Lintu

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Ich kam mir vor, als hätte ich ein Déjà-vu. Wollte es nicht glauben, doch da lag sie, mit geschlossenen Augen wie beim ersten Mal, nur diesmal war es richtig schlimm. Auf ihrer Bluse hatte sich ein großer roter Fleck gebildet. Meine Kehle schwoll schlagartig zu, ich konnte keinen Ton herausbringen, obwohl ich am liebsten geschrien hätte. Warf mich neben ihr auf die Knie und legte meine Hand an ihr Gesicht.

Ehe ich etwas sagen konnte, hörte ich ihre Stimme: Bring mich hier weg, bevor die Sanitäter kommen.

Sie hatte nicht gesprochen, sie hatte nicht einmal die Augen geöffnet. Aber die Verbindung zu ihr war so stark wie gestern im Krankenhaus. Ich hörte ihre Worte in meinem Kopf. Und dachte nicht daran, sie wegzubringen. Sie war doch verletzt!

Bring mich weg, Elli, ich sterbe, ich will bei meinen Leuten sterben.

Nein! Nein, das ging nicht, das konnte jetzt nicht sein! Die Sanitäter –

Die können mir nicht helfen! Nur du kannst mir jetzt helfen. Ich muss nach Hause, zu Simón …

Aber wie soll das gehen, das viele Blut …

Elli, wenn du mich nicht sofort wegbringst, dann hängen sie mich im Krankenhaus an ihre Geräte und ich sterbe trotzdem. Du siehst mich dann nur noch durch eine Glasscheibe. Wenn du mich wegbringst, kannst du mir so viel Energie geben, wie ich brauche, um am Leben zu bleiben, bis wir dort sind, wo meine Leute liegen – unsere Leute, Elli, unser Volk.

Unser Volk. Sie stirbt. Du stirbst.

Ja, ich sterbe.

Aber ich habe dich doch gerade erst wiederbekommen!

Elli, bitte, du kannst mich nicht retten. Du musst dich entscheiden. Hilf mir! Ich will zu Simón!

4. Kapitel

Draußen waren jetzt keine Schüsse mehr zu hören, dafür Laufschritte und Männerstimmen, deren Art sich zuzurufen nach Polizei klang. Okay, jetzt musste ich mich wirklich beeilen. Vorsichtig nahm ich Großmutter auf die Arme. Sie war leicht wie eine Feder.

Wohin?, dachte ich.

In die Wohnung. Dort liegt eine dunkle Decke auf dem Sofa. Wickele mich darin ein und flieg los.

Großmutter war so klar, obwohl sie so schwer verletzt war und noch nicht einmal die Augen öffnen konnte! So schnell es mit ihr ging, schwebte ich durch die Tür und die Treppe hinauf in die Wohnung. Riss die Decke vom Sofa, schlang sie irgendwie um ihren Körper und sauste zum Wohnzimmerfenster. Draußen auf der Straße hatten sich eine Menge Menschen versammelt, die in den Laden schauten. Hatten die denn keine Angst, dass die Schießerei wieder losging? Jedenfalls konnten wir hier nicht unbemerkt verschwinden. Blieb also das Küchenfenster. Es zeigte zum Hof hinaus. Ich öffnete es leise und kontrollierte die Umgebung. Kein Mensch weit und breit. Ein kurzer Blick auf Großmutter in meinen Armen – sie regte sich nicht, aber die Blutung hatte nachgelassen. Sicherheitshalber überprüfte ich den Hof noch einmal, denn es war noch nicht ganz dunkel und wir würden nicht sehr schnell sein. Dann hörte ich Schritte auf der Treppe. Sie suchten Großmutter. Wir mussten los.

