Lintu

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Der Kampf mit den Verbrechern verfolgte mich bis in meine Träume. Diesmal waren es viele. Sie waren mir alle unbekannt, man hatte mir nur gesagt, sie seien Verbrecher und verdienten Strafe. Ich war absolut skrupellos und blutrünstig und in meinem Zorn ihnen allen überlegen. Körperteile flogen durch die Gegend und sehr viel Blut spritzte. Ich war die personifizierte Raserei und ununterbrochen am schreien. Davon wachte ich dann auf. Meine Kehle war rau, als ob ich tatsächlich geschrien hätte. Erleichtert bestätigte ich mir selbst, dass es nur ein Traum gewesen war. So wollte ich mich im echten Leben niemals fühlen.

Der Aufenthalt im Bett hatte mich eher erschöpft als erfrischt. Es hieß ja, dass man über gewisse Dinge eine Nacht schlafen solle. Damit war bestimmt kein Abend wie mein gestriger gemeint. Ich war immer noch durcheinander. Das bisschen Schlaf und der Traum hatten es nicht besser gemacht.

Im Dämmerlicht des neuen Tages ließ ich den Blick über meine wenigen Möbel schweifen. Meine Wohnung war sehr übersichtlich, ein Zimmer, eine kleine Küche, ein Bad und ein winziger Balkon. Gute Start- und Landebahn. Die Einrichtung war eher zweckmäßig als gemütlich. Ich brauchte Bewegungsfreiheit und hatte fast keine Deko, damit ich beim Herumschweben nichts herunterwerfen konnte. Ich übte oft, mich zu beamen, wie ich es nannte. Dabei schwebte ich, so schnell es ging, von einer Stelle in der Wohnung zur anderen. Je nachdem, wie weit diese Stellen auseinanderlagen und ob noch eine Tür dazwischen war, nahm ich schon mal etwas mit. Damit das Gefühl aufkommen konnte, ich hätte mich dematerialisiert und wieder materialisiert, musste ich wirklich sehr schnell sein. Keine Ahnung, warum ich da so einen Ehrgeiz hatte. Konnte es ja doch niemandem zeigen. Aber ich übte es trotzdem. Es machte Spaß.

Langsam ließen die schrecklichen Bilder und der unsägliche Zorn aus meinem Traum nach. Ich wurde wieder normal. Machte mir einen Tee und zog frische Sachen an. Große Auswahl hatte ich nicht. Eng anliegende Hosen, T-Shirts und Pullover. Das weite Zeug knatterte zu laut beim Fliegen. Ich konnte dann nicht so gut hören, wurde aber von anderen gehört. Also hatte ich hauptsächlich enge Kleidung. In gedeckten Farben, am liebsten blau und grün. Passte ganz gut zu meinen Haaren und Augen. Augen blaugrüngrau, Haare irgendwo zwischen blond und hellbraun. Aschblond nannte meine Mutter die Farbe. Arschblond meine kleine Schwester. Grinsend. Gelb, orange, rot und andere leuchtende Farben gab es bei mir höchstens als Accessoires, die ich schnell ablegen konnte, nur für den Fall.

Wenn ich nachts flog, trug ich einen dunkelblauen Radrennanzug. Ein wunderbar windschlüpfriges Modell. Ich hatte noch einen silbergrauen für tagsüber. Den hatte ich in der Regel unter meinen Klamotten an – wenn es nicht gerade so heiß war wie in den letzten Tagen. Meine Schuhe waren immer flach, immer dunkel, immer biegsam. Mit steifen Sohlen in einem Baum herumturnen ging nun einmal nicht. Für den Winter hatte ich Hirschlederstiefel aufgetan, die waren zwar sündhaft teuer, aber unvergleichlich geschmeidig. Bei guter Pflege hielten sie ein paar Jahre, jetzt, wo ich nicht mehr größer wurde. Außerdem brauchte ich kein Auto, deshalb konnte ich mir alle paar Jahre diesen Luxus leisten.

Mein Magen knurrte. Bevor ich mich mit Julien traf, wollte ich noch bei Frau Schmidt vorbei, also steckte ich mir einen Müsliriegel für unterwegs ein. In dieser Hinsicht kam ich mir schon manchmal vor, als stamme ich von Vögeln ab. Von körnerfressenden allerdings. Mit allem, was körnig war, war ich sehr leicht zufriedenzustellen. Passte gut, Müsliriegel gab es an jedem Kiosk.

