er schrie fast ins Telefon.

„Ja, hi.“

„Was heißt hier ‚ja, hi‘? Wo bist du?“

„Zu Hause.“

„Zu Hause?“

Warum wiederholte er alles, was ich sagte?

„Gehts dir gut?“

„Ja, wieso?“

„Wieso?“ Schon wieder.

„Weißt du überhaupt, was hier los ist? Du wirst gesucht! Schwing deinen Hintern ins Revier, aber ein bisschen plötzlich!“

Was war denn das für ein Ton? Ich war schon auf dem Weg an die Decke, doch dann erinnerte ich mich daran, dass er nicht wissen konnte, was ich erlebt hatte. Und ich wusste genauso wenig, was bei ihm los war.

„Bin gleich da.“ Ich schlüpfte in frische Klamotten, zog einen Müsliriegel aus der Schublade und machte mich auf den Weg. Mein Skateboard hatte ich am Laden liegen lassen, also tat ich heute nur so, als hätte ich eins. Fiel niemandem auf.

Das Revier war nicht gerade der geeignete Ort für das Gespräch, das uns bevorstand, aber für den Anfang war es mal ein Treffpunkt. Julien saß mit finsterem Blick hinter seinem Schreibtisch. Kaum hatte ich jedoch die Tür geschlossen, stand er vor mir und umarmte mich. Dann betrachtete er mich prüfend, als sei ihm die Antwort, die ich am Telefon auf seine Frage nach meinem Befinden gegeben hatte, suspekt. Nachdem er offensichtlich zu einem beruhigenden Ergebnis gekommen war, fragte er: „Wo warst du?“

Er betonte jedes einzelne Wort. Seine Methode, die Unabdingbarkeit einer ausführlichen Antwort zu unterstreichen. Kannte ich ja schon, kam mir nur in letzter Zeit etwas gehäuft vor.

„Ich erzähle dir alles, aber nicht hier“, antwortete ich leise.

Er ließ mich los, tippte etwas in seinen PC und sagte: „Gehen wir.“

Auf dem Weg steckte er den Kopf ins Nachbarbüro. „Elli Müller ist wieder aufgetaucht. Nehmen Sie sie aus der Fahndung raus.“

Dann machte er die Tür ganz auf, zerrte mich zum Vorzeigen in die Türfüllung und zurück auf den Gang. „Melde mich später“, rief er nach hinten, während er weiter meinen Arm festhielt und forsch Richtung Ausgang lief.

„Hast du eine Vorstellung davon, welche Sorgen ich mir gemacht habe?“, fauchte er, als wir im Auto saßen.

„Langsam schon“, antwortete ich lahm.

„Wir mussten davon ausgehen, dass die Kameradschaft dich und Frau Schmidt in ihre Gewalt gebracht hat“, setzte er nach.

So weit hatte ich auch gedacht. Hatte es aber bis jetzt als Vorteil betrachtet, weil uns dadurch niemand in die Quere gekommen war. Dass ich deshalb auf einer Fahndungsliste gelandet war, schockierte mich allerdings. Irgendwie war alles reichlich turbulent im Augenblick.

„Also, fang an“, kommandierte er, während er den Wagen aus der Stadt steuerte.

„Was ist an dem Abend passiert?“, fragte ich. „Als ich ankam, war vorn im Laden eine Schießerei im Gange und Gr- Frau Schmidt lag verwundet auf dem Boden.“

„Die Streife hat zwei Männer und eine Frau in den Laden gehen sehen. Die waren noch nicht richtig drin, als ein Schuss fiel. Sie sind sofort rein und wurden von einem Kugelhagel empfangen. Es gab ein ziemlich langes Gefecht. Einer der Männer wurde erschossen, der andere Mann und die Frau wurden verletzt. Die beiden sitzen jetzt in U-Haft. Einen Kollegen hat es auch erwischt. Zum Glück nur eine Fleischwunde. Die Kollegen haben dann das Lager und die Wohnung durchsucht und niemanden gefunden, nur eine Menge Blut. Als ich den Tatort inspizierte, habe ich meine Schlüsse gezogen. Dein Skatebord lag draußen, die Blutspuren führten nur in die Wohnung, nicht wieder hinaus, ein Fenster stand offen.“ Er blickte mich vielsagend an.