Durch das Fenster schoss ich steil nach oben. Die Decke flatterte. Ich musste rasch einen geeigneten Platz finden, um mir mein Bündel richtig umzubinden. Zum Glück konnte ich nach kurzer Zeit auf einem Flachdach landen. Vorsichtig legte ich Großmutter ab. Sobald ich den Körperkontakt zu ihr unterbrach, fing die Wunde wieder heftig zu bluten an. Das hatte sie gemeint, als sie sagte, ich könne ihr genug Energie zum Überleben geben. Die Verbindung im Schwebezustand verlangsamte den Zerstörungsprozess. In Windeseile streifte ich meine Straßenkleider ab und verstaute sie im Rucksack. Sie waren zwar blutig, doch ich wusste nicht, ob ich sie auf unserer Reise nicht noch einmal brauchen würde. Ich setzte meine Mütze auf und hängte mir den Rucksack vor den Bauch. Dann legte ich mich dicht neben Großmutter auf die Decke, verknotete die Ecken vor meinem Körper und hob ab. Großmutter hing auf meinem Rücken wie ein Sack Federn. Sie rührte sich nicht, aber so konnte ich noch nicht fliegen. Ihre Beine baumelten herunter, ihr Kopf kippte neben meinem irgendwie zur Seite. Ich musste sie besser festbinden. Mit fliegenden Fingern holte ich mein Messer aus dem Rucksack, das einzige Werkzeug, das ich immer dabei hatte, und schnitt rechts und links so viele Streifen in die Decke, dass ich ihre Beine an meine Beine binden konnte. Für ihren Kopf faltete ich, so gut es ging, eine Art hohe Halskrause und verknotete die Enden mit den Rucksackträgern. So sollte es gehen, aber es war klar, dass ich Großmutter nicht mehr losbinden würde, bis wir unser Ziel erreicht hatten. Ja, wohin flogen wir eigentlich?

Nach Süden, zum Valle del Pájaro. Da war sie wieder.

Warum warst du so lange still?

Ich wollte dich nicht stören.

Wie geht das, unsere Unterhaltung?

Genauso wie das Fliegen. Du kennst viele deiner Fähigkeiten noch nicht, doch ich werde dir zeigen, so viel ich kann, bevor ich dich verlassen muss.

Verzweiflung stieg so schnell und gewaltig in mir auf, dass ich es kaum schaffte, sie niederzukämpfen.

Elli. Großmutters geistige Stimme klang so klar wie bei ihrem ersten Satz im Laden. Du kannst unsere gemeinsame Zeit damit verschwenden, zu trauern, dass du mich bald nicht mehr hast, oder dich auf das konzentrieren, was jetzt ist. Du hast mich jetzt hier. Wir sind miteinander verbunden und können noch sehr viel tun. Willst du die Zeit nutzen?

Entschuldige. Du hast recht. Ja, ich will die Zeit nutzen. Wie wollen wir es machen mit dem Fliegen? Wirst du mir sagen, wohin genau ich muss?

Ich werde dich leiten. Du musst Richtung Süden aus der Stadt hinaus.

Mittlerweile war es richtig dunkel geworden. Trotzdem flog ich weiter vorsichtig von Dach zu Dach. Doch ich wurde ruhiger. Seltsamerweise fühlte ich mich stark mit meiner ungewöhnlichen Last.

Und wie leitest du mich? Du kannst doch gar nichts sehen!

Ich kann den Weg wie eine rote Linie in der Landschaft vor meinem geistigen Auge sehen. Ich habe ihn gespeichert, als ich ihn einmal geflogen bin. Jeder Lintu kann das. Wir können sogar von anderen Lintu Wege übernehmen.

Dann kannst du mir doch den Weg geben.

Großmutter lächelte. Wie konnte ich das jetzt wissen? Ich sah es nicht, hörte es nicht, wusste es aber trotzdem. Sehr interessant.

Ich kann dir den Weg zwar geben, doch nur, wenn du weißt, wie man ihn empfängt. Das musst du aber erst üben …

Hätte ich auch selbst drauf kommen können, dass sogar die besonderen Fähigkeiten Übung brauchten.

Du kannst als Erstes einmal damit anfangen, nicht zu jedem Satz, den ich zu dir sage, einen Kommentar abzugeben. Damit unterbrichst du mich jedes Mal.

Stimmt, das ist – ach, schon wieder! Entschuldige, Großmutter, es geht so automatisch.

Ist schon gut, du fängst ja gerade erst an.

Trotz aller Vorsicht flog ich so schnell wie noch nie in meinem Leben. Ich hatte das Schnellfliegen immer trainiert, aber jetzt, zu zweit, waren wir um ein Vielfaches schneller. Obwohl sie so schwach war und obwohl sie mich brauchte, um in den Schwebezustand zu gelangen, schien Großmutter meine Energie zu verstärken. Es war faszinierend. Ich war gespannt, wie lange ich das so durchhalten könnte.

Theoretisch, bis wir da sind. Wenn sich zwei Lintu zusammentun, sind sie fast unschlagbar. Wahrscheinlich schaffen wir die Strecke, bis es hell wird.

Fliegen wir nach Spanien?

Ja.

Wohin dort?

In die Pyrenäen.

Was ist das für ein Ort, Valle del Pájaro?

