Lintu

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„Du hast Angst“, grinste ich, „gibs zu!“

„Nein, ich denke nur an die Zeit“, antwortete er mit etwas dünnerer Stimme als sonst.

„Wir sparen Zeit“, entgegnete ich, „und du hast doch Angst!“

„Nein, wirklich nicht – doch, ja, okay! Du bist jetzt Superelli und wer weiß, was du mit mir anstellst …“

„Ich hab nur Spaß gemacht, ehrlich, es tut kein bisschen weh. Es wird dir so viel Freude machen, dass du nicht mehr aufhören willst. Versprochen.“

Er sah mich forschend an und atmete dann hörbar aus. „Also gut, ich vertraue dir ausnahmsweise mal. Was muss ich machen, Superelli?“

„Als Erstes aufhören, mich so zu nennen. Wenn du mir unbedingt einen Spitznamen geben musst, werde ich das wohl nicht verhindern können. Aber der ist wirklich einfallslos. Außerdem bin ich nicht superer als vor zwei Tagen.“

„Das stimmt eigentlich“, sagte er und grinste, „vielleicht eher gemeiner. Du hast schließlich einem Mann den Arm gebrochen.“

Ich zuckte zusammen. Voll erwischt. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht, vor allem nicht, seit Frau Schmidt diese Sachen über die Kameradschaft erzählt hatte. Doch Julien hatte recht. Das war neu an mir und ich musste damit umgehen.

„Also, wie nennen wir dich jetzt“, neckte er mich, „Knochenbrecherelli?“

„Willst du lustig sein?“, fragte ich leicht genervt. Leider musste ich ihm ja innerlich zustimmen und doch wehrte sich alles in mir dagegen, mich so zu sehen. Viel lieber wollte ich weiter so gut sein, wie ich das bisher von mir gedacht hatte. Ich ließ den Kopf hängen.

„Okay, ich gebe zu, ich hab schon bessere Witze gemacht“, sagte er beruhigend, als er sah, wie zerknirscht ich auf einmal war. „Vielleicht bleib ich einfach bei Elli, was hältst du davon?“ Er kam auf mich zu, legte mir die Hände auf die Schultern und gab mir einen Kuss auf die Wange.

Eigentlich hatte ich vorgehabt loszufliegen, wenn Julien mit den Händen auf meinen Schultern hinter mir stand. Jetzt beschloss ich kurzerhand, ihn zu erschrecken, weil er über ein mir sehr ernstes Thema seine Witze riss. Er gehörte bestraft, wenigstens ein bisschen. Also machte ich mich im gleichen Augenblick leicht, verband mich ganz fix mit seinen Zellen und flog los, bevor er richtig kapiert hatte, was mit ihm geschah. Natürlich begriff er sehr schnell, dass er keinen Boden mehr unter den Füßen hatte – und er wirkte noch nicht begeistert. Sollte er ja auch nicht. Ich wollte ihn erst einmal ärgern.

Er schnappte nach Luft und keuchte: „Elli, wir fliegen.“

„Echt jetzt?“ Diesmal grinste ich.

„Ja, echt jetzt“, er wurde richtig laut, „mach keinen Scheiß, lass mich runter! War nicht toll von mir, aber Rache ist keine Option.“

Mist. Er hatte schon wieder recht. Ohne ein Wort schwebte ich sanft zu Boden, entließ ihn auf seine Füße. Sah ihn entschuldigend an und sagte: „Stell dich hinter mich, dann versuchen wir es nochmal, aber diesmal richtig.“

Er lächelte und fragte: „Echt jetzt?“

„Ja, echt jetzt“, antwortete ich und lächelte auch, „na los!“

Juliens Finger wirkten eher wie Klauen, so fest krallte er sie in meine Schultern. Ich wand mich aus seinem Griff und drehte mich zu ihm um. Gab ihm lieber die Hand. Dann verband ich mich mit seinen Zellen und schwebte mit ihm ein paar Zentimeter vom Boden weg. Er schnaufte aufgeregt, hielt aber ganz still in der Luft.

„Siehst du, du brauchst dich gar nicht schlimm festhalten, es geht schon mit einer ganz leichten Berührung“, versuchte ich ihn zu beruhigen.

„Und was ist, wenn wir weiter oben sind und ich abrutsche und runterfalle?“ So leicht war er nicht zu überzeugen.