Mir blieb fast das Herz stehen. Scheinbar sah ich sehr erschrocken aus, denn sein Ausdruck wurde milde. „Keine Angst, ich hab nichts gesagt. Die hätten mich doch von dem Fall abgezogen und unseren Psychologen auf mich angesetzt. Das kann kein Mensch glauben, der es nicht gesehen hat.“

Erleichtert atmete ich aus, merkte erst jetzt, dass ich vor Schreck die Luft angehalten hatte.

„Ich habe mir also gedacht, dass du mit Frau Schmidt weg bist. Ich konnte mir nur nicht erklären, wieso. Und du hast keinen einzigen meiner Anrufe beantwortet. Das war nicht nur nicht fair, das war absolut beschissen.“

Er war gekränkt und er hatte recht. Er war mein bester Freund. Ich an seiner Stelle wäre ausgerastet. Unter einer ordentlichen Szene hätte ich es nicht getan. Es tat mir sehr leid. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass ich es ein zweites Mal wahrscheinlich nicht viel anders machen würde. Doch ich konnte mich jetzt wenigstens entschuldigen. Inzwischen hatten wir die letzten Häuser hinter uns gelassen und fuhren durch ein paar Felder auf ein Waldstück zu.

„Es tut mir leid. Ich weiß, du hast dir Sorgen gemacht.“

Julien bog auf einen Parkplatz am Waldrand ein. Er bremste etwas zu scharf, machte den Motor aus und funkelte mich an. „Sorgen gemacht? Das ist gar kein Ausdruck. Ich bin fast gestorben vor Angst um dich. Gus und Martha wollten sich schon von mir lossagen, weil ich nur noch von dir geredet habe. Gus meinte, ich solle mich endlich wieder wie ein Polizist benehmen und dass du schon groß seist – ob ich das schon gemerkt hätte. Wenn du dein Skateboard nicht zurückgelassen hättest, wäre gar niemandem aufgefallen, dass du da warst. Die Kollegen haben in den Nachbarläden herumgefragt und natürlich haben alle das Skateboard gekannt. Nachdem wir dich nicht finden konnten, haben sie geglaubt, du seist mit Frau Schmidt der Kameradschaft in die Hände gefallen. So, und jetzt du.“

Wir stiegen aus und liefen in den Wald hinein. Die Sonne leuchtete durch die Blätter der Bäume und gab ihnen diesen unbeschreiblich warmen Grünton, der jedes Mal aufs Neue eine Wohltat für meine Augen war. Ich fragte mich, ob es wohl dort, wo ich bald hingehen würde, diese wunderbare Farbe gab. Julien neben mir scharrte mit den Hufen. Ich musste meine Schilderung beginnen, bevor er mich wieder anraunzte.

„Also …“, fing ich an, „du wirst jetzt ein paar sehr erstaunliche Dinge hören, die dir vielleicht nicht immer gefallen werden. Ich werde dir alles erzählen. Doch ich habe eine Bedingung. Du musst dir erst alles anhören, bevor du einen Kommentar abgibst. Du kannst Fragen stellen, wenn du etwas nicht verstehst. Aber nur dann. Bist du einverstanden?“

Julien sah mich erstaunt an. Eine solche Einleitung aus meinem Mund, das kannte er gar nicht. Ich übrigens auch nicht. Er nickte. „Okay.“

„Gut. Frau Schmidt ist meine Großmutter.“

Er klappte den Mund auf und wieder zu.