Das Vogeltal. Wir wurden damals von den Spaniern ‚los pájaros‘ genannt – die Vögel. Das Tal liegt hoch oben in den Pyrenäen, dort kommt niemand hin, der nicht fliegen kann. – Es ist unser Friedhof.

Das Wort fuhr wie ein Messer in mich hinein. Auch wenn ich mir vorgenommen hatte, die Situation zu akzeptieren. Ich schluckte schwer.

Und Simón liegt dort?

Großmutters Stimme klang einen Augenblick wehmütig. Nicht sein Körper, den musste ich in Kanada zurücklassen. Aber ich habe sein Amulett dorthin gebracht.

Ich schwieg. Stellte mir vor, wie sie sein Amulett in der Erde vergraben hatte …

Ich habe es an einen unserer Bäume gehängt. Im Tal stehen viele Bäume und jeder hat eine Plattform, um die Toten aufzubahren. Die Tiere und das Wetter sorgen dafür, dass irgendwann nur noch blankgeputzte Knochen übrigbleiben. Die begraben wir im weichen Boden des Tals. Die Haare jedoch schneiden wir ab und verbrennen sie. Dann fliegen wir so hoch wir können und übergeben die Asche dem Wind. Das Amulett eines Lintu bleibt im Baum hängen.

Du wirst das Amulett wiederfinden … flüsterte ich innerlich.

Ja. Wieder konnte ich ein Lächeln wahrnehmen.

Ich wollte nicht daran denken, doch das Bild drängte sich geradezu auf. Großmutter aufgebahrt auf einer Plattform im Baum. Es war ein feierlicher Anblick. Und gleichzeitig das Schrecklichste, was ich je gesehen hatte.

Kannst du den Adler erkennen?

Welchen Adler? Es gibt doch hier keinen Adler, mitten in der Nacht!

Am Sternenhimmel! Du musst in seine Richtung fliegen.

Ich kam mir so dumm vor.

Ich kenne keine Sternbilder außer dem großen Wagen, antwortete ich kläglich.

 

Niemand hat dir gesagt, dass sie wichtig für uns sind. Du kannst nichts dafür.

Das nützte nicht viel. Es war so unintelligent von mir. Jeden Tag flog ich unter dem Sternenhimmel und hatte mich noch nie um seine Bilder gekümmert. Großmutter beschrieb mir das Sternbild und ich korrigierte die Richtung, nachdem ich es gefunden hatte. Nahm mir vor, mich damit zu beschäftigen, wenn ich wieder zu Hause war. Oh shit, ich war ab jetzt nicht mehr zu Hause.

So darfst du nicht denken, Elli. Lintu sind überall zu Hause. Großmutter machte eine Pause, dann fuhr sie fort: Die Landschaft ist unsere Wohnung und der Sternenhimmel das Dach. Pflanzen und Tiere sind unsere Geschwister. Und die Lintu untereinander sind wie ein Wesen. Du bist niemals allein, niemals fremd, niemals fern der Heimat.

Ich weiß nicht, ob ich das so schnell kann. Ich habe mich immer allein gefühlt, mein ganzes Leben.

Unter den Madur – natürlich.

Die Madur?

So nennen wir die Menschen, die nicht so sind wie wir. Sie können freundlich oder feindlich sein, es ist nie vorherzusehen. Deshalb müssen wir vorsichtig mit ihnen sein. Sie sind oft ängstlich und auf enge Vorstellungen fixiert. Darum sind sie schnell überfordert.

Gibt es denn Madur, die die Lintu kennen?

Früher gab es sehr viel mehr. Aber die Nazis haben nicht nur die Lintu umgebracht, sie haben auch alle verfolgt, die mit den Lintu verkehrten. Unsere engsten Freunde unter den Madur sind die Sinti und Roma. Wir sind ihnen in vielem sehr ähnlich.

Erzähl mir davon.

Das brauche ich jetzt nicht. Wenn du das Büchlein über uns liest, dann wirst du es verstehen. Ein Madur hat es geschrieben, ein Professor, der unser Volk liebte. Er ist oft mit uns geflogen.

Wir waren jetzt schon eine Weile unterwegs und Großmutter beantwortete ununterbrochen meine Fragen. Es musste sehr anstrengend für sie sein. Ich überlegte, ob wir besser eine Weile schweigen sollten, damit sie sich ausruhen konnte.

Es strengt mich an, da hast du recht, doch das ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist, dass du so viel wie möglich erfährst. Du brauchst dieses Wissen, um durchzukommen. Und ich kann dir nur noch diesen Dienst erweisen.

