Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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Herrschaftskonflikte

Ein weiterer maßgeblicher Faktor im Hintergrund der Bekehrungsgeschichte waren die Auseinandersetzungen zwischen dem karolingischen Königtum und den Bayernherzögen, die im Konflikt zwischen Karl dem Großen und Tassilo III. ihren Höhepunkt fanden. 788, also 16 Jahre nach dem letzten großen militärischen Erfolg des Bayernherzogs in Karantanien (772), wurde er durch den König abgesetzt. Die bayerischen Selbständigkeitsbestrebungen wurden durch die Unterwerfung des Herzogtums unter die fränkische Oberhoheit vollständig unterbunden. Dem endgültigen karolingischen Sieg über die Awaren kurz darauf folgte auch eine administrative Neuordnung des Raumes, unter anderem mit der Einrichtung des bayerischen Ostlandes, das in der Conversio 70 Jahre später erstmals als plaga orientalis bezeichnet [<<94] wird (c. 10). Für die neue Grenzorganisation waren zunächst königliche Beauftragte zuständig. Ab der Mitte des 9. Jahrhunderts wurden hier Mitglieder der königlichen Familie eingesetzt, die den Raum zunehmend für ihre abermals recht eigenständige Herrschaftsbildung im Grenzgebiet nutzten. 822, in demselben Jahr, in dem die Annales regni Francorum zum letzten Mal die Awaren erwähnen, werden zum ersten Mal die Mährer genannt. Eine Generation später (858) kämpfte Karlmann, der Sohn Ludwigs des Deutschen, gegen den bereits mächtigen Mährerfürsten Rastislav. Die jahrelangen Auseinandersetzungen, Friedensschlüsse und Allianzen, die sich in diesem und dem folgenden Jahrzehnt im Grenzland zu Mähren und zu Pannonien abspielten und in deren Rahmen innerkarolingische Herrschaftskonflikte wie Parteikämpfe zwischen den jeweils involvierten Adelsgruppen, also den Großen des Landes, ausgetragen wurden, bilden den Hintergrund für die weiteren Missionsbestrebungen sowohl in Mähren als auch in Pannonien.

Urkundliche Überlieferung

Eine Konsequenz solcher Konflikte ist die vergleichsweise gute Überlieferungslage. Dass man in Zeiten politischer Instabilität Maßnahmen zur Sicherung seiner „alten Rechte“ ergriff, war im Bayern des 9. Jahrhunderts nichts Neues. Die wichtigsten Urkundensammlungen und -bearbeitungen Salzburgs waren im Sinn von Besitztitelverzeichnissen bereits in jenen Jahren angelegt worden, als sich Tassilo III. Karl dem Großen unterwerfen musste: die Notitia Arnonis entstanden 788/90, die Breves Notitiae 798/811; und auch andere geistliche Institutionen wie Niederaltaich, Kremsmünster oder Passau ließen sich bestehende Rechte bestätigen. Damals begann man in bayerischen Bistümern und Klöstern auch eine neue Form von Urkundensammlungen, Traditionscodices, zu führen, die der besseren Verwaltung und damit größeren Rechtssicherheit dienten (→ Kap. 3.2.1).

Salzburgs Argumente

Ähnlich gestiegene Überlieferungschancen bewirkte die Eskalation der Missionskonkurrenz bei den Slawen vor dem skizzierten politischen Hintergrund: Die Mährerfürsten Rastislav und sein Neffe Zwentibald I. wandten sich nämlich, nachdem sie es vorher erfolglos in Rom versucht hatten, im Jahr 862 in einem Brief an den byzantinischen Kaiser Michael III. mit der Bitte um einen Bischof und Lehrer, „der uns in unserer Sprache den wahren christlichen Glauben erklären könne“. Die zahlreichen italienischen, griechischen und bayerischen [<<95] Lehrer, die bei ihnen unterschiedliche Lehren verträten, verwirrten das Volk, heißt es in den Lebensbeschreibungen von Konstantin/Kyrill und Method, die daraufhin zunächst in Mähren missionierten. Ab 869 war Methodios auch als päpstlicher Legat und Erzbischof in Pannonien tätig (→ Kap. 2.3.2). Während die slawischen Fürsten darin die Möglichkeit einer pannonischen Kirche mit der alten Metropole Sirmium unter Einschluss von Mähren und unabhängig von Salzburg und der bayerischen Kirche erkannten, argumentierte Salzburg im Sinn einer ununterbrochenen Missionskontinuität von Bayern über Karantanien nach Pannonien.