„Ich habe es schon länger geahnt“, fuhr ich fort und dann erzählte ich ihm wirklich die ganze Geschichte. Er hörte sehr aufmerksam zu. Zwischendurch nahm er meine Hand und so liefen wir immer geradeaus den Waldweg entlang, ich redete, er nickte, staunte, litt mit mir. Als ich fertig war, blieb er stehen, drehte sich zu mir, nahm auch meine andere Hand, schaute mir in die Augen und fragte: „Wann wirst du gehen?“

Das war der Julien, den ich liebte. Und der es mit dieser Reaktion fertigbrachte, dass mir fast das Herz brach, als ich ihm antwortete. „Sobald ich hier alles geregelt habe. Länger als acht bis zehn Tage werde ich nicht brauchen.“

„Aber du weißt, dass du wegen der Kameradschaft nicht mehr gehen musst. Die Bandenkriminalität, die Mordkommission und eine Soko NS-Verbrechen sind auf sie angesetzt.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das wusste ich nicht. Allerdings beruhigt es mich auch nicht. Sie haben den Menschen auf dem Gewissen, der mir am meisten bedeutete, und sie konnten es unter euren Augen tun. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich gehe. Ich muss nach meinen Wurzeln suchen, ich muss meine Leute finden. Großmutter glaubte an die Kolonie in Südamerika und ich kann mir nicht vorstellen, dass es außer unserer Familie keine Lintu mehr gibt. Ich habe mich mein ganzes Leben nach anderen gesehnt, die so sind wie ich. Jetzt, wo ich weiß, wo ich herkomme, werde ich nicht aufgeben, bis ich sie gefunden habe.“

Es fehlte nur noch etwas dramatische Musik, um meine Worte zu unterstreichen. In den Heldenfilmen kam die immer an dieser Stelle. Die Kulisse und die Protagonisten stimmten schon mal. Deshalb zog ich mein Handy hervor und wählte eins der tragischen Lieder, die ich gespeichert hatte. Julien sah mich fragend an, während ich mitten im Wald mein jaulendes Handy in der Hand hielt.

„Die musikalische Untermalung meiner Rede“, erklärte ich schulterzuckend. Ich fühlte mich plötzlich total unwirklich, die ganze Szene hatte etwas Surreales. Was tat ich hier? Was redete ich da? Wer war dieser Mann vor mir? Was war das für ein Körper, in dem ich steckte? Das war doch eine schlechte Komödie, die hier ablief. Ich fing an zu kichern und konnte nicht mehr aufhören.

Julien hob die Augenbrauen. „Du bist echt gestört, Elli. Komm her.“ Er zog mich an seine Brust und schlang die Arme um mich. Es dauerte nicht lange, bis ich mich wieder beruhigte. Eine ganze Weile sagte keiner von uns etwas, dann flüsterte er: „Warum gibst du mir nicht die Tagebücher und sagst gegen die Brüder aus, dann stecke ich dich ins Zeugenschutzprogramm. Du musst nicht gehen. Du kannst auch von hier aus suchen.“

 

Ich schwieg und setzte mich wieder in Bewegung. Julien beeilte sich, an meiner Seite zu laufen. „Hast du keine Angst? Ich hab Angst. Um dich!“

„Um mich habe ich keine Angst. Nur um meine Familie, um Olivia, meine Eltern. Wenn die Kameradschaft sie findet, wird sie sie umbringen. Kannst du sie nicht beschützen?“

„Wie gesagt, wir haben das Zeugenschutzprogramm. Ich kann deine Familie mit hineinnehmen.“

„Das würde bedeuten, dass wir von hier weg müssten, eine neue Identität annehmen, richtig?“

Julien nickte.

„Ich werde mit meinen Eltern sprechen. Olivia ist ja gerade in New York. Als Aupair. Sie hat noch ein halbes Jahr. Keine Ahnung, was sie vorhat, wenn sie zurückkommt.“

Julien sah mich erstaunt an. „Das heißt, du bist einverstanden?“

War ich nicht wirklich. Und ich musste mir erst einmal über die verschiedenen Optionen klarwerden, bevor ich ihm antworten konnte. Dass meine Eltern sich auf dieses Zeugenschutzprogramm einlassen würden, war kaum vorstellbar. Jede Veränderung ängstigte sie. Dennoch musste ich es versuchen. Wenn die Kameradschaft es darauf angelegt hatte uns auszurotten, würde sie früher oder später meine Familie ausfindig machen. Auch bei Olivia war ich mir unsicher. Aber sie war im Augenblick weit weg und die Kameradschaft würde sie nicht so schnell finden. Bis dahin hätte ich vielleicht Zeit genug, sie zu überzeugen.