Der Gedanke machte mich traurig, wie sehr ich mich auch bemühte, es nicht zuzulassen.

Du darfst ruhig traurig sein, solange du trotzdem deine Fragen stellst.

Wieso konnte sie eigentlich auch die Gedanken und Gefühle wahrnehmen, die gar nicht für sie bestimmt waren? Ich konnte das nicht bei ihr.

Weil du mich einlässt. Deine Pforten sind geöffnet.

Aber ich mache doch gar nichts.

Eben. Du musst die Pforten verschließen, wenn du nicht willst, dass ich alles wahrnehmen kann.

Und du machst das?

Ja.

Und wie?

Ich zeige es dir, pass auf.

Plötzlich konnte ich Gedanken und Gefühle von Großmutter erkennen. Ich bemerkte wohl, dass sie mir nur Ausschnitte ihrer Innenwelt enthüllte. Sie zeigte mir, was sie über die Gegend wusste, über die wir gerade flogen und wie sehr sie sich nach unserem Ziel sehnte. Dann verschloss sie sich wieder. Ich war ein bisschen enttäuscht. Irgendwie hatte ich mehr Einblick erwartet.

Großmutter lächelte kurz. Dann wurde sie wieder streng. Ich mache das nicht, damit du dich mit meinen Befindlichkeiten beschäftigst. Du sollst darauf achten, wie ich die Pforten öffne und schließe. Ich zeige es dir noch einmal. Dann versuchst du es selbst.

Okay. Entschuldige.

Ich hielt nur noch einen kleinen Teil meiner Aufmerksamkeit beim Fliegen – es war dunkel genug, einsam genug, die Richtung lag auch fest – und konzentrierte mich auf den Prozess, den Großmutter mir demonstrierte. Zuerst bemerkte ich nichts. Dann löste sich mit so großer Geschwindigkeit eine Art Nebel vor mir auf, dass ich es fast nicht mitbekommen hätte. Plötzlich erkannte ich wieder Gedanken und Gefühle von ihr, auch Körperempfindungen konnte ich feststellen. Ich verbot mir, meiner Neugier stattzugeben und die Informationen aufzunehmen. Blieb auf den Öffnungsprozess konzentriert. Blitzschnell bildete sie den Nebel wieder, und ich stand vor einer Wand. Besser gesagt, ich konnte nichts mehr wahrnehmen. Konnte nicht einmal mehr erkennen, dass da eine Barriere war. Es wirkte tatsächlich wie nichts, wie – unsichtbar. Ich hatte nur noch meine Erinnerung an das Wahrgenommene als Beweis. Beeindruckend. Und das sollte ich jetzt nachmachen? Ich bezweifelte, dass ich schon verstanden hatte, was zu tun war. Egal. Ich musste es versuchen. Sie hatte ausgewählt, das hatte ich beim ersten Mal schon bemerkt. Also konzentrierte ich mich auf das, was ich zeigen wollte. Erst einmal nur Gedanken, das reichte bestimmt für den Anfang. Den Rest verbarg ich in meiner Vorstellung in einer großen Hülle aus Nebel. Er bildete sich erst schleierartig, dann wurde er dichter, bis ich zum Schluss das Gefühl hatte, jetzt sei er undurchdringlich.

Und, fragte ich sie, was erkennst du?

Du machst dir Gedanken über unsere Strecke. Wo wir uns verbergen werden, wenn es hell wird, wie viele Zwischenstopps wir haben werden, wie es in den Bergen sein wird.

Und sonst noch?

Mehr nicht.

Wow. Ich hatte es auf Anhieb geschafft. Sie konnte nur das erkennen, was ich ihr zeigen wollte! Wie cool war das denn!

Sehr cool, lachte sie.

Hey, das hättest du gar nicht hören sollen!

Tja, Elli, der Nebel ist leicht gebildet, doch du musst ihn auch halten. Du musst immer mit einem Teil deiner Aufmerksamkeit dabei bleiben, sonst entstehen Löcher. Mach sie wieder zu.

Leicht gebildet? Von wegen. Aber gut, vielleicht wurde es ja einfacher mit der Zeit.

Es wird einfacher.

Was? Mist!

Fokussiere dich!

Okay, entschuldige.

Entschuldige dich nicht dauernd, das lenkt ab.

Okay, ent- Himmel!