„Das kann gar nicht passieren“, entgegnete ich, „selbst wenn du abrutschen würdest, könntest du dich immer noch an meinem Bein festhalten und wenn du das nicht erwischen würdest, würde ich dich wieder einfangen, bevor du unten wärst, verlass dich drauf.“

„Beweise es mir“, forderte er. Er war etwas blass um die Nase. Wo war die ganze Begeisterung von vorhin hin? Seufzend stellte ich ihn auf den Boden, schnappte mir einen herumliegenden Ast und schoss ein paar Meter nach oben. „Aufpassen jetzt“, rief ich ihm zu. Ich ließ den Ast fallen, flog parallel mit ihm kopfüber nach unten, ohne ihn zu berühren, und packte ihn kurz vor der Erde. Als ich wieder vor Julien stand und ihn auffordernd ansah, hob er beide Hände.

„Okay, Superel… ‘tschuldigung, ich bin so aufgeregt, war nicht so gemeint, verzeih mir.“

Bevor er noch mehr dummes Zeug stammeln konnte, drehte ich mich um und wartete, bis er seine Hände wieder auf meine Schultern gelegt hatte. Wir hoben sehr langsam vom Boden ab und blieben ein paar Meter bei diesem Schneckentempo, dann legte ich mich in die Waagerechte, damit er meinen ganzen Körper unter sich hatte. Ich flog vorsichtig los, weg vom Weg in den Wald hinein. Wollte nicht riskieren, doch noch einem Spaziergänger zu begegnen und dann nicht schnell genug reagieren zu können mit meinem ungeübten Anhang.

Wir flogen parallel zum Weg in Richtung Parkplatz. Julien entspannte sich zusehends. Er begann nach links und rechts zu schauen und kleine freudige Laute von sich zu geben.

„Sollen wir mal ein bisschen schneller?“, fragte ich.

„Nein“, antwortete er, „jetzt noch nicht, es gibt so viel zu sehen, aber das nächste Mal.“

„Wer sagt denn, dass es ein nächstes Mal gibt?“, neckte ich ihn.

Die Antwort kam prompt. „Ich kann dich zwingen, ich bin Polizist.“

Ich lächelte und schwieg.

Als wir wieder im Wagen saßen, strahlte Julien übers ganze Gesicht. „Ich bin soooo beeindruckt, ich bin geradezu überwältigt, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, schade, dass ich es niemandem erzählen kann, ich würde zu gern angeben damit …“

Er beugte sich zu mir herüber, nahm mein Gesicht in beide Hände und drückte mir einen dicken Schmatzer auf den Mund.

Ich musste lachen. „Untersteh dich anzugeben, ganz im Ernst, ich verlass mich auf dich.“

Er hob seinen Zeigefinger an die Lippen und sagte: „Kein Ton, niemals in meinem ganzen Leben, das weißt du.“ Dann startete er den Wagen.

Es war doch später geworden als gedacht, und Julien hatte nicht mehr sehr viel Zeit, als wir am Laden ankamen. Bevor ich aufschloss, warf ich einen Blick durch die Schaufenster. Von draußen war nichts zu sehen, erst als wir im Laden standen. Die Regale der Esoterik- und der Wissenschaftsabteilung im hinteren Bereich waren leergefegt. Alle Bücher lagen kreuz und quer auf dem Boden. Den Rest des Ladens hatten sie in Ruhe gelassen, nur hier und da war ein Stapel umgefallen. Wir gingen weiter ins Lager, wo ich Frau Schmidt gefunden hatte. Hier sah es viel schlimmer aus – so, wie ich es in meiner Erinnerung abgespeichert hatte. Komplettes Chaos, nur Frau Schmidt auf dem Boden fehlte. Kein einziges Buch stand mehr in irgendeinem Regal oder Schrank. Alles lag wild durcheinandergeworfen in mehreren Schichten übereinander. Die Bücher waren zum Teil aufgeschlagen und hatten verknickte Seiten. Manche waren sogar eingerissen. Mittendrin lag der Bildschirm mitsamt allem, was auf dem Schreibtisch gestanden hatte. Wenn diese kranken Hirne nur etwas gesucht hatten, warum hatten sie dann so gewütet? Ich hätte heulen können.