Ich klemmte das Skateboard unter den Arm, nahm wie üblich das Treppenhaus. Niemand zu hören, also sauste ich in einem Schwung nach unten. War fast angekommen, als mein Handy klingelte. Das konnte ich ja überhaupt nicht leiden. Meistens hatte ich es gar nicht an, damit es mich nicht verriet, wenn ich gerade in der Luft war. Oder in einer Situation wie jetzt zum Beispiel. Heute hatte ich es angeschaltet – wegen Julien und Frau Schmidt. Ich stoppte abrupt und lief den Rest der Treppe zu Fuß, während ich in meiner Tasche nach dem Handy kramte. Es war Rumina, eine Kommilitonin, mit der ich gemeinsam ein Referat schrieb. Sie klang aufgelöst.

„Elli, kannst du deinen Laptop mitbringen? Meiner hat gerade den Geist aufgegeben. Der ganze Text ist futsch!“ Sie redete noch weiter, doch ich hörte gar nicht hin. Mist, vor lauter Überfall hatte ich ganz vergessen, dass ich mit ihr verabredet war.

„Elli, du hast ihn doch gespeichert, oder? Auf deinem Laptop?“ Rumina klang besorgt.

„Eh, ja, klar, ich hatte nur vergessen, dass wir verabredet waren. Bei mir ist was passiert, ich kann heute nicht.“

„Du weißt aber schon, dass wir morgen dran sind mit dem Referat?“ Jetzt war sie aufgebracht.

„Rumina, sorry, ich hab echt grad andere Sorgen. Kannst du das Referat nicht allein halten? Sag einfach, ich bin krank geworden. Bitte! Ich bring dir auch meinen Laptop vorbei, aber ich kann wirklich nicht.“

Ich war schon wieder auf dem Weg nach oben. Sprang halb schwebend die Treppen hinauf, mit einem Ohr am Hörer und mit dem anderen bei den Umgebungsgeräuschen. Zum Glück war Rumina zurückhaltend genug, um nicht weiterzufragen. Wir kannten uns nicht besonders gut, hatten nur ein paar Seminare gemeinsam. Sie wirkte beleidigt, doch das konnte ich jetzt nicht ändern. Oben in der Wohnung stopfte ich den Laptop in die Tasche und sauste wieder los. Wenn ich noch bei Rumina vorbeiwollte, musste ich mich beeilen. Trotzdem hielt ich unten vor der Tür einen Augenblick inne. Ich hatte zu viel erlebt seit gestern, um gedankenlos in das Hamsterrad einzusteigen. Es war noch früh, die Luft war morgendlich frisch, der Himmel jetzt schon strahlend blau. Der Tag versprach, heiß zu werden. Ein Julitag, wie man ihn sich vorstellte. Ich nahm einen tiefen Atemzug voll Sommerluft. Die Vögel zwitscherten aus Leibeskräften.

Mein Hochhaus stand in einer Wohnblocksiedlung am Stadtrand. Nur wenige Meter vom Haus entfernt begann ein schmaler Streifen Wald. Weil die Bäume des Waldstreifens nicht bis hoch in den elften Stock ragten, waren die Vögel dort kaum zu hören, nur wenn sie alle zusammen loslegten oder ich im Schwebezustand war. Das war das Einzige, was ich da oben vermisste. Mein Balkon zeigte zum Wald hin. Wenn ich von hier aus losflog, musste ich nur ein paar Meter an der Fassade nach unten schweben und konnte dann die kurze Strecke bis zu den ersten Bäumen in gerader Linie sehr schnell zurücklegen.

Ich sprang auf das Skateboard und raste los. Das Board war mein Alltagsfahrzeug. Es hatte nur Alibifunktion, eigentlich schwebte ich in aufrechter Haltung und sorgte dafür, dass das rollende Board unter meinen Füßen blieb. In belebten Gegenden hatte ich mich sogar schon ohne Board so bewegt. Da die meisten Leute nicht genau guckten, fiel es gar nicht auf, und wenn einer mal hinsah, war ich meistens schon weg, bevor er sich die Frage stellte, ob er sich getäuscht hatte oder nicht. Ohnehin hatte ich immer unauffällige, möglichst kleine Boards, da sie nicht wirklich etwas leisten mussten, außer gut in meinen Rucksack zu passen, wenn ich flog. Gelegentlich hatte ich sogar eines zurücklassen müssen.

