Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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2.3 Die Kirche als Trägerin frühmittelalterlicher Überlieferung
2.3.1 Differenzierung und Integration durch Glauben
Fallbeispiel: Die Vita St. Severini und der Abzug der romanischen Bevölkerung aus dem Donauraum

Die vielen Leben des Heiligen Severin

Wenige frühmittelalterliche Werke über den Betrachtungsraum wurden von der Geschichtsforschung und ihren Nachbardisziplinen (v. a. Archäologie, Philologie, Theologie) so eingehend behandelt wie die schmale Erinnerungs- oder Denkschrift (commemoratorium) des Eugippius über das Leben des Heiligen Severin, die als Vita Sancti Severini in die Forschungsgeschichte Eingang gefunden hat.

Das liegt zunächst einmal maßgeblich an der Quellenlage: Bedingt durch den generellen Rückgang von Schriftlichkeit kommt den wenigen erhaltenen Texten umso mehr Bedeutung zu, besonders wenn es sich um narrative Darstellungen unmittelbar aus dem Betrachtungsraum selbst handelt. Den Text schrieb Eugippius zwar erst nach den wiedergegebenen Ereignissen im Jahr 511 im süditalienischen Kloster Castellum Lucullanum bei Neapel, das heißt etwa eine Generation nach dem Tod des Heiligen 482 in Favianis/Mautern an der Donau im heutigen Niederösterreich. Ob und wie genau er persönlich Severin gekannt hat, ist nicht restlos geklärt. Jedenfalls aber war er Zeuge der maßgeblichen Entwicklungen, denn 488 wurde die von Severin gegründete geistliche Gemeinschaft, der Eugippius angehörte und später vorstand, im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Skiren Odoaker, der 476 den letzten weströmischen Kaiser abgesetzt hatte, und den pannonischen Goten unter Mitnahme der sterblichen Überreste des Heiligen nach Italien evakuiert.

Schriftlichkeit und Mündlichkeit

Die dazwischen liegenden drei Jahrzehnte, ebenso wie der etwa gleiche Zeitraum zuvor, in dem Severin in den provinzialrömischen Siedlungen an der mittleren Donau wirkte, sind gekennzeichnet von Entwicklungen, die einen Abschnitt der sogenannten „Völkerwanderung“ mit besonders nachhaltigen Konsequenzen gerade auch für die schriftliche Überlieferung markieren. [<<82]

Zu der Zeit, als der Hunnenkönig Attila starb, herrschten in beiden Teilen Pannoniens und den übrigen an die Donau grenzenden Gebieten unsichere Verhältnisse. […] Damals nun kam der hochheilige Diener Gottes Severinus aus dem Osten in das Grenzgebiet zwischen Ufer-Noricum und Pannonien und hielt sich in einer kleinen Stadt auf, die Asturis heißt. Er lebte nach der Lehre des Evangeliums und der Apostel in aller Frömmigkeit und Sittenreinheit und erfüllte im Bekenntnis des katholischen Glaubens sein ehrwürdiges Gelübde durch heiligmäßige Werke. (c. 1,1)

Eugippius, Vita Sancti Severini. Das Leben des heiligen Severin (lt./dt.), übers. und hrsg. von Theodor Nüsslein (Stuttgart 1999).

Die Schrift bietet die einzige umfassende narrative Darstellung zur Veränderung der Sozial- und Siedlungsstrukturen im ersten Jahrhundert der Transformation des Römischen Reichs in seinen Provinzen Rätien, Noricum und Pannonien im Donauraum auf der Basis von vielfach „vor Ort“ gewonnenen und mündlich weitergegebenen Informationen. Auch für viele der politischen und militärischen Ereignisse ist der Text die einzige Quelle. Dementsprechend wurde er lange Zeit besonders auf seine detaillierten chronologischen, topographischen und prosopographischen Daten hin ausgewertet.