Julien fragte: „Weißt du, welche Bücher Frau Schmidt hier hinten aufbewahrt hat?“

„Nicht genau“, antwortete ich, „zumindest nicht in den Schränken. Die waren immer verschlossen. Sie hat nichts darüber gesagt und ich habe nicht gefragt. Ich nehme an, es sind private Bücher. In den Regalen stand das normale Zeug, was in jedem Buchladen steht, Neuerscheinungen, Bestellungen, Ladenhüter und so weiter.“

Ich sah mir die Titel der oben liegenden Bücher an. Es schien die gleiche Mischung zu sein wie draußen im Laden. Esoterik, Wissenschaft, dazwischen fremdsprachige Bücher, alle alt, gebraucht. Wie ich vermutet hatte, nichts zum Verkaufen. Es waren Frau Schmidts erklärte Interessensgebiete. Nicht umsonst waren genau diese Abteilungen überproportional ausgestattet in ihrem ansonsten viel zu kleinen Buchladen.

„Es macht den Eindruck, als hätten sie gezielt und doch nicht gezielt gesucht“, sagte Julien. „Offensichtlich suchten sie keine Romane.“

„Vielleicht wissen sie es selbst nicht so genau, nur die ungefähre Richtung“, vermutete ich. Ich war mir nicht im Klaren darüber, ob ich Julien sagen sollte, dass Frau Schmidt anscheinend wusste, was sie suchten.

Er nahm mir die Entscheidung ab. „Frau Schmidt hat heute Morgen so eine Andeutung gemacht, dass nur die Kameradschaft etwas Interessantes bei ihr finden könnte – ich glaube, ich muss sie noch mal befragen.“ Guter Polizist. Ich brauchte Frau Schmidt nicht zu verraten.

Julien schaute auf die Uhr. „Wir müssen los, Ellimaus.“

„Ich bleibe noch“, sagte ich, „ich mache ein bisschen Ordnung. Zumindest vorn im Laden.“

Er sah mich besorgt an. „Ich lass dich nicht gern allein hier, das ist dir klar, oder?“

„Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass diese Kameradschaft noch mal in den Laden kommt, solange Frau Schmidt nicht da ist. Es hörte sich viel mehr an, als bräuchten sie sie, um zu finden, was sie suchen. Außerdem ...“, ich zeigte auf mein Handy, „und ...“, ich hob kurz vom Boden ab, „bin ich bestens ausgerüstet.“

Er seufzte. „Du hast deinen Dickschädel nicht erwähnt ...“ Dann legte er mir die Arme um die Schultern und lächelte. „Danke noch mal, dass du mich in dein Geheimnis eingeweiht hast.“

„Gezwungenermaßen“, knurrte ich.

„Egal wie, ich finde es großartig. Und der Probeflug – absolut wiederholenswert!“

„Ich gewöhne mich schon dran, dass jetzt jemand Bescheid weiß“, erwiderte ich, „es fühlt sich gar nicht so schlecht an.“

„Jemand?“, fragte er mit leicht beleidigtem Unterton. „Ich bin dein bester Freund!“

 

„Zum Glück“, grinste ich, „dann bis morgen.“

„Bis morgen? Sehen wir uns denn?“

„Ich komme natürlich mit, wenn du Frau Schmidt befragst“, sagte ich, „ich befürchte, ich bin mehr in die Sache verwickelt, als mir lieb ist.“

„Was sind denn das jetzt für Andeutungen?“

„Das erkläre ich dir morgen, Schatzi. Deine zwei Süßen warten auf dich, schwirr ab jetzt.“

„Das Schwirren ist ja wohl eher dein Fachgebiet“, maulte er, während er zum Laden hinausschob.

Ich schloss hinter ihm ab und prüfte zur Sicherheit auch noch die Hintertür, die mit einem Vorhängeschloss provisorisch abgesperrt war. Der Türrahmen war ziemlich demoliert, das waren ganz sicher keine Einbruchprofis gewesen. Überall sah man die Spuren einer Brechstange oder etwas ähnlichem. Schon wieder stieg Wut in mir auf. Besser, ich machte mich gleich an die Arbeit.