Die Tagebücher von Großmutter konnte ich Julien auf gar keinen Fall aushändigen. Wahrscheinlich hatte er nicht daran gedacht, dass sie von einer Lintu für ihre Familie geschrieben waren. Außerdem waren sie das einzige, was ich von ihr besaß. Wenn man von Simóns Amulett absah. Doch ich konnte ihm eine Kopie der Liste geben, die im dritten Buch verzeichnet war. Vielleicht genügte das. Wie ich selbst gegen die Kameradschaft aussagen sollte, war mir ein Rätsel. Beim ersten Überfall hatten wir die Verfolgung auf Verdacht aufgenommen und während der Jagd hatte ich die Verbrecher angegriffen und absichtlich verletzt. Auch beim zweiten Mal war es schon vorbei gewesen und ich hatte überhaupt niemanden zu Gesicht bekommen. Außerdem hatte ich wieder etwas getan, was nicht legal war. Wie kam Julien auf die Idee, dass davon etwas für die Anklage verwertbar sein könnte?

Meine Überlegungen brauchten mehr Zeit, als Juliens Geduld mir zugestehen wollte. Er konnte kaum stillhalten und ließ sich mehrmals zu auffordernden Gesten hinreißen. Als ich endlich den Mund aufmachte, atmete er laut aus, als hätte er während der ganzen Zeit die Luft angehalten.

„Also, ich kann es mir nur unter bestimmten Bedingungen vorstellen“, begann ich. „Erstens, die Bücher kannst du nicht haben. Es steht zu viel übers Fliegen drin. Aber ich kann dir eine Kopie der Liste geben, die Großmutter von den Mitgliedern der Kameradschaft und den Francotypen angefertigt hat. Zweitens, ich werde weggehen, ob ich im Zeugenschutzprogramm bin oder nicht. Drittens, ich sage nicht aus. Ich habe gar nichts zu bezeugen.“

„Du machst das mit dem Programm nur für deine Familie, stimmts?“

„Und du möchtest nur eine Aussage von mir, damit du uns in Programm bekommst, stimmts?“

Er nickte. Ich nickte. Er grinste. Ich grinste. „Also abgemacht?“

„Abgemacht.“

Während ich nachgedacht hatte, war mir aufgefallen, dass Julien zu meiner ganzen Geschichte nur diese eine Frage gestellt hatte, wann ich gehen würde. Er hatte sich nicht darüber beschwert, dass ich ihm die Tagebücher verschwiegen hatte und dass Großmutter meine Großmutter war, und dass ich sie schwerverletzt nicht ins Krankenhaus gebracht hatte, sondern auf einen spanischen Friedhof. Und über meine Bedingungen jetzt beschwerte er sich auch nicht.

„Julien, was ist eigentlich los mit dir? Du akzeptierst alles, was ich sage, und schimpfst nicht. So kenne ich dich gar nicht.“

„Es ist umgekehrt, Elli, ich kenne dich nicht. Du warst schon immer irgendwie besonders, aber jetzt bist du so besonders, dass ich das Gefühl habe, ich weiß nichts von dir.“ Er machte eine kleine Pause. „Ich bin ja Outings gewöhnt. Und dass die Welt oft auf dem Kopf steht danach. Aber mit dir – da ist das bisschen Kopfstehen Peanuts. Meine Welt ist komplett aus den Fugen geraten!“

„Findest du nicht, du übertreibst?“, warf ich ein.