Bei den echten Skatern hatte ich mir die Tricks abgeguckt, die ich brauchte, um nicht aufzufallen. Leider konnte ich das Board genauso wenig unter den Füßen halten wie sie, wenn ich ungeschickt war. Verbinden konnte ich mich nur mit Lebewesen, nicht mit Material. Ich versuchte es immer wieder, doch bis jetzt war es mir noch nicht gelungen. Nur manchmal bildete ich mir ein, es für einen kurzen Augenblick geschafft zu haben. Dummerweise ließ es sich nie wiederholen.

Ich fuhr sehr gern sehr schnell. Wenn niemand auf der Straße war, gab ich richtig Gas. Musste mich nur zusammennehmen, wenn ich gesehen wurde. Allerdings hatte ich im Schwebezustand auch eine recht passable Reaktionszeit, abgesehen davon, dass meine Sinne dann besser funktionierten als sonst. Deshalb machte ich mir nie allzu viele Gedanken, wenn ich losraste. Bisher hatte es noch immer geklappt, rasch auf Normalgeschwindigkeit zu gehen und typische Skaterbewegungen zu machen, wenn jemand auftauchte.

Bei Rumina hielt ich mich nicht lange auf. Sie konnte nicht verstehen, warum ich sie im Stich ließ und ich wollte es nicht erklären. Wusste doch selbst nicht genau, was los war. Trotz des Umwegs war ich ziemlich schnell am Krankenhaus und hüpfte vom Board. Ließ es in meinen Arm springen, während ich weiterlief. Diesen Auftritt liebte ich, besonders, weil er in Skateraugen ungemein lässig aussah und ich manchmal meine Freude daran hatte, damit anzugeben – wenn ich mich sonst schon immer zurückhalten musste mit meinen eigentlichen Fähigkeiten.

Frau Schmidt war wach und sah mich unergründlich an, als ich zur Tür hereinkam. Sie wirkte zerbrechlich in ihrem Bett, obwohl sie sonst immer eine sehr starke Ausstrahlung hatte. So, als könnte ihr niemand etwas anhaben. So, als hätte sie schon alles erlebt, was es an Herausforderungen anzunehmen gab. Der Überfall schien sie wirklich mitgenommen zu haben. Zur Begrüßung fragte sie mit rauer Stimme: „Wo hast du deinen Kommissar gelassen? Will er nicht meine Aussage aufnehmen?“

„Dein Kommissar“, so nannte sie Julien. Ich hatte den Eindruck, dass sie Vertreter der Staatsgewalt im Allgemeinen nicht besonders mochte. Julien konnte sie allerdings gut leiden.

„Wir kommen nachher nochmal zusammen“, antwortete ich und schlug die Augen nieder, „habs nicht ausgehalten, so lange zu warten, ich musste einfach wissen, wie es Ihnen geht.“ Plötzlich war mir meine Anhänglichkeit peinlich.

Frau Schmidt bemerkte es. Sie hatte immer noch diesen seltsamen Blick. Sie winkte mich an ihr Bett, ich holte mir einen Stuhl und setzte mich. Griff nach ihrer Hand, die klein auf der schweren Krankenhausbettdecke lag. Im selben Augenblick durchfuhr mich ein Schock. Alarmiert ließ ich ihre Hand los und schaute sie an. Sie war genauso erschrocken wie ich, zog hastig die Bettdecke bis zum Hals und steckte beide Hände darunter. Sie murmelte so etwas wie: „Mir ist kalt.“

 

Es war nicht kalt. Natürlich nicht. Es war Hochsommer.

Unsere Hände hatten sich bei der kurzen Berührung sofort miteinander verbunden. Die Zellen. Das kannte ich bisher nur aus meiner Familie. Besser gesagt, hauptsächlich mit meiner Schwester. Bei meinen Eltern hatte ich es sehr früh gelassen, weil ich merkte, dass sie es nicht wollten. Und trotzdem war das hier noch anders gewesen. Bei meiner Schwester musste ich meine Aufmerksamkeit auf die Verbindung richten, dann strömte etwas aus meinen Zellen zu ihren hinüber und verband sich. Bei Frau Schmidt hatte ich gar nichts gemacht. Es war einfach passiert. War sie es gewesen, die den Impuls gegeben hatte? Aber dann müsste sie ja … Nein, sie war genauso schockiert wie ich, also war es keine Absicht von ihr gewesen. Dann müsste sie doch trotzdem – etwas mit mir gemeinsam haben. Sehr gemeinsam, so schnell, wie das gegangen war. Mein alter Verdacht flammte auf. Sie musste meine Großmutter sein! Wie oft hatte ich schon mit mir gerungen, sie zu fragen – und es immer gelassen. Auch jetzt rang ich, doch ich sah ihr an, dass sie nicht antworten würde. Wenn sie es war, dann musste sie ihre Gründe haben, es nicht auszusprechen.