Ein hagiographischer Text

Die besondere Glaubwürdigkeit des Eugippius wurde nicht zuletzt deshalb angenommen, weil der Text nicht im üblichen rhetorisch stilisierten Ton, sondern einfach geschrieben ist ‒ ein Umstand, den der Autor mit entsprechendem Bescheidenheitsgestus in seinem dem Text vorangestellten Brief an den einflussreichen römischen Diakon Paschasius explizit betont. Was aber, wenn es sich gerade dabei um einen bewusst gesetzten „Wahrheitseffekt“ handelt? Denn selbstverständlich ist die „Denkschrift“ des Eugippius vor allem ein hagiographischer Text: Sein Ziel ist die Darstellung eines exemplarischen Heiligenlebens in der damals bereits etablierten Tradition dieses literarischen Genres, in dem biblische, patristische und hagiographische Modelle je nach Kontext adaptiert werden konnten. Er repräsentiert also jedenfalls spezifische Formen der Stilisierung eines vorbildlichen Heiligen, die ihrerseits sowohl in der Welt seines Autors Eugippius und seines Publikums im erst seit Kurzem ostgotischen Italien des frühen 6. Jahrhunderts verortet sind und auf zeitgenössische geistliche Debatten und (kirchen-)politische Parteiungen reagieren, wie sie [<<83] auch die Welt Severins, des Protagonisten der Geschichte der letzten Jahrzehnte der römischen Donauprovinzen, kommentieren. Diese Ebenen hagiographischer und gleichzeitig politischer Stilisierung verbinden komplexe Wechselbezüge, die bei der Lektüre mitbedacht werden müssen.

Neue gentes an der Donau

Doch zurück an den Schauplatz der Erzählung: Attila starb 453, und nur wenig später (454/5) fand sein riesiges Reich mit Schwerpunkt im Karpatenbecken in der Schlacht am Nedao (vielleicht ein Nebenfluss der Save) ein Ende. Alle an den kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligten Gruppen ‒ Goten und Gepiden, Rugier und Eruler, Sueben, Skiren und Sarmaten ‒ wurden in ihren teilweise „neuen“ Gebieten im Osten der Donauprovinzen nominell als römische Föderaten angesiedelt: In dieser vertraglichen Form regelten die Römer seit ihrer entscheidenden Niederlage gegen ein hunnisch-gotisches Heer bei Adrianopel (378) ihr Verhältnis zu den nicht dem populus Romanus angehörigen „barbarischen“ gentes. Im Nord-Westen der Donauprovinzen stellten Alamannen und Thüringer eine zunehmende Bedrohung dar. Dazwischen lag Ufer-Noricum, wo Severin vor allem zwischen dem kleinen Ort Quintanis/Küntzing westlich von Passau und der Wachau bzw. dem Wienerwald im Osten tätig war. Nach Süden erstreckte sich sein Einfluss auch auf Binnen-Noricum bis in das heutige Slowenien.

Transformation römischer Staatlichkeit

Viel Präsenz zeigte das Römische Reich zu diesem Zeitpunkt in der Region allerdings nicht mehr: So sind aus diesem Zeitraum gerade zwei Bleisiegel des in Konstantinopel residierenden Kaisers Markianos († 457) und drei Goldmünzen des weströmischen Kaisers Anthemius († 472) erhalten. Wie die sukzessive Aufgabe militärischer und ziviler Verwaltungsstrukturen bis zum Abzug der geistlichen Gemeinschaft Severins sechs Jahre nach seinem Tod († 482) vonstatten ging, davon erzählt unter anderem seine Lebensbeschreibung. Gleichzeitig macht sie aber auch deutlich, dass und wie ein Leben in den Grenzregionen in dieser Umbruchsituation möglich war und worin seine alltäglichen militärischen, sozialen und spirituellen Herausforderungen bestanden. Sie erzählt von „barbarischen“ Übergriffen, der Verschleppung und Versklavung von Angehörigen der provinzialrömischen Bevölkerung ebenso wie von Handelsbeziehungen und dem Besuch rugischer Wochenmärkte (c. 6,4; 9,1; 22,2), aber auch von Verhandlungen und [<<84] Verträgen, die in diesen Jahrzehnten nicht mehr durch das west- bzw. oströmische Kaisertum in Ravenna und Konstantinopel geschlossen wurden, sondern durch seine Vertreter vor Ort, jedoch meist ohne explizites politisches Mandat. Oft handelte es sich dabei um Bischöfe, wie im Fall des Constantius von Lauriacum/Lorch, dem ehemaligen Legionslager und einzigen Bischofsstadt an der Donau. Er gehörte der einheimischen Oberschicht an und war der Onkel des berühmten (Hl.) Antonius von Lérins, der seinerseits in Severins Gemeinschaft erzogen wurde und über den im Jahr 506, also nur kurz vor der Abfassung der Severins-Vita, der hoch gebildete Bischof Ennodius von Pavia eine eigene berühmte Lebensbeschreibung, die Vita S. Antonii, verfasste.