„Nein, finde ich nicht. Du hast so mir nichts dir nichts ein physikalisches Gesetz ausgehebelt. Das hätte ich allerhöchstens einem Erleuchteten im Himalaya zugestanden. Und die sind selten genug und so weit weg, dass sie nicht bedrohlich wirken. Aber du bist hier neben mir und eröffnest mir auch noch, dass es mehr von deiner Sorte gibt. Wer weiß, was sonst noch so heimlich herumlaboriert hier. Vielleicht Leute mit Röntgenblick oder welche, die sich in Tiere verwandeln können oder Unsichtbare … oder Aliens! Apropos …“ Er sah mich scharf an.

Ich schnappte nach Luft. Das konnte jetzt nicht sein, oder?

Er grinste. „Quatsch, war ein Witz. Aber vielleicht kannst du verstehen, was ich meine?“

„Toller Witz. Ich hab das echt mal für eine Weile in Betracht gezogen, weil ich mir nicht erklären konnte, warum ich die Einzige bin, die es kann.“

„Na, wenigstens weißt du jetzt, dass es mindestens noch drei in deiner Umgebung gibt – eh, gab, nein, ach du weißt schon …“

Ich nickte. „Von denen eine tot ist, eine nicht weiß, dass sie es kann und einer nichts davon wissen will.“

„Was nichts an der Tatsache ändert, dass du nicht mehr allein bist.“

„Du hast recht, ich sollte nicht so undankbar sein.“

„Also, um auf den Punkt zurückzukommen“, fuhr Julien fort, „nicht nur du hast eine Reise vor dir. Ich auch. Ich muss meine gesamten Wertvorstellungen neu überprüfen. Ich weiß gar nicht, ob unsere normalen Polizeigesetze für so eine Kampfelfe wie dich überhaupt gelten.“

Jetzt musste ich lachen. „Du, im Zweifelsfall fragst du mich einfach. Ich spreche deine Sprache und bin bisher nicht auffällig geworden.“

„Bis auf jeden Tag in der letzten Woche. Was davor war, zählt nicht mehr.“

Wieder musste ich ihm zustimmen. Mein Leben davor war so lange her, dass ich fast keinen Bezug mehr dazu hatte. Und doch musste ich noch einmal dahin zurück. Der Start in mein neues Leben ging von dort aus. Genaugenommen hatte mein neues Leben schon längst angefangen. Aber ich musste noch einiges aus meinem alten Leben zu Ende bringen, lauter formale Dinge – die Wohnung auflösen, mich von der Uni abmelden und alles, was Geld kostete, kündigen. Und dann war da noch der Laden. Großmutter und ich hatten auf unserem Flug kein einziges Wort darüber gewechselt, wie ich mit dem Laden verfahren sollte. Plötzlich hatte ich genug vom Herumlaufen und Reden.

Als hätte er es gewusst, sagte Julien: „Ich habe einen Riesenhunger.“

Mein Magen reagierte augenblicklich mit einem lauten Geräusch. Mir fiel ein, dass ich außer dem mageren Müsliriegel von heute Morgen und den Croissants von gestern seit Tagen nichts Richtiges gegessen hatte.

„Auf ins Café“, lachte Julien.

„Aber in das neben dem Buchladen, ich brauche jetzt mindestens zwei Portionen Bratkartoffeln.“

„Einverstanden.“ Er sah mich erwartungsvoll an.

Mir war klar, was er wollte und ich tat ihm den Gefallen. Freute mich sogar. „Rückflug?“

Er nickte, seine Augen blitzten, und dann strahlte er übers ganze Gesicht, obwohl er sich deutlich bemühte, cool zu wirken. Ich überprüfte die Umgebung und drehte ihm den Rücken zu. Ganz in der Ferne entdeckte ich Bewegung, möglicherweise Reiter. Es war sicherer, zwischen die Bäume zu verschwinden, bevor wir in die Höhe stiegen. Julien legte die Hände auf meine Schultern, ich verband mich mit ihm und machte im Abheben schon den Schlenker zur Seite. Er erschrak, ließ aber nicht los.