Überhaupt, warum war mir das nicht schon früher aufgefallen? Ich kannte sie jetzt schon so viele Jahre, da hätte es doch schon früher mal passieren müssen. Ich versuchte mich zu erinnern, wann wir uns das letzte Mal berührt hatten. Fand aber nichts. Gar nichts, keine einzige Berührung. Das war ja seltsam – sollten wir uns wirklich noch niemals die Hand gegeben haben, noch nie zufällig aneinander gestoßen sein? Durch die ganze Verbindungsgeschichte war ich mit allen Menschen sehr vorsichtig. Ich vermied körperlichen Kontakt, wo immer es sich machen ließ, um nicht in die Gefahr zu kommen, mich zu verraten. Einer der Gründe, weshalb ich mich bei Frau Schmidt so wohl fühlte, war, dass sie diese spezielle Unnahbarkeit zu achten schien. Bei ihr hatte ich nie das Gefühl, sie könnte meine Grenze überschreiten. Sollte das etwa gar nicht nur von mir ausgegangen sein? Sollte sie es selbst so gewollt haben?

„Es geht mir nicht gut“, unterbrach sie meine Grübelei und beantwortete damit meine gar nicht wirklich ausgesprochene Frage, „ich habe Angst.“ Ihr Tonfall war etwas milder als vorhin und sehr klar.

Das beunruhigte mich. So kannte ich sie, ich konnte mir also nicht einreden, sie würde das nur sagen, weil sie noch mitgenommen war von dem Überfall. Etwas begann mir die Kehle zuzuschnüren. „Wovor?“, krächzte ich.

„Sie werden wiederkommen“, sagte sie leise.

„Aber sie sind in U-Haft!“ Mir fiel ein, dass ich ihr noch gar nichts von unserer Verfolgungsjagd und der Verhaftung berichtet hatte. „Wir haben sie geschnappt gestern Nacht.“

„Nicht diese beiden – andere …“ Ihre Stimme ging in ein Flüstern über. „Ich kenne die Organisation, die sie geschickt hat. Die Kameradschaft. Sie werden mich umbringen. Und du bist auch in Gefahr, Elli. In großer Gefahr.“ Ihre dunkelblauen Augen waren jetzt fast schwarz.

Ich starrte sie an, unfähig, aus dem Wust an Fragen in meinem Kopf die richtige herauszuziehen. „Aber warum?“, brachte ich schließlich hervor, „was wollen die von Ihnen? Und von mir?“

„Sie suchen etwas“, flüsterte Frau Schmidt. „Dich kennen sie noch nicht, es sei denn, du hättest gestern ihre Aufmerksamkeit erregt. Aber sie könnten auf deine Spur kommen. Und dann bist du in großer Gefahr.“

In meinem Brustkorb krampfte sich alles zusammen, mein Zwerchfell begann wild zu flattern. Ich zog den Kopf ein. „Sie sind ziemlich aufmerksam geworden auf mich. Ich habe bei der Verfolgung mit ihnen gekämpft“, gestand ich. Den Rest konnte ich ihr nicht erzählen. Obwohl ich gewollt hätte. Verdammt, warum fragte ich nicht einfach? Aber wenn sie selbst in dieser Situation nichts sagte …

„Was suchen sie?“, fragte ich leise. Wir hätten gar nicht flüstern müssen, die beiden Betten in Frau Schmidts Zimmer waren leer. Trotzdem hatte ich das Bedürfnis danach, so wie sie anscheinend auch.

Sie sah mir in die Augen. „Ich kann nicht darüber sprechen“, antwortete sie, „aber du musst es herausfinden! Es ist deine einzige Chance, ihnen zu entkommen!“

Nun verstand ich gar nichts mehr. Was sollte das denn heißen: Ich weiß es, sags dir aber nicht. Finde es heraus, sonst bist du geliefert. Ich hatte gedacht, sie sei meine Freundin. Noch besser, sogar meine Großmutter. Ich war noch nie böse auf Frau Schmidt gewesen, aber jetzt fühlte ich einen ziemlichen Ärger aufsteigen, vermischt mit Enttäuschung und Verzweiflung. Weil ich nichts kapierte – und sie es durch ihre merkwürdigen, bedrohlichen Äußerungen noch schlimmer machte.

„Erinnere dich“, unterbrach sie mich wieder, „erinnere dich an ganz früher, als du noch klein warst …“

Also doch!