Obwohl ich mich am liebsten auf die Bücher im Lager gestürzt hätte, fing ich draußen im Laden an. Wenn Frau Schmidt aus dem Krankenhaus kam, sollte sie sofort wieder aufmachen können. Besser, der Laden blieb nicht zu lange geschlossen. Ihr Ordnungssystem war mir vertraut, dazu hatte ich genug Zeit in ihrem Laden verbracht und oft genug geholfen. Ich kam schnell voran mit dem Einräumen. Leider war fast ein Drittel der Bücher beschädigt. Ich stapelte sie aufeinander, um sie nachher ins Lager zu tragen, wenn man sich dort wieder bewegen konnte. Wer bezahlte eigentlich den materiellen Schaden, den diese Verbrecher angerichtet hatten? Ob Frau Schmidt gegen so etwas versichert war? Meine Wut bekam neuen Stoff.

Im Lager wurde es schwieriger mit dem Aufräumen. Nicht nur, dass alles noch schlimmer durcheinandergeworfen war, ich kannte die Bücher nicht und hatte keine Ahnung, was wie zu ordnen sein könnte. Aber ich hatte ja Zeit, musste sowieso warten, bis es dunkel war, um den Ausflug zu meinem Elternhaus zu starten.

Bevor ich loslegte, wollte ich etwas essen. Frau Schmidts Buchladen lag in einer Straße, in der es viele kleine Läden, Cafés und Kneipen gab. Eine eigentümliche Mischung aus alt und modern und die unterschiedlichsten Nationalitäten waren hier vertreten, sowohl bei den Läden als auch beim Publikum. Ich kam gern in diese Straße. Wenn man um die Ecke bog, hatte man das Gefühl, in eine andere Welt einzutreten. Wo andere Gesetze galten als im Rest der Stadt. Alle, die hier ihre Läden hatten oder einkaufen kamen, waren wirklich auf irgendeine Weise anders, selbst wenn sie nicht danach aussahen. „Leben und leben lassen“ schien als unsichtbares Banner quer über der Straße zu hängen. Keiner guckte den anderen schräg an, obwohl das schrägste Volk unterwegs war. Und dazwischen Leute, die man sonst nur in den besseren Einkaufsstraßen sah. Man fiel hier einfach nicht auf, egal wie man daherkam. Dabei herrschte eine Gemütlichkeit, die einen sofort in Ferienstimmung versetzte, selbst wenn man – wie ich – noch nie im Ausland gewesen war. Der Überfall hatte dieses Flair allerdings empfindlich gestört.

Neben Frau Schmidts Laden gab es ein kleines Café, in dem man außer Kuchen auch Bratkartoffeln bekommen konnte. Da ging ich hin. Ich wollte den Nachbarn von dem Überfall berichten und gleichzeitig meinen knurrenden Magen beruhigen. Die Wirtin des Cafés und ihr Mann stürzten sofort herbei. Sie hatten nur den Krankenwagen gehört und wollten alles wissen. Ich erzählte so genau wie möglich, denn ich wusste, dass sie die ganze Straße informieren würden, und dass damit alle ab jetzt ein Auge auf verdächtige Gestalten hätten. Das war der beste Schutz für Frau Schmidt, besser als jeder Personenschutz der Polizei – von dem sowieso fraglich war, ob er weiterging, wenn sie aus dem Krankenhaus kam.

Wieder im Laden begann ich damit, alle Bücher nach Themenkreisen zu ordnen. Musste mich immer wieder zusammenreißen, nicht beim Lesen hängenzubleiben. Es gab so viele interessante Titel. Ich nahm mir vor, Frau Schmidt danach zu fragen, wenn sie zurück war. Die Stapel waren schon ziemlich groß, als mir ein schmales Büchlein auffiel, das ich an seinem Einband wiederzuerkennen glaubte. Es war in einer anderen Sprache geschrieben, einer slawischen vermutlich, und war mit Ornamenten verziert. Ich kam nicht darauf, wo ich es schon einmal gesehen hatte, und warum es mir so wichtig schien. Legte es beiseite, in der Hoffnung, dass es mir noch einfallen würde. Gegen Mitternacht war ich so weit fertig mit dem Sortieren, dass die Bücher nur noch in die Schränke eingeräumt werden mussten. Damit wollte ich warten, bis Frau Schmidt wieder da war. Ich zog meinen Fluganzug an – an so heißen Sommertagen trug ich ihn ausnahmsweise nicht unter meiner Straßenkleidung – packte Skateboard und Klamotten in den Rucksack, stellte das Handy leise und steckte das Büchlein ein. Es hatte etwas mit meiner Suche zu tun, so weit war ich mir unterdessen sicher. Frau Schmidt würde mir gewiss verzeihen.