Ich konzentrierte mich erneut und schloss die Lücken. Dann überprüfte ich meinen Gesamtzustand. Ein Teil der Aufmerksamkeit beim Fliegen, ein Teil beim Nebel, ein Teil bei der Frage, die ich Großmutter als Nächstes stellen wollte. Ich hatte zu tun.

Stell deine Frage, forderte sie mich auf.

Es war die Frage, die ich neunzehn Jahre mit mir herumgetragen hatte. Jetzt endlich war ihre Zeit gekommen.

Warum hast du mich damals verlassen? Ich war doch noch so –

Vorsicht, Elli, der Nebel wird dünn! Halte die Aufmerksamkeit! Lass dich nicht von deinen Emotionen ablenken!

Okay!

Ich verstärkte die durchsichtiger werdenden Stellen und brachte meinen Satz zu Ende: – so klein!

Großmutter schwieg. Die Zeit, die sie sich mit der Antwort ließ, nutzte ich, um noch einmal meine Nebelhülle zu überprüfen und sorgfältig zu verstärken. Das Gefühlschaos, das mit dieser Frage verbunden war, musste sie nicht mitkriegen. Unsere Verbindung war so innig wie damals, als ich drei Jahre alt gewesen war. Als ob nicht neunzehn Jahre dazwischen liegen würden. Umso weniger verstand ich, warum sie sich nicht offenbart hatte, als ich wieder in ihr Leben eingetreten war.

An unsere erste Begegnung konnte ich mich noch genau erinnern. In meinem ersten Semester hatte sie bei einer Veranstaltung an der Uni hinter einem Büchertisch gestanden. Dort waren eine Menge Bücher ausgelegt, die mich interessierten. Die ganze Pause hatte ich damit zugebracht, in verschiedenen Büchern zu blättern und mich mit ihr zu unterhalten. Nach der Veranstaltung war der Büchertisch weg gewesen. Sie hatte ihren Buchladen erwähnt, aber nicht die Adresse. Das Wenige, was ich bis dahin von ihr erfahren hatte, hatte mich fasziniert und ich war wild entschlossen gewesen, den Kontakt wieder aufzunehmen. Weil sie damals noch keine Internetseite hatte, musste ich alle Buchläden in der Stadt anrufen, bis ich endlich auf ihren Laden gestoßen war.

Bei meinem ersten Besuch war ich bis Ladenschluss geblieben und sie hatte mich auf einen Kaffee nach nebenan eingeladen. Von da an war ich mehrmals in der Woche in ihrem Laden, zum Schluss eigentlich täglich. Ich las viel, kaufte wenig, half ihr beim Einsortieren der Bücher und sprach mit ihr über alles, was mich bewegte. Außer über sie selbst. Jetzt begann ich zu verstehen, wie sie es geschafft hatte, meine Aufmerksamkeit an diesem Thema vorbeizulenken.

Der Verdacht, dass sie meine Großmutter sein könnte, war zuerst als Wunsch in mir erwacht. Genau so, hatte ich gedacht, wäre meine Großmutter gewesen, genau so hätte sie sein sollen. Irgendwann war die Frage in mir aufgetaucht, warum sie es denn nicht wirklich sein könnte. Ich hatte nach Indizien gesucht, die diese Annahme ausschlossen und keine gefunden. Leider hatte ich auch nichts gefunden, was die Annahme belegt hätte, außer unserer Vertrautheit und der Tatsache, dass das Loch, das seit Großmutters Weggang in mir existierte, beinahe verschwunden war. Nun aber, da ich die Frage gestellt hatte, kam all das wieder nach oben, was ich lange Zeit nicht mehr gefühlt hatte. Als kleines Kind hatte ich mir nicht vorstellen können, dass sie mich nicht liebte, und mir deshalb meine Geschichten um ihr Verschwinden ausgedacht. Als Teenager waren mir Zweifel gekommen. Ich hatte nicht mehr an diese Liebe glauben können und mir eingeredet, Großmutter sei mir so egal wie ich ihr. Als ich Frau Schmidt kennengelernt hatte, war die Sehnsucht wieder erwacht. Ich war wütend auf Großmutter gewesen und hatte ihr trotzig nachgerufen, dass ich jetzt jemanden gefunden hätte, der ihren Platz einnähme. Doch egal, wie ich gerade fühlte, hatte ich ihr immer vorgeworfen, dass sie mich verlassen hatte. Immer. Und tat es noch. Während ich versuchte, Wut, Zweifel, Trotz, Sehnsucht, Trauer und grenzenlose Liebe in meiner Nebelhülle in Schach zu halten, hörte ich ihre Stimme in meinem Kopf.