Deshalb ist in der Fassung B der Rupert-Vita, die als erstes Kapitel die Conversio Bagoariorum et Carantanorum eröffnet, von einer Bekehrung der bayerischen Herzöge, Großen und des Volks durch den Hl. Rupert die Rede, wohingegen die Bayern in der älteren Fassung A von 791/3 bei der Ankunft des Heiligen bereits Christen waren. Der zweite (cc. 3–10) und dritte Teil (cc. 11–14) widmen sich der Slawenmission, wobei die Ansprüche auf Pannonien dadurch legitimiert werden, dass dieser Teil des slawischen Gebiets gleichsam als erweitertes Karantanien dargestellt wird. Die Denkschrift setzt also dort an, wo die Belege Salzburgs für sein „altes Recht“ am schwächsten sind. Während für die Salzburger Zuständigkeit in Karantanien mehrere päpstliche Bestätigungen vorlagen, besaß weder das Erzbistum selbst noch eines der Salzburger Bistümer entsprechende Rechte für Pannonien.

Conversio Bagoariorum et Carantanorum. Das Weißbuch der Salzburger Kirche über die erfolgreiche Mission in Karantanien und Pannonien, hg., übers., komm. und um die Epistola Theotmari wie um gesammelte Schriften zum Thema ergänzt von Herwig Wolfram (Ljubljana/Klagenfurt 32013).

Seit der Zeit nämlich, da aufgrund der Vergabe und auf Befehl des Herrn Kaisers Karl das (christliche) Volk des östlichen Pannoniens von den Salzburger Bischöfen regiert zu werden begann, bis zur Gegenwart sind es 75 Jahre, daß kein Bischof, der woandersher kam, in jenem Gebiet die kirchliche Gewalt besaß außer die Salzburger Leiter. Auch kein Priester, der von woandersher kam, wagte dort länger als drei Monate sein Amt auszuüben, bevor er dem Bischof nicht sein Entlaßschreiben vorgelegt hatte. Das wurde dort nämlich beachtet, bis die neue Lehre des Philosophen Methodius aufkam. (c. 14) [<<96]

Mit diesen Worten schließt die Denkschrift, die vermutlich an Ludwig den Deutschen anlässlich einer Synode in Regensburg (870) gerichtet war, bei der sich Methodios gegenüber dem ostfränkischen König und den bayerischen Bischöfen verantworten musste. Ihr Autor, ein Salzburger Kleriker, vielleicht sogar Erzbischof Adalwin († 873) selbst, konnte auf eine Fülle von Quellen zurückgreifen, um seine recht sachlich wirkende Argumentation zu fundieren. Zwar verwendete er nach neuestem Forschungsstand die Salzburger Urkundenverzeichnisse (Notitia Arnonis und Breves Notitiae) nicht, dafür aber unter anderem Salzburger Urkunden, verschiedene Annalenwerke, den Liber confraternitatum von 784, sowie eine Bischofsliste von 854/59 aus den Carmina Salisburgensia, der berühmten Salzburger Gedichtesammlung.

Wessen Wahrheit?

Ein guter Teil dieser Überlieferung stand dem Autor der Conversio nicht zuletzt deshalb zur Verfügung, weil die bayerische Geschichte und jene der Verbreitung des Christentums eben nicht bruchlos verlaufen waren, sondern in zahlreichen geistlichen, politischen und auch gewaltsamen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Akteure und Institutionen. Solche Konflikte und die dadurch entstehende Rechtsunsicherheit erhöhten Überlieferungschancen gerade für Material, das in den letztlich langlebigen kirchlichen Institutionen entstanden ist und dort zu Belegzwecken besonders sorgfältig aufbewahrt wurde. Ein Teil des Quellenwerts der Conversio erwächst daher aus der Fülle des Materials, auf das ihr Autor zurückgreifen konnte. Gleichzeitig gibt es zu vielem, was die Denkschrift behauptet, aufgrund der skizzierten Umstände unüblich viele Parallelüberlieferungen. Das bedeutet, dass man dem Autor bei der Konstruktion seines Arguments gleichsam auf die Finger sehen und in einer Reihe von Fällen auch nachweisen kann, was der Text „gegen besseres Wissen“ verschweigt. Herwig Wolfram hat in mehreren detaillierten Analysen (zuletzt 2013) gezeigt, wo und wie die Salzburger Denkschrift maßgebliche Informationen zur bayerischen Missionsgeschichte bei den Slawen weglässt, um eine ganz bestimmte, den Salzburger Intentionen entsprechende Version dieser Geschichte zu erzählen.