„… dann wirst du alles herausfinden. Aber du musst dich beeilen!“

Wütend und schmerzerfüllt schaute ich sie an. Was war das hier für ein bescheuertes Verwirrspiel? Sie konnte nicht meine Großmutter sein. Meine Großmutter hätte so etwas nie mit mir gemacht! Aber meine Frau Schmidt auch nicht, jedenfalls nicht die Frau Schmidt, die ich kannte. Ich starrte sie an, wie sie da in diesem Krankenhausbett lag, die Decke bis zum Hals hochgezogen, zerbrechlich, mit immer noch unergründlichem Blick, angstvoll und entschlossen gleichzeitig, fremd. Und doch hatte es die Verbindung unserer Zellen gegeben. Mir wurde plötzlich klar, dass ich sie wirklich nicht kannte. Dass ich so gut wie nichts über sie wusste. Dass es immer nur um ihren Laden oder um mich ging, wenn ich bei ihr war. Niemals um sie. Es war mir bisher nicht aufgefallen, weil sie mir so vertraut erschien. Bis jetzt. Ich musste sofort aufhören, irgendwelche emotionalen Ansprüche an sie zu stellen, die nur in meinen Fantasien über sie begründet waren. Musste sie ganz neu betrachten. Musste ihr zuhören und versuchen zu verstehen, was ich tun konnte. Wie meine Rolle aussah. Als ich so weit gekommen war, fühlte ich mich besser. Ich nickte. „Okay. Ich gehe jetzt erst mal zu Julien. Wenn ich nachher mit ihm wiederkomme, habe ich bestimmt noch ein paar Fragen.“

„Ich weiß nicht, ob ich sie beantworten kann“, erwiderte sie leise.

Eigentlich musste ich mich beeilen, um noch rechtzeitig im Café zu sein. Dennoch lief ich die Treppenstufen zu Fuß nach unten, auch wenn weit und breit niemand zu sehen war. Kein Risiko jetzt. Ich hatte gerade keine Kapazität mehr frei. Musste versuchen, einen Überblick über die einzelnen Kriegsschauplätze in mir zu bekommen. Und die Kontrolle wiederzugewinnen. Mein Verstand arbeitete fieberhaft, aber nicht sehr effizient. Er wiederholte jedes Wort, das Frau Schmidt heute gesagt hatte, wieder und wieder, in der Hoffnung auf einen Geistesblitz. Mein Gefühlshaushalt war mit einer Versammlung durcheinanderschreiender Wichtigtuer zu vergleichen. Eine Emotion wollte ernster genommen werden als die nächste. Wut, Verzweiflung, Angst, Enttäuschung, Aufregung, Neugier, Trotz – zusammen veranstalteten sie einen Tumult, der es mir schwer machte, mich zu beruhigen. Mein Herz klopfte sehr laut und schnell, mein Magen flatterte, in meinen Ohren fiepte es, meine Zellen vibrierten, als stünde ich unter Strom.

Gut, soweit die Bestandsaufnahme. Jetzt musste ich runterkommen, und zwar ganz fix. Das Café war fast in der Innenstadt, also brauchte ich Aufmerksamkeit für den Verkehr. Und dann lag ja das Gespräch mit Julien noch vor mir. Ich lachte nervös. Heute Morgen hatte ich es noch als mein wichtigstes Thema betrachtet, Julien zu erklären, was es mit mir auf sich hatte – jedenfalls soweit, wie ich es selber wusste – und jetzt erschien es mir geradezu nebensächlich, gegenüber dem, was ich von Frau Schmidt erfahren hatte. Bei allen Zweifeln, die in mir aufstiegen, musste ich erst einmal davon ausgehen, dass das, was sie gesagt hatte, einen Sinn ergab – der mich zutiefst betraf.

Es kreiselte schon wieder in mir. Atmen Elli, atmen, Körper empfinden, konzentriere dich auf das Einfachste, was du wahrnehmen kannst! Die letzten Stufen bis zur Tür rannte ich trotzdem, blieb erst stehen, als ich an der frischen Luft war. Nahm einen tiefen Atemzug. Eine Runde Fliegen hätte jetzt gutgetan, um einen klaren Kopf zu bekommen. Doch es musste auch so gehen.

Ich setzte mich auf eine Bank, die vor dem Eingang des Krankenhauses stand, schloss die Augen und konzentrierte mich noch einmal auf den Atem und meinen Körper. Zwang mich, nichts weiter zu tun. Nach einer halben Ewigkeit wurde ich ruhiger. Konnte wieder denken, nachdenken über das, was Frau Schmidt gesagt hatte.