Heute war ich noch vorsichtiger als sonst auf meinem Weg. Flog von Dach zu Dach, spähte immer wieder nach unten, ob sich irgendetwas bewegte. Doch alles war ruhig. Eine ganz normale Nacht, wenn nicht die Bedrohung dagewesen wäre. Als ich am Haus meiner Eltern ankam, sondierte ich die Umgebung ein letztes Mal, bevor ich das Dachfenster öffnete. Niemand zu sehen. Fast geräuschlos schlüpfte ich hinein und blieb erst einmal ganz oben auf der Leiter sitzen, um mir einen Überblick zu verschaffen. Obwohl ich im Schwebezustand nachts ziemlich gut sehen konnte, brauchte ich eine Taschenlampe. Das Fenster war zu klein, um genug Licht hereinzulassen. Ich hatte eine winzige Funzel eingesteckt, aus Angst, entdeckt zu werden. Die klemmte ich mir zwischen die Zähne, denn ich brauchte beide Hände. Der Dachboden war komplett eingestaubt und roch, wie er immer gerochen hatte. Es sah aus, als hätte er sich nicht verändert in den letzten Jahren. Doch, im vorderen Bereich um die Bodenluke herum waren ein paar Gegenstände dazugekommen, Klappe auf und hineingeschoben. Um die brauchte ich mich nicht zu kümmern. Sie hatten definitiv nichts mit dem Bücherkarton zu tun.

Ich schwebte in Richtung Boden, berührte ihn aber nicht, um so wenig wie möglich Spuren zu hinterlassen. Als ich die Schränke öffnete, sah ich mich alten Bekannten gegenüber. Sie weckten Erinnerungen an die Zeit, die ich hier verbracht hatte. Es kam mir vor, als wären die Sachen seit damals nicht mehr berührt worden. Für meine Suche teilte ich den Dachboden in vier Felder ein und durchkämmte eines nach dem anderen gründlich. Und fand nichts. Das konnte nicht sein.

Ich war mir sicher, dass meine Eltern diesen Karton nicht weggeworfen oder jemand anderem gegeben hatten. Meine Eltern warfen so gut wie nichts weg. Und sie kannten überhaupt niemanden, dem sie vertraut hätten. Wo also hatten sie ihn untergebracht? Der Keller war als Versteck ungeeignet, der Garten ebenso. In der Wohnung würden sie ihn nicht haben wollen. Ich ließ meinen Blick über den Dachboden schweifen und suchte nach Verstecken, auf die ich bis jetzt noch nicht gekommen war. Genau das war es! Das hätte mir auch früher einfallen können – sie hatten den Karton vor mir versteckt, vor niemand anderem! Dann konnte das Versteck nicht in der Höhe liegen. Also der Fußboden. Ich funzelte ihn Brett für Brett ab und wurde schließlich fündig. In einer Ecke waren die Bretter zwischen zwei ankommenden Dachsparren nachträglich mit Schrauben befestigt. Trotz der Staubschicht deutlich zu erkennen. Das musste das Versteck sein.

Schrauben, na klasse! Wo sollte ich jetzt einen Schraubenzieher herbekommen? Im Keller gab es ein bisschen Werkzeug, aber auch noch da runter jetzt? Es war schlimm genug, mich hier oben herumzutreiben, ohne dass meine Eltern davon wussten. Deswegen fühlte ich mich sowieso schon wie eine Einbrecherin. Durch die Wohnung in den Keller zu gelangen, machte es nicht besser. Ich konnte aber auch nicht erst morgen mit einem Schraubenzieher wiederkommen. Die Zeit drängte. Es blieb mir nichts anderes übrig, ich musste hinunter. Bei dem Gedanken fing mein Herz laut zu klopfen an. Ganz leise und vorsichtig öffnete ich die Bodenklappe und schwebte hinaus. Ich wusste, dass sie mich nicht hören würden, aber mein Vater schlief unruhig. Er konnte jeden Augenblick aus dem Schlafzimmer gewankt kommen und mich erwischen.