Bewegliche Texte

Wie wenig sich diese einzigartige Quelle daher in abgegrenzten Gattungen kategorisieren lässt, macht ihre Bezeichnung als genus mixtum durch die neuere Forschung deutlich, als ein „gemischtes“, ein uneindeutiges Genre. Die Notwendigkeit solcher offenen Kategorien [<<97] wird – ähnlich wie bei der Überlieferungsgeschichte der Vita S. Severini – durch die Geschichte der Rezeption der Conversio noch unterstrichen. Die insgesamt zehn erhaltenen Handschriften sind fast ausschließlich um 1200 entstanden oder überarbeitet worden; fast alle sind in Sammelhandschriften in Klöstern der Region überliefert, die eine enge Verbindung zu Salzburg aufwiesen. Auch hier bedingten aktuelle Interessen an der Vergangenheit – von der erneuten Notwendigkeit der Besitzsicherung angesichts der Rezeption des gelehrten Rechts im Alpenraum über die Auffindung des Grabes Bischof Virgils (1183) und seine Kanonisation (1233) bis zum Beginn des Salzburger Dombaus durch Erzbischof Konrad III. († 1200) – die ré-écriture des Textes und ließen ihn so lebendig bleiben.

2.3.2 Integration durch Schriftlichkeit

Christianisierung der Slawen

Die Christianisierung der slawischen Zuwanderer, allen voran des mährischen Reichs im pannonischen Becken und der aus Proto-Bulgaren, Slawen und altbalkanischer Bevölkerung hervorgegangenen Bulgaren, gehört zu den Vorgängen mit den weitestreichenden Konsequenzen in der frühmittelalterlichen Geschichte Europas überhaupt. Erstmals trat mit den Bulgaren eines der militärisch mächtigen Steppenvölker zum Glauben der alten römisch geprägten Welt über und gliederte sich damit in das alte mittelmeerische Machtsystem ein. Obwohl die Bulgaren heute der orthodoxen Welt zugehören, ist ihr Übertritt zum Christentum, ähnlich wie derjenige der Serben, keinesfalls von Anfang an eine eindeutige Bewegung hin zum Christentum byzantinischer Prägung gewesen. Vielmehr schwankten Bulgaren und Serben bis in das 13. Jahrhundert hinein zwischen den beiden kirchlichen Zentren Rom und Konstantinopel, und ihre klare Orientierung nach Osten erfolgte erst im Spätmittelalter.

 

Die Christianisierung der Bulgaren ist nur vor dem Hintergrund der seit längerem schwelenden Konflikte zwischen dem Papsttum und dem Patriarchat von Konstantinopel zu verstehen. Sie hatten im Jahr 732 einen Höhepunkt erreicht, als der byzantinische Kaiser die Kirchenprovinz Illyricum, also weite Teile des heutigen Balkans (die Diözesen Macedonia und Dacia), der Gerichtsbarkeit des Papstes entzog und dem von ihm kontrollierten Patriarchen von Konstantinopel [<<98] unterstellte. Rom erkannte diesen Schritt nicht an. Als die bulgarische Elite zum Christentum übertrat, tat sie diesen Schritt teilweise auf einem Territorium, dessen Jurisdiktion zwischen Rom und Konstantinopel kirchenrechtlich umstritten und dessen politische Ausrichtung zwischen Byzanz und dem ostfränkischen Reich kontrovers war.

Konstantin/Kyrill und Method in Mähren

Die Missionierung der Bulgaren stellte also auch ein Ringen um Einfluss auf dem Balkan dar, wo sich Ost- und Westreich, Ost- und Westkirche, letztere zudem aufgeteilt in die konkurrierenden Zentren Rom, Aquileia, Salzburg und Passau, gegenüberstanden. Die Entfremdung der Kirchen Roms und Konstantinopels wurde verschärft durch den Streit um die kirchenrechtliche, kulturelle und politische Zugehörigkeit des bulgarischen Reichs zu einer der beiden kulturellen Sphären in Europa, ja sie erreichte in der Polemik zwischen dem Papsttum und dem machtbewussten Konstantinopolitaner Patriarchen Phótios (858–867, 877–886) einen neuen Höhepunkt.