Der Schlüssel lag also in meiner Kindheit. An diese Zeit erinnerte ich mich nicht besonders gern. An die Ablehnung und den gequälten Ausdruck im Blick meines Vaters, sobald meine Fähigkeiten im Spiel waren, an die Strenge meiner Mutter, die alles tat, um das Leid meines Vater zu mildern, an den Zorn meiner kleinen Schwester, weil sie fühlte, dass ich ihr etwas Wesentliches verschwieg.

Ich machte mich auf den Weg. Julien würde mich mit Sicherheit nach meiner Kindheit ausfragen. Vielleicht würde mir da so ganz nebenbei der richtige Gedanke kommen. Eigentlich sollte ich darauf vertrauen, so passierte es doch meistens. Bis ich beim Café ankam, dachte ich einfach nicht mehr nach. Glücklicherweise hatte Julien einen Tisch im Vorgarten ergattert. Er schaute in meine Richtung. Ich beschloss, ihm meinen neuesten Trick vorzuführen, den ich vor kurzem einstudiert hatte. Gab noch mal richtig Gas, raste auf ihn zu, sprang kurz vor ihm vorn über das Board, gab dem Board dabei mit beiden Füßen einen Drall, so dass es in einer Schraube von hinten über meinen Kopf flog und dann in meine Arme fiel. Ein normaler Skater würde viel üben müssen, bis er das hinbekam, ohne sich zu überschlagen. Lässig setzte ich mich ihm gegenüber an den Tisch und verzog keine Miene. Julien lächelte und nickte anerkennend. „Sieht so aus, als würde es dir wieder gut gehen, Elli Pirelli.“

So nannte er mich, wenn er mich necken wollte. Heute jedoch klang sein Tonfall nicht neckend. Ich musterte ihn. Etwas Neues lag in seinem Blick. Anerkennung, sogar Respekt und ein Hauch Bewunderung. Wie hatte der denn seine Nacht verbracht? Gestern Abend hatte er mich noch angebrüllt. Das war ich zwar nicht gewohnt von ihm, aber ich konnte es mir immerhin erklären. Dieser Blick jetzt? Wir schwiegen beide. Dann setzten wir gleichzeitig zum Reden an.

„Du zuerst“, sagte er, „ich zuerst“, sagte ich. Wir prusteten los. Etwas von der Spannung baute sich ab, die zwischen uns in der Luft lag.

„Das war nur Show eben“, gab ich zu, „nach allem, was passiert ist, brauchte ich das gerade.“

Julien sah mich fragend an.

„Ich war schon bei Frau Schmidt, im Krankenhaus“, fuhr ich fort, „sie sah gar nicht gut aus. Sie hat Angst. Sie sagte, sie kennt die Organisation, die die Typen geschickt hat, irgendeine Kameradschaft, und sie sagte, die würden wiederkommen und sie umbringen.“

In diesem Moment erst, als ich es Julien gegenüber aussprach, wurde mir bewusst, was sie da gesagt hatte. Was es bedeutete. Ich hatte das vorher gar nicht richtig kapiert. War so beschäftigt gewesen damit, beleidigt zu sein – weil sie nicht zugab, dass sie meine Großmutter war, und weil sie mir nichts erklärte, außer, ich sei in Gefahr – dass ich die Tragweite ihrer Aussage überhaupt nicht begriffen hatte. Dafür traf sie mich jetzt mit ihrer ganzen Wucht. Es haute mich in meinem Stuhl nach hinten. Stumm starrte ich Julien an.

„Ich habe den Burschen in der Kartei gefunden“, sagte er, ohne auf mein Entsetzen einzugehen. „Hab den Namen gelesen und wusste es wieder. Bertram Kurz. Als ich noch in der Polizeischule war, wurden wir bei einer rechtsextremen Demo eingesetzt. Er war einer der Demonstranten, hat plötzlich eine Waffe gezogen und auf den Kollegen geschossen, der neben mir stand. Er ist erst seit kurzem raus aus dem Knast.“

Ich schluckte. „Wurde dein Kollege schlimm verletzt?“

„Er wurde gar nicht verletzt. Einer, der neben Kurz stand, sah, was er vorhatte und hat ihm den Arm nach oben geschlagen, gerade als er abdrückte. Kurz wurde dann sofort von uns überwältigt und festgenommen.“