Dein Vater, begann sie, hat schreckliche Dinge erlebt, als er klein war. Er gab sich die Schuld am Tod von Simón, seinem Vater, und weil er diese Last nicht ertragen konnte, machte er das Fliegen dafür verantwortlich. Er wollte nie mehr etwas damit zu tun haben, obwohl es zu uns gehört wie das Atmen. Schon vor deiner Geburt rang er mir das Versprechen ab, dich nicht einzuweihen. Doch je älter du wurdest, desto klarer wurde mir, dass es falsch war, dich mit dieser Lüge aufwachsen zu lassen. Wir durften dir diesen Teil deines Wesens nicht vorenthalten, so wenig wie dein Vater ihn für sich leugnen durfte. Er machte sich unglücklich damit, und du würdest ebenso unglücklich werden, ohne auch nur zu ahnen, warum. Mir war klar, dass dein Vater sich nicht umstimmen lassen würde, also fasste ich den Entschluss, mein Versprechen zu brechen und dich zu initiieren, wenn du weit genug warst. Mir war auch klar, dass dieser Schritt meine Beziehung zu ihm kosten konnte … An deinem dritten Geburtstag schlug ich einen Spaziergang in den Wald vor, um deine Initiation durchzuführen. Das ist gewöhnlich die Zeit, in der bei den Kindern das Fliegen beginnt. Ich warf dich in die Luft, so wie es meine Mutter mit mir gemacht hatte, und du flogst, als hättest du es schon immer gekonnt. Da wusste ich, dass ich das einzig Richtige getan hatte. Dein Vater hat mir nicht verziehen. Er hat mit mir gebrochen und von mir verlangt, mich von dir und deiner Schwester fern zu halten. Großmutter seufzte schwer.

Er kann nichts dafür. Seine kindlichen Schuldgefühle haben so tiefe Verletzungen in ihm hinterlassen, dass er nicht weiß, wie er sonst überleben soll. Ich habe ihm versprochen, seinen Willen zu respektieren, um sein Leid nicht zu verschlimmern. Aber ich habe euch im Auge behalten. Ich sah dich oft nachts ausfliegen. Ich sah euch zur Schule und wieder nach Hause gehen. Ich bemerkte Olivias Wut auf dich und ihre Schwierigkeiten, damit klarzukommen. Sie weiß nicht, warum sie wütend auf dich ist und sie leidet darunter, denn sie liebt dich mehr als jeden anderen Menschen.

Mir gingen ganze Lichterketten auf. Das Verhalten meiner Eltern – ich konnte zwar immer noch nicht verstehen, weshalb sie diesen Weg gewählt hatten, aber ich kannte jetzt immerhin die Beweggründe. Sie verhielten sich nicht so, weil sie mich nicht liebten oder mich gar schikanieren wollten. Sie wollten mich schützen. Gut gemeinter, falsch verstandener Schutz. Es tröstete mich zwar nicht über die schrägen Erlebnisse in meiner Kindheit hinweg, doch es rückte sie in ein anderes Licht. Das half ein bisschen. Meine kleine Schwester, Olivia – sie wusste nicht, dass sie fliegen konnte und dass es ihr fehlte. Sie gab mir die Schuld für ihre innere Leere, weil ich damals nicht mehr mit ihr geflogen war. Jede Menge negative Gefühle, die ich bis dahin mit mir herumgeschleppt hatte, begannen sich zu verwandeln. Besonders die gegenüber Großmutter. Sie verstärkten die ohnehin schon grenzenlose Liebe, die ich für sie fühlte. Ich floss über und es war mir jetzt gerade völlig egal, wie meine Nebelhülle aussah. Ich verströmte meine Liebe zu ihr und hüllte sie vollständig ein.

 

Na, na, Elli, jetzt übertreib mal nicht. Denk daran, dass wir nicht mehr viel Zeit haben und dass du lieber die Gelegenheit nutzen solltest, an deiner Abschirmung zu arbeiten, statt mich in Liebe zu ertränken.

Ich konnte das Augenzwinkern in ihrer Stimme hören. So war sie, immer an der Sache orientiert, niemals außer sich, selbst jetzt, wo sie im Sterben lag.

Als du dein Studium begonnen hast, erzählte sie weiter, hielt ich es nicht mehr aus. Ich hatte dir so viel zu geben und sann auf eine Möglichkeit, dich teilhaben zu lassen. Deshalb baute ich damals diesen Büchertisch auf. Um dich anzulocken, packte ich so viele Bücher wie möglich darauf, von denen ich annahm, sie könnten dich interessieren. Es hat funktioniert.