Der Übertritt der bulgarischen Führungsschicht zum Christentum ist mit mehreren Motiven zu erklären: Die Zugehörigkeit zur christlichen Religion bedeutete auch die Verstetigung der bulgarischen Reichsbildung im überregionalen, christlich geprägten Kontext. Sie bedeutete die endgültige Anerkennung des bulgarischen Reichs durch die beiden Kaisertümer und durch die auch politisch einflussreichen Kirchen. Sie machte die Bulgarenherrscher zu vollwertigen Vertragspartnern, deren Eide Gültigkeit besaßen. In der Folge sah sich Bulgarien aber massivem politischen Druck ausgesetzt. Es war durch ein Bündnis seiner Nachbarn im Süden und Norden, Byzanz und dem mährischen Reich, an zwei Fronten gefährdet. Das bulgarische Gegenbündnis mit dem ostfränkischen Reich unter Kaiser Ludwig dem Deutschen (862), bei dem der bulgarische Chan Boris (852–889) versprach, sich taufen zu lassen, bedeutete nur eine teilweise Entlastung. Die Taufe der bulgarischen Elite fiel außerdem in eine Zeit, als das Reich von einer Hungersnot geschwächt war und Byzanz militärisch drohte (864/65).

Die Missionierung der Bulgaren bildet einen Teil einer allgemeinen politischen und kulturellen Expansion des seit der Mitte des 9. Jahrhunderts erstarkten Byzantinischen Reichs auf dem Balkan. Getragen wurde sie von einer kleinen, hochgebildeten Gruppe von Geistlichen aus Thessalonike, allen voran den Brüdern Konstantin (später Kyrill) und Methodios, die schon früh in ihrer zu einem guten Teil von Slawen [<<99] bewohnten griechischen Heimat die slawische Sprache erlernt hatten. Nach einer Ausbildung an den besten Bildungsstätten Konstantinopels stieg besonders Konstantin zu einem führenden Theologen der byzantinischen Kirche auf, die er u. a. im Bagdader Kalifat bei Streitgesprächen mit muslimischen Geistlichen vertrat, aber auch bei der Missionierung des Steppenvolkes der Chazaren (in der heutigen Ukraine). Als 862 der Herrscher des mährischen Reichs, Rastislav († 870), von Byzanz Missionare erbat, fiel die Wahl des Kaisers Michael III. auf den erfahrenen und auch sprachlich qualifizierten Konstantin. Rastislav hatte ähnliche Motive wie nach ihm der Bulgarenchan Boris: Er war bedrängt vom ostfränkischen König Ludwig dem Deutschen, dem Verbündeten der Bulgaren, und wollte sein eigenes überlebenswichtiges Gegenbündnis mit Byzanz durch einen Übertritt zum Christentum byzantinischer Prägung absichern.

Eine eigene Kirchensprache

Konstantin und Method missionierten also die Slawen im mährischen Reich – und nicht etwa die weiter südlich lebenden Balkanslawen. Ein geradezu revolutionärer Schritt wurde durch die Missionare vollzogen, als sie für die neuen Gläubigen eine eigene Kirchensprache, das sog. Altkirchenslawisch, und ein eigenes Alphabet, die Glagolica, entwickelten. Frühe archäologische Belege in Form von Scherben mit glagolitischen Buchstaben wurden erst kürzlich im mährischen Zentralort Zalavár/Mosaburg gefunden. Die Ursprünge der glagolitischen Schrift sind umstritten. Bezüge zu semitischen und koptischen (christlich-ägyptischen) Vorbildern wurden ebenso hergestellt wie zu christlich-kaukasischen (georgischen, armenischen) Schriftsystemen. Konstantin und Method brachten Übersetzungen liturgischer und biblischer Schriften in ihr Missionsgebiet mit und legten damit die Grundlage einer slawischen Schriftkultur. Diese sollte ein Gegengewicht zur lateinischsprachigen Kirche des fränkischen Reichs bilden, zu den römischen Einflüssen und v. a. jenen der bayerischen Kirche in Mähren. Dies rief den heftigen Widerstand sowohl der Kirche im ostfränkischen Reich wie in Rom hervor. Einen Einblick in die Interessenslage aus deren Blickwinkel gibt z. B. die Salzburger Überlieferung (→ Kap. 2.3.1).