„Warum habe ich davon nichts in den Nachrichten gehört? Ich kann mich gar nicht erinnern.“

„Naja, du warst noch ziemlich klein, als das passiert ist. Es war kurz nach der Wende. Niemand wollte negative Schlagzeilen zu dem Zeitpunkt. Die Demo hat immerhin in den neuen Bundesländern stattgefunden. Damals wollte noch keiner wissen, dass es dort Rechtsextremismus gibt. Alles musste demokratisch und weltoffen sein. Es gab eine kurze Nachricht im Radio, aber schon abends in der Tagesschau tauchte sie nicht mehr auf.“

 

So war das also. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass unsere Nachrichten uns mehr verschwiegen als berichteten. Aber wenn man es dann hörte … Und nun war dieser Kurz wahrscheinlich ein Gesandter der sogenannten Kameradschaft. Dann konnte man ja fast davon ausgehen, dass diese Kameradschaft rechtsextrem war. Ich hoffte, Frau Schmidt würde etwas gesprächiger sein, wenn Julien nachher eine offizielle Zeugenaussage aufnahm. Denn wie sollten wir sie sonst schützen?

„Kannst du Frau Schmidt nicht bewachen lassen?“, fragte ich. „Die könnten einfach in ihr Krankenzimmer spazieren und sie ermorden …“ Der Gedanke zerrte an meinen ohnehin überspannten Nerven.

„Jetzt beruhige dich mal“, antwortete Julien, „die Kerle wissen gar nicht, wo sie ist. Wenn die tatsächlich wiederkommen, dann kommen sie in den Laden. Im Augenblick können wir erst einmal die Streife verstärken, die sollen öfter fahren und den Laden beobachten und wir können versuchen, etwas über diese Kameradschaft herauszufinden.“ Er telefonierte direkt mit dem Kommissariat.

Er hatte recht, trotzdem blieb ich unruhig. Am liebsten wäre ich gleich wieder aufgebrochen, Julien zwang mich aber, etwas zu bestellen. Ich nahm das kleinste Frühstück, das sie hatten. Während wir aßen, merkte ich, dass ich doch Hunger hatte. Julien versuchte derweilen, mir Informationen über mich zu entlocken. Genau dieses Thema wollte ich jedoch nicht in der Öffentlichkeit mit ihm besprechen und so verabredeten wir einen Waldspaziergang nach dem Besuch bei Frau Schmidt. Als wir endlich in Juliens Wagen stiegen, klingelte sein Handy. Infos über die Kameradschaft.

„Eine extrem rechte Organisation, deren Mitglieder streng geheim operierten“, berichtete er, „die waren im zweiten Weltkrieg für Hitler aktiv und sind danach nach Spanien zu Franco gegangen. Ihr Spezialgebiet war die Verfolgung und Ermordung von Regimegegnern, auch über die Grenzen hinaus.“

„Und was machen sie jetzt?“, wollte ich wissen.

„Keiner weiß Genaues nicht“, sagte Julien. „In den letzten zwanzig Jahren sind keine Straftaten bekannt, die mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Es war bis jetzt noch nicht einmal klar, ob es die Kameradschaft überhaupt noch gibt.“

Erstaunlich. Heutzutage wurde doch alles überwacht, wie konnte da so eine Gruppe unbehelligt ihr Unwesen treiben? Würde mich nicht wundern, wenn Julien eine Menge Hinweise fände, jetzt, wo er wusste, wonach er suchen musste.

Wir hielten vor dem Krankenhaus. Ich war gespannt, was Frau Schmidt erzählen würde – wenn sie bereit war, etwas zu erzählen. Sie saß im Bett und wirkte gefasster als heute früh. Bereitwillig beantwortete sie alle Fragen, die Julien ihr stellte und schilderte dann, was gestern passiert war. Frau Schmidt wohnte direkt über dem Laden. Am späten Abend hatte sie unten Geräusche gehört. Sie war nachschauen gegangen und fand die Tür des Lagers aufgebrochen.