Allerdings. Aber wieso hast du mir in all den Jahren nicht gesagt, wer du bist?

Ich wollte mein Versprechen nicht noch einmal brechen. Dich zu initiieren, war notwendig gewesen, jedoch konntest du dich auch ohne Großmutter weiterentwickeln. Ich bemühte mich, sie zu ersetzen.

Sie machte eine Pause.

Erst vor ein paar Wochen kamen mir Zweifel, ob das genügen würde. Ich bemerkte eine zunehmende Wehmut in deiner Stimme, wenn du von deinem Kommissar und seiner Familie erzähltest. Ich fragte mich, ob du jemals mit einem Madur eine Familie gründen könntest – und konnte es mir nicht vorstellen. Die ganze Geheimhalterei war mir schon immer irrwitzig vorgekommen, aber jetzt befürchtete ich, dass sie dir dauerhaft Schaden zufügen könnte. Also entschloss ich mich herauszufinden, ob es die Kolonie in Südamerika noch gibt, und dich dann dorthin zu schicken, vielleicht sogar selbst mit dir dorthin zu gehen. Ich begann, Nachforschungen anzustellen. Offenbar war ich nicht vorsichtig genug, denn sie haben mich sehr schnell gefunden.

Warum hast du es mir dann immer noch nicht gesagt?

Ich war noch nicht so weit. Ich wollte nach wie vor an meinem Plan festhalten. Frag mich nicht, warum. Gewöhnlich sehe ich die Dinge klarer. Vielleicht habe ich auch schon einen Schaden von der vielen Heimlichtuerei.

Auf einmal hatte ich einen dicken Kloß in der Kehle und Tränen brannten in meinen Augen. Doch diesmal waren es keine Tränen der Trauer. Sie gehörten zu einem eiskalten Hass, der nach meinem Herzen griff und meinen Körper ganz steif werden ließ. Wut überspülte mich wie eine Welle aus dickem rotem Nebel und beraubte mich meiner Sinne. Ich hatte das Gefühl, in tausend Teile zerspringen zu müssen, während ich einem gewaltigen Schrei entgegenstrudelte. Ich hasste diese Kameradschaft, ich hasste sie so sehr, dass ich mir nicht vorstellen konnte, jemals wieder etwas anderes fühlen zu können. Sie hatte meine Großmutter auf dem Gewissen, meinen Vater, meine ganze Familie, mein ganzes bisheriges Leben und meine Zukunft, die so schön hätte sein können. Sie hatte meine Ahnen auf dem Gewissen, mein Volk, das ich noch nicht einmal hatte kennenlernen dürfen. Alles, was mir wichtig war, hatte sie zerstört! Dafür wollte ich sie zerstören! Ich hasste sie! Für immer! Abgrundtief! Es gab nur noch diesen eiskalten, flammenden Hass.

In dem Augenblick, in dem der Schrei aus mir herausbrechen wollte, hörte ich Großmutters Stimme. Ein glasklares, sehr ruhiges, durchdringendes Stopp, das mich unmittelbar zur Besinnung kommen ließ.

Hör sofort auf damit, unsere Mission zu gefährden. Sie wartete, bereit, erneut einzuschreiten.

Doch sie hatte den Strudel unterbrochen. Ich tauchte auf wie eine Ertrinkende, orientierungslos, verwirrt, rang nach Luft. Versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Sie standen mir bis zum Hals. Ich durfte nicht noch einen Anfall kriegen, musste mich beruhigen. Konzentrierte mich auf meinen Atem, spürte in meinen Körper hinein, empfand mühsam meine Arme und Beine, den Kopf, den Leib, Großmutter auf meinem Rücken. Langsam kam ich wieder zu mir. Wir flogen immer noch – warum waren wir eigentlich nicht vom Himmel gefallen?

Ich habe die Steuerung übernommen, als du ausgeflippt bist.

Ich schämte mich entsetzlich.

Es tut mir so leid! Ich glaube, ich bin jetzt wieder da.

Glaubst du oder bist du?

Ich bin.

Gut. Dann orientiere dich und übernimm wieder – und bring deine zerfetzten Pforten in Ordnung.