Konstantin verteidigte in Italien die Berechtigung einer weiteren Kirchensprache neben den klassischen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein. Der Papst lud die beiden Brüder nach Rom ein, wo sie [<<100] ehrenvoll empfangen wurden. Konstantin starb dort bereits 869. Method handelte nach dem Tode Konstantins im Dienst Roms, das ihn noch in demselben Jahr als Erzbischof von Sirmium (heute Sremska Mitrovica, nahe Belgrad) einsetzte. Damit sollte die alte kirchliche Metropole des nördlichen Balkans wiederbelebt und als Gegengewicht zum byzantinisch kontrollierten Erzbistum von Saloniki ausgebaut werden. Bei seiner Rückkehr ins mährische Reich fand er allerdings seinen Förderer Rastislav abgesetzt. Dafür war der Einfluss von dessen Gegnern im ostfränkischen Reich und besonders der bayerischen Bischöfe gestiegen. Method wurde zeitweise in einem oberdeutschen Kloster interniert. Zwar kam er wieder frei und konnte seine Tätigkeit bis zu seinem Tode 885 fortsetzen, doch wurde seine slawische Kirche danach von der lateinischsprachigen Kirche des ostfränkischen Reichs beseitigt, die Christen im pannonischen Raum der römischen Kirche angegliedert.

Die Christianisierung der Bulgaren

Das byzantinische Ausgreifen weit nach Ostmitteleuropa hinein war damit gescheitert. Viel erfolgreicher handelten Byzanz und das Patriarchat von Konstantinopel hingegen mit den zunächst für das mährische Reich entwickelten Missionsinstrumenten ‒ der neuen Liturgiesprache und dem neuen Alphabet – südlich der Donau. Denn dort gelang wesentlich unter politischem und militärischem Druck wohl 865 der Übertritt der Bulgaren zum Christentum byzantinischer Prägung. Die Christianisierung war ein politischer Akt, das zentrale Element die Taufe des bulgarischen Chans Boris († 907), der den Namen Michail annahm und damit die geistige Patenschaft des byzantinischen Kaisers Michael III. anerkannte. Vom Herrscher ausgehend, sollte die gesamte Führungsschicht, die Bojaren, den neuen Glauben annehmen. Dieser schnelle Bruch mit deren älteren religiösen Traditionen, der zudem mit der politischen Annäherung an den alten Gegner in Konstantinopel verbunden war, verlief nicht ohne erhebliche Verwerfungen. Von 100 Bojaren sollen sich 52 dem Chan und dessen neuen Glauben entgegengestellt haben; mit der Hilfe der 48 konvertierten Adeligen rang Boris-Michail den Aufstand nieder und ließ seine Gegner beseitigen. Damit hatte er zumindest für einige Jahre der „heidnischen“ Bojarenopposition das Genick gebrochen. Wesentliche Nachrichten über diese Vorgänge verdanken wir wieder erzählenden lateinischen Quellen aus dem Karolingerreich, in erster [<<101] Linie der Fortsetzung der Annales Bertiniani, die Hinkmar, dem Erzbischof von Reims († 882), zugeschrieben werden.

Annales Bertiniani, ed. Georg Waitz, MGH Scriptores I (Hannover 1883), S. 85, Übersetzung Oliver Schmitt.

Der König der Bulgaren, der durch Gottes Eingebung sowie durch Zeichen und Unglücksfälle im Volke seines Königreichs im Jahr zuvor erwogen hatte, Christ zu werden, nahm die heilige Taufe an. Da dies die Mächtigen übel aufnahmen, brachten sie das Volk gegen ihn auf, mit dem Ziel, ihn zu töten. Alle aus den zehn Grafschaften (comitatus) versammelten sich bei seinem Palast. Jener aber rief Christi Namen an und ging mit nur 48 Männern, die wegen ihrer glühenden christlichen Frömmigkeit bei ihm geblieben waren, gegen diese Menge vor; und kaum hatte er die Tore der Stadt verlassen, da erschienen ihm und jenen, die mit ihm waren, sieben Geistliche, und jeder von diesen hielt eine brennende Kerze in der Hand, und so schritten sie dem König und jenen, die mit ihm waren, voran. Jenen aber, die sich gegen ihn erhoben hatten, schien es, als ob eine große brennende Stadt auf sie herabstürzte, und die Pferde der Anhänger des Königs, so schien es den Gegnern, schritten aufrecht einher und traten sie mit den Vorderhufen; so große Furcht ergriff sie, dass sie weder zur Flucht noch zur Abwehr in der Lage waren, sondern sich zu Boden warfen und nicht mehr bewegen konnten. Der König aber tötete von den Mächtigen, die das Volk so gegen ihn aufgebracht hatten, zweiundfünfzig an der Zahl; das übrige Volk aber ließ er unbehelligt abziehen.

Ergänzt wird dieser Bericht durch die 106 Antworten von Papst Nikolaus I. auf Fragen des Bulgarenherrschers, Responsa Nicolai I. Papae ad consulta Bulgarorum (866). Diese Responsa gaben Auskunft zu kirchenrechtlichen Fragen, zu Fragen des Alltags und des Brauchtums, die Boris-Michail stellte, um eine zuverlässige Einhaltung des christlichen Ritus sicherzustellten, denn dieser wurde eng mit dem Herrscherheil und damit dem Wohlergehen der Gefolgschaft und des Herrschaftsgebiets in Verbindung gebracht.

Zwischen Byzanz und Rom

Kurz nach der Bekehrung zeigte sich aber ein Phänomen, das später auch bei den Serben hohe Bedeutung gewinnen sollte. Um den starken byzantinischen Einfluss auszugleichen und enttäuscht von dem mangelnden Entgegenkommen der byzantinischen Seite in wichtigen kirchenrechtlichen Fragen, wandte sich Chan Boris-Michail an die [<<102] römische Kirche und forderte insbesondere eine autonome bulgarische Kirchenorganisation, also kirchliche Unabhängigkeit von Konstantinopel (866). Der Papst ergriff die Möglichkeit und schickte seinerseits zwei Bischöfe – Formosus von Porto und Paulus von Populonia – nach Bulgarien. Diese verdrängten zwei Missionarsgruppen, die sie dort vorfanden, nämlich die griechischen Mitarbeiter des Patriarchats von Konstantinopel zum einen, dann aber auch die aus dem fränkischen Reich von Bischof Hermanrich von Passau geschickten Missionare. Rom wollte die Aufgabe der Bulgarenmission ganz an sich ziehen, den Bulgaren aber ebenfalls keine kirchliche Autonomie zugestehen. Als Boris-Michail einen der beiden italienischen Bischöfe zum Erzbischof erheben lassen wollte – also zum Oberhaupt einer eigenen bulgarischen Kirchenorganisation –, lehnte der Papst dieses Ansinnen ab.

Die Argumente des Patriarchen Phótios

Als also recht bald Spannungen zwischen dem Chan und dem Papst auftraten, begann Patriarch Phótios, die römische Kirche heftig anzugreifen. Er verglich die römischen Missionare im von Byzanz beanspruchten Bulgarien mit dem legendären „Eber im Weinberg Gottes“ und listete erstmals die Streitpunkte mit Rom und Paulus von Populonia auf, die bis heute von Bedeutung sind:

• die lateinische Fastenordnung;

• den Priesterzölibat, den die byzantinische Kirche nicht kannte;

• die bischöfliche Firmung;

• und das Filioque (d. h. die Frage, ob der Heilige Geist nur vom Vater durch den Sohn ausgehe, wie in der Orthodoxie üblich, oder a patre filioque, d. h. „vom Vater und dem Sohne“ wie im römischen Glaubensbekenntnis festgehalten).

Patriarch Phótios ging so weit, Papst Nikolaus I. zu exkommunizieren (867). Die drohende Krise schien durch den Tod des Papstes und den Sturz des Patriarchen beigelegt zu sein, der sich wegen seiner allzu raschen kirchlichen Karriere angreifbar gemacht hatte, wenngleich der neue Papst Hadrian II. († 872) nun seinerseits nachträglich auf den Angriff des Phótios reagierte. Gleichzeitig verlor Rom aber das Ringen um die kirchliche Hegemonie in Bulgarien, da sich Rom und der Chan nicht auf einen Kandidaten für den Thron des Erzbischofs einigen konnten. Bulgarien schwenkte daher wieder auf die byzantinische Seite und akzeptierte 870 einen griechischen Erzbischof für die Reichshauptstadt [<<103] Pliska. Die zum Teil aus dem Patriarchat von Aquileia stammenden lateinischen Missionare mussten Bulgarien verlassen. Das Reich öffnete sich griechischsprachigen byzantinischen Geistlichen. Freilich blieb dies angesichts der jahrhundertealten Tradition der Feindschaft zwischen Bulgaren und Byzantinern nicht ohne Folgen. Als Boris-Michail 889 die Herrschaft an seinen Sohn Vladimir-Rasate übergab und sich in ein Kloster zurückzog, brach sich die „heidnische“ Reaktion Bahn, die wesentlich von Vladimir getragen wurde. Boris-Michail musste seine Klostereinsamkeit verlassen, um seinen Sohn zu stürzen und seinen zweiten Sohn Simeon († 927) an dessen Stelle zu setzen.

 

Die kulturelle und religiöse Ausrichtung der Bulgaren nach Konstantinopel, der überwältigende Einfluss der griechisch-byzantinischen Kultur sollte eine Konstante der bulgarischen Geschichte bis in die Neuzeit hinein werden. Es sollte beinahe vier Jahrhunderte dauern, bis ein bulgarischer Herrscher sich wieder an Rom wandte, um sich von Konstantinopel zu lösen: Zar Kalojan handelte so kurz vor der Eroberung Konstantinopels durch die Teilnehmer des 4. Kreuzzuges (1204). Freilich übernahm Bulgarien von Byzanz nur den Glauben, nicht aber die griechische Kirchensprache.

Die Mission im inneren Balkan

Die Schaffung einer eigenen slawischen Kirchensprache ist für den gesamten slawischen orthodoxen Balkan von herausragender Bedeutung gewesen. Sie belegt auch die nun weitgehend abgeschlossene „Slawisierung“ der sogenannten Proto-Bulgaren (→ Kap. 2.1), die in der zahlenmäßig stärkeren Gruppe der Slawen aufgegangen waren. Die Integration der altbalkanisch-thrakischen Bevölkerung, der Slawen und der Proto-Bulgaren zu einem slawischsprachigen Volk, das seinen vermutlich turksprachlichen Namen beibehielt, wurde durch die Christianisierung entscheidend gefördert. Die Slawisierung der Bulgaren erhielt zudem einen neuen Schub, als das Reich den slawisch besiedelten makedonischen Raum eroberte, wo sich gegen Ende des 9. Jahrhunderts um die makedonischen Seen mit Ochrid ein zweites Zentrum der mittelalterlichen bulgarischen Kultur ausbildete, das neben dem alten östlichen Machtschwerpunkt um die Orte Pliska und der neuen Hauptstadt Preslav (unter Zar Simeon I., † 927) lag und in dem eine neue kirchenslawische Schreibschule entstand.

Die Lange Klemensvita

In Ochrid wirkten die Heiligen Klemens († 916) und Naum († 910), Angelarius und Gorazd († 900) als Missionare des inneren Balkans. [<<104] Zentrale Quelle ist ein Heiligenleben, die Vita des heiligen Klemens. Diese ist nicht etwa auf Kirchenslawisch erhalten; vielmehr handelt es sich um einen griechischen Text, der dem Erzbischof Theophýlaktos von Ochrid († 1107) zugeschrieben wird, einem für seinen Briefwechsel berühmten hochgelehrten Kirchenfürsten, der in einer Zeit wirkte, als das bulgarische Reich seit fast einem Jahrhundert (seit 1018) von Byzanz unterworfen war. Byzanz bemühte sich aber um die Respektierung der kulturellen und vor allem kirchlichen Traditionen des bulgarisch missionierten Balkans. So erklärt sich auch, weshalb ein griechischsprachiger Erzbischof die Vita eines Slawenmissionars verfasste.

Die Quellen der sog. Langen Klemensvita (eine Kurze Vita entstammt der Feder von Demétrios Chomatenós, ebenfalls Erzbischof von Ochrid, 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts) sind umstritten: Theophýlaktos wird mündliche Überlieferung, wohl aber auch schriftliche Vorlagen aus der Ochrider Tradition verwendet haben. Die ältesten erhaltenen Handschriften sind rund vier Jahrhunderte nach Theophýlaktos’ Tod entstanden. Die erste Edition gab 1847 der bedeutende Wiener Slawist Franz von Miklosich heraus.

Im Gegensatz zu den Bulgaren ist die Christianisierung im herrschaftlich weniger strukturierten Serbien im 9. Jahrhundert nur schemenhaft fassbar. Man darf davon ausgehen, dass Serbien wie Bulgarien sowohl von römischen wie byzantinischen Missionaren dem Christentum über einen längeren Zeitraum erschlossen wurden, wobei einem Taufakt, wie er von Michaels III. Nachfolger Basíleios I. gegen Ende des 9. Jahrhunderts vorgenommen wurde, primär symbolische Bedeutung zukam. Die byzantinische Missionsstrategie erfasste 988/89 auch das von skandinavischen Warägern (Kiewer Rus’) begründete ostslawische Reich von Kiew.

Die Bedeutung der sakralen Sprache

Mit dem Altkirchenslawischen trat eine vierte heilige Sprache und Schrift neben das Griechische, Lateinische und Hebräische. Sprache und Schrift sind im geistlichen Verständnis nicht nur Träger von Information. Sie haben als Form und Zeichen heiligen Charakter, und dies ganz besonders in der Liturgie und der Heiligen Schrift. Nur wenn man sich diese sakrale Dimension vor Augen hält, begreift man den umwälzenden Charakter dieser Neuerung. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa kam es in Griechenland wegen einer Bibelübersetzung ins Neugriechische zu schweren Unruhen. Gegen [<<105] die Schaffung einer neuen Liturgiesprache war es auch in Byzanz zu Widerstand gekommen. Und die Vertreter der jungen sakralen Sprache fühlten sich genötigt, ihren Standpunkt zu verteidigen.

Chrabar, Über die Buchstaben

In diesen Zusammenhang gehört die kirchenslawische Schrift O pismeneh /„Über die Buchstaben“ des Mönchs Chrabar, die wohl im letzten Viertel des 9. Jahrhunderts entstanden ist. Über den Verfasser ist wenig bekannt. Sein sprechender Name (etwa: „der Tapfere, Mutige“) ließ Vermutungen aufkommen, es handle sich um ein Pseudonym, hinter dem man u. a. Konstantin/Kyrill selbst vermutete. Entstanden ist die Schrift wohl im Umfeld einer bulgarischen Reichssynode unter dem jungen Herrscher Simeon I. , der eben die „heidnische“ Reaktion niedergeworfen hatte (893).

Der Verfasser war jedenfalls hoch gebildet und verfügte über gute Kenntnisse der Kirchenväter-Texte – dass im Paradies syrisch gesprochen worden sei, geht etwa auf Theodoret von Kyrrhos († 460) zurück. Die älteste erhaltene Handschrift von Chrabars Text entstand erst knapp viereinhalb Jahrhunderte nach Abfassung der Schrift im Jahre 1348. Sie wurde von dem bulgarischen Zaren Ivan Alexandăr († 1371) in Auftrag gegeben. Dies deutet auf den hohen symbolischen Wert des Bekenntnisses zur kirchenslawischen Tradition in einer Zeit hin, als der byzantinische Einfluss auf die bulgarische höfische Kultur besonders stark wirkte. „Über die Buchstaben“ ist in rund 80 Handschriften überliefert und wurde in der Frühen Neuzeit in der slawischen Welt im Kontext der konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen der orthodoxen und der unierten Kirche auch durch den Buchdruck verbreitet (Vilnius 1575–1580, Moskau 1637), was beides auf die Beliebtheit der Schrift über Jahrhunderte hinweg hinweist.

Eine Verteidigung des Kirchenslawischen

Die kurze Schrift teilt sich in eine knappe Geschichte des griechischen Alphabets; die Erzählung von der Schaffung des neuen slawischen Alphabets; sowie eine Verteidigung des Kirchenslawischen gegenüber den Verfechtern der Dreisprachenlehre, wonach nur das Griechische, Lateinische und Hebräische als heilige Sprachen anzusehen seien.

I. Früher als die Slawen noch Heiden waren und keine Bücher hatten, lasen und wahrsagten sie mit Hilfe von Strichen und Schnitzen.