„Ich wollte mich gerade wieder nach oben schleichen, um die Polizei zu alarmieren, da hat mich einer der beiden Männer gesehen, hat mich fest am Arm gepackt und ins Lager gezogen. Er hat mir einen Kinnhaken verpasst. Ich bin gegen die Regale gefallen und dann zu Boden gegangen. Dort bin ich liegen geblieben und habe mich ohnmächtig gestellt. Ich wollte nicht noch weiter verprügelt werden. Ich hatte große Angst.“ Bei der Erinnerung schauderte sie kurz. „Ich habe versucht, durch die Wimpern zu sehen, was sie tun. Sie haben alles aus den Schränken und Regalen gerissen und auf den Boden geworfen, es sah so aus, als suchten sie etwas. Ich habe überlegt, was es wohl sein könnte und dann kam ich darauf, dass nur die Kameradschaft sie geschickt haben konnte, denn ich wüsste nicht, für wen es sonst etwas Interessantes bei mir gäbe. Anscheinend fanden sie nicht, wonach sie suchten. Der, der mich niedergeschlagen hatte, kam zu mir, packte mich vorn am Kragen und schüttelte mich, bis ich vor Schreck die Augen öffnete. Er schrie mich an, wo ich es versteckt hätte, und schlug mir ins Gesicht. Ich konnte nicht sprechen vor Angst. Er schüttelte mich weiter, bis plötzlich von draußen das Klappern von Ellis Skateboard zu hören war. Offenbar wussten die beiden Männer die Geräusche nicht einzuordnen und wurden nervös. Der, der mich gepackt hatte, zischte mich an: ‚Wir kommen wieder‘, und stieß mich zurück auf den Boden. Dann rannten sie hinaus. Kurz darauf erschien Elli.“

Also hatte mein Skateboard die Typen verjagt. Nicht schlecht. Im Hof vor Frau Schmidts Lager war Kopfsteinpflaster verlegt, vor ungefähr hundertfünfzig Jahren oder so. Es sah sehr romantisch aus, aber wenn ich mit dem Skateboard angebraust kam, tat es immer ordentliche Schläge. Oft genug hatte es mir das Board schon unter den Füßen weggehauen, weil das Pflaster wirklich buckelig war. Es hatte doch eben alles sein Gutes.

„Wissen Sie, was die Männer gesucht haben?“, erkundigte sich Julien.

Frau Schmidt zuckte die Achseln. Sie schüttelte nicht den Kopf, das registrierte ich genau.

„Was wissen Sie über die Kameradschaft?“, fragte Julien.

Frau Schmidt rückte sich im Bett zurecht und antwortete dann: „Die Kameradschaft hat zur Hitlerzeit Juden, fahrendes und fl... fahrendes Volk verfolgt und ermordet. Auch Leute, die politisch aktiv waren. Sie nannten uns alle Regimegegner.“

„Aber zur Hitlerzeit waren Sie noch ein Kind“, bemerkte Julien.

„Ich war acht, als er an die Macht kam, und vierzehn, als er den Krieg erklärte. Da waren wir schon in Spanien. Dort lernte ich Simón kennen, meinen späteren Mann. Wir kämpften im Untergrund gegen Hitler und gegen Franco. Nach Kriegsende, als Deutschland von den Alliierten überwacht wurde, konnte die Kameradschaft nicht mehr ungestört operieren und suchte bei Franco Unterschlupf. Als Gegenleistung jagte sie Regimegegner für ihn und folterte oder ermordete sie. Wir standen auf ihrer Liste.“

„Und wie ging es weiter?“

„Als wir von der Liste erfuhren, brachten wir unseren kleinen Sohn in Sicherheit – weit weg, zu Freunden nach Kanada. Wir kehrten zurück und setzten den Kampf fort. Ein Jahr später hörten wir, dass sich in Südamerika eine Gruppe bildete, die so leben wollte, wie wir uns das vorstellten. Wir wollten weg aus Spanien, weg von diesem Diktator, den wir doch nicht stürzen konnten. Wir wollten mit unserem Sohn ein neues Leben beginnen und holten ihn in Kanada ab. Auf dem Rückweg fielen wir der Kameradschaft in die Hände.“ Frau Schmidt machte eine Pause und starrte ins Leere. Schmerz breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie atmete schwer, bevor sie fortfuhr: „Sie ermordeten Simón und nahmen meinen Sohn und mich gefangen. Mehrere Wochen später konnten wir fliehen und kamen über Umwege nach Deutschland. Ich träumte weiter davon, nach Südamerika zu gehen, doch mein Sohn sträubte sich mit aller Kraft. Er war traumatisiert und wollte nichts mehr mit unserer Vergangenheit zu tun haben. So sind wir hier geblieben.“

„Und die Kameradschaft?“

„Ich weiß es nicht. Ich hatte eine gute Tarnung und war immer sehr vorsichtig. Bis gestern hatte ich nichts mehr von ihnen gehört, obwohl ich immer damit gerechnet habe. Das sind Bluthunde. Die geben nicht auf, bis man tot ist.“