Oh weh, an meine Nebelhülle hatte ich gar nicht mehr gedacht. Auch nicht an die Folgen. Großmutter hatte meinen ganzen Hass miterleben müssen, sie, die Sterbende. Ich fing sofort an, die Pforten wieder aufzubauen. Einfach war das nicht. Ich war noch zu erschüttert von meinem Ausbruch, fühlte mich nun, mit dieser Erkenntnis, erst recht niedergeschlagen.

Du kannst lernen, mit deinen Emotionen besser umzugehen.

Wie denn? Ich bin mir da nicht so sicher.

Als Erstes musst du dir klar machen, dass deine Emotionen nichts mit deinem Wesen zu tun haben.

Großmutter sprach in Rätseln.

Sie sind beherrschbar. Glaub mir.

Ich wollte ihr glauben. Doch ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. Seufzend konzentrierte ich mich aufs Fliegen, das konnte ich wenigstens. Es war nicht mehr ganz dunkel. Am Horizont zeigte sich ein schmaler grauer Streifen.

Wie lange werden wir noch fliegen können?, fragte ich.

Wahrscheinlich schaffen wir es ohne Pause. Wir sind schon weit über Frankreich und erreichen bald die Pyrenäen. Dort können wir auch fliegen, wenn es schon hell ist. Die wenigen Straßen, die es gibt, können wir meiden.

Mein Magen und mein Zwerchfell krampften sich zusammen.

Das bedeutet –

dass wir nicht mehr viel Zeit haben.

Schnell und konzentriert baute ich weiter an meiner Nebelhülle. Wollte Großmutter in diesen letzten Stunden nicht mehr länger mit meinen Gefühlen belasten.

Ich nehme an, die schrecklichen Dinge, die mein Vater als Kind erlebt hat, werde ich erfahren, wenn ich deine Tagebücher weiterlese?

Ja.

Werde ich ihn dann verstehen können?

Ich weiß es nicht. Wie viel kann ein Mensch überhaupt von einem anderen Menschen verstehen?

Aber er ist ein Lintu und ich bin seine Tochter. Wenn wir uns verbinden würden –

Damit darfst du nicht rechnen. Er will kein Lintu sein.

Vielleicht kann ich ihn überzeugen, wenn Julien die Kameradschaft zerschlagen hat!

Die Kameradschaft lässt sich nicht zerschlagen. Es kann so aussehen, als wäre sie verschwunden, die Ideologie jedoch wird nicht untergehen. Gedankengut lässt sich so wenig ausmerzen wie Bakterien. Irgendwo überlebt immer eine Spur. Und die wird wieder wachsen, wenn es Umstände gibt, die sie nähren. Dein Vater weiß das. Ich will dir nicht die Hoffnung nehmen, Elli. Doch du musst dich zuerst um dich selbst kümmern. Du musst versuchen, andere Lintu zu treffen, die gern sind, was sie sind, du musst von ihnen lernen. Im Augenblick bist du wie eines dieser Menschenkinder, das unter Tieren aufgewachsen ist. Du hast von deiner Umgebung gelernt und alles an dir, was nicht Madur sondern Lintu ist, hast du dir selbst beigebracht. Von vielen der Anlagen und Fähigkeiten, die du als Lintu mit in die Wiege gelegt bekamst, ahnst du noch nichts. Und wenn du sie entdeckst, musst du sie ausbilden, damit sie dir wirklich dienen. Das ist jetzt deine Aufgabe. Überleben, dein Wesen kennenlernen, dich ausbilden. Erst dann kannst du zurückkommen und versuchen, deiner Schwester und deinem Vater zu helfen.

Ich schwieg. Was Großmutter sagte, klang vernünftig, auch wenn es mir nicht gefiel. Bisher fühlte sich das alles so theoretisch an. Besondere Fähigkeiten – klar, ich hatte gerade das Gehirnsprechen kennengelernt – eine bessere Bezeichnung fiel mir noch nicht ein – und die gegenseitige Verstärkung der Kräfte, das Öffnen und Schließen der inneren Pforten, die Orientierung beim Fliegen … Wenn ich darüber nachdachte, war das eigentlich doch nicht so theoretisch. Sogar ganz schön viel in ganz schön kurzer Zeit. Wenn das so weitergehen sollte, wenn ich auf andere Lintu traf … Tatsächlich mischte sich unter all die Zweifel und Befürchtungen ein winziges Gefühl, das ich Freude nennen konnte. Freude auf mein neues Leben. Ein ungewohntes Gefühl. Gefolgt von Verwirrung. Wie konnte ich mich freuen, wo ich meine sterbende Großmutter zu ihrer letzten Ruhestatt brachte?