Severin sagt einem Paulinus die Wahl zum Bischof des binnen-norischen Teurnia voraus (c. 21), und auch ihm selbst wird die Bischofswürde angetragen, die er jedoch ablehnt (c. 9,4). Einen weiteren Bischof nennt Kapitel 4, das von einem Überfall „barbarischer Räuber“ (praedones barbari) auf Favianis/Mautern, dem Zentrum von Severins Wirkens, erzählt:

Da eilten mehrere Bürger unter Tränen zu dem Manne Gottes und berichteten ihm von dem schrecklichen Unglück, das ihnen widerfuhr; gleichzeitig wiesen sie ihn auf Beweise für die neuerlichen Plünderungen hin. Severin aber fragte Mamertinus, den ehemaligen Stadtkommandanten, der später in das Bischofsamt eingesetzt wurde, ob er einige bewaffnete Männer habe, mit denen er die Straßenräuber verfolgen könne. Dieser antwortete: „Ich habe wohl einige wenige Soldaten, wage aber nicht, mit einer so großen feindlichen Schar den Kampf aufzunehmen. Doch wenn deine Ehrwürden es anordnet, glauben wir, durch dein Gebet Sieger zu werden, auch wenn uns die Hilfe der Waffen fehlt“. (c. 4,1–2)

Aufgaben der Kirche

An diesem wie an zahlreichen anderen Beispielen aus der Vita wird zweierlei deutlich: Zum einen zeigt sich die enge Verflechtung weltlicher und geistlicher Aufgaben in der Praxis, ebenso wie die einzelnen Ämter auch funktional nicht scharf gegen einander abgegrenzt sind. Die politische Ordnung der römischen Provinzialorganisation und jene der bereits gut etablierten kirchlichen Strukturen überlappen einander. Die Vita nennt eine Reihe von Gemeindekirchen (ecclesiae) und Klosterkirchen (basilicae) entlang der Donau. Für Binnennoricum wird dies durch archäologische Funde ergänzt. Als sich die römische Verwaltung schrittweise aus dem Raum zurückzieht, übernehmen [<<85] die Bischöfe ihre Aufgaben. Wie Severin selbst dürften sie jeweils von einer befestigten Siedlung aus (oppidum vel castellum, c. 11,1; 17,1) für das jeweilige Umland Verantwortung übernommen haben. Zum anderen lässt die Vita keinen Zweifel daran, dass der charismatische Heilige durch seine von Gott gegebene Autorität und mittels seiner vielfältigen Kompetenzen politische ebenso wie geistliche Aufgaben übernimmt. Ihre Integration zum Schutz der Bevölkerung ist aber klar dem Kampf mit geistlichen Waffen verpflichtet – Beten, Fasten, Almosen geben sind die wichtigsten unter ihnen. Die asketische Vorbildlichkeit des Heiligen wird dabei ebenso betont wie die Regelmäßigkeit der Gottesdienste. Der Alltag im Grenzgebiet an der Donau ist christlich geprägt. Hier werden deutlich frühere Hinweise auf die Verbreitung des Christentums, wie das Martyrium des Hl. Florian († 304) in der Enns bei Lorch oder der Grabstein der Christin Ursa (um 400 bei Wels), der von ihrem offenkundig noch nicht christlichen Ehemann gesetzt wurde (→ Kap. 2.2.2), auf breiterer Basis bestätigt.

 

Severins Wirken

Severin selbst zieht sich regelmäßig in eine kleine Zelle „an den Weinbergen“ (ad Vineas, c. 4,6) zurück, eine abgeschiedene Behausung […], die von den Anwohnern Burgus genannt wurde und von Favianis eine Meile entfernt war, um den vielen Menschen, die ständig kamen, auszuweichen und in unablässigem Gebet enger mit Gott verbunden zu sein. (