Deshalb beeilte ich mich. Der Weg war nicht das Problem, eher die Türen. Meine Eltern waren handwerklich nicht interessiert, deswegen quietschten und knarrten die Türen in diesem Haus, seit ich denken konnte. Ich hatte sie ab und zu geölt – gehalten hatte es nie lange. Zum Glück hatte ich noch nicht vergessen, welche Tür ich wie bewegen musste, damit sie möglichst geräuscharm aufging. Mein Training über so viele Jahre ließ sich fast mühelos abrufen. Im Keller, in der Werkzeugschublade mit dem Nötigsten, fand ich den Schraubenzieher, den ich brauchte. Ich huschte zurück nach oben und ging auf die Bretter los. Es dauerte nicht lange, bis ich das erste Brett gelöst hatte. Gespannt lugte ich in das Loch im Boden. Da stand er. Der Karton meiner Erinnerung.

Die Bücher waren gut zu erkennen. Leider schaffte ich es wegen der Dachneigung nicht, an sie heranzukommen. Es blieb mir nichts übrig, als noch ein weiteres Brett abzuschrauben. Dabei versuchte ich, die Staubschicht auf den Brettern und der Umgebung zu erhalten, soweit es ging. Wollte ich nur meine Eltern täuschen oder gar diese grässliche Kameradschaft? Wenn die hier wirklich auftauchen sollte, dann wäre das Versteck wahrscheinlich das wenigste, worum ich mir Sorgen machen müsste …

Vorsichtig nahm ich die Bücher aus dem Karton und packte sie in den Rucksack, ohne sie genauer anzusehen. Dazu hatte ich zu Hause noch Zeit genug. Ich hatte keine Ruhe mehr hier oben. Musste ja noch einmal hinunter in den Keller, um den Schraubenzieher zurückzubringen. Bei der schmalen Ausstattung mit Werkzeug würde das Fehlen dieses einen Schraubenziehers auffallen. Wahrscheinlich nicht sofort, so oft wurde die Schublade nicht benutzt. Doch ich konnte ihn auch nicht hier oben liegenlassen. Und mitnehmen wollte ich ihn schon gar nicht. Sehr umständliche Gedankengänge wegen eines Schraubenziehers – angesichts der drohenden Gefahr und meines Fundes, der vielleicht eines der Rätsel meines Lebens aufdecken würde. Doch so war es. Irgendwie hoffte ich, mit der Herstellung der gewohnten elterlichen Ordnung ihr Leben vor dem Hereinbrechen von unerwünschten Veränderungen bewahren zu können. Obwohl ich wusste, dass es sich anders verhielt, wünschte ich mir, sie hätten nichts mit der ganzen Geschichte zu tun. Sie kamen mir so hilflos vor in all ihrer Ängstlichkeit. In meiner gesamten Kindheit und Jugend hatte ich darunter gelitten, aber genau in diesem Augenblick jetzt konnte ich fühlen, dass sie die eigentlichen Leidtragenden waren.

Während ich die Bretter wieder montierte und den Schraubenzieher wegbrachte, stieg eine tiefe Traurigkeit in mir auf. Ich hatte das unbedingte Gefühl, dass es große Veränderungen in meinem Leben geben würde und dass meine Eltern nur irgendwo am Rande mit dabei waren, weil ihre Angst sie unbeweglich machte. Das schmerzte. Gleichzeitig wollte ich sie beschützen und ihnen ihr erstarrtes Leben lassen, damit sie nicht noch mehr Angst bekämen. Wie bescheuert widersprüchlich. Es bedrückte mich, dass ich keinen Ausweg sah.

Auf dem Heimweg musste ich mich wegen dieser Gefühle und der Neugier auf meine Beute sehr stark konzentrieren. Ich hatte das Bedürfnis, Luftlinie nach Hause zu schießen, und brauchte deshalb all meine Kraft, um mich an meine eigenen Regeln zu halten. Immer im Schatten der Dächer, alle Straßen vor dem nächsten Abschnitt absuchen. Ich wusste, dass das absolut notwendig war und war gleichzeitig entsetzlich ungeduldig. Die Abschnitte flog ich in Rekordzeit. Nachdem ich endlich die Balkontür hinter mir geschlossen hatte, streifte ich im Flug die Schuhe von den Füßen und landete polternd auf meinem Bett. Zerrte mir den Rucksack vom Rücken und leerte den gesamten Inhalt vor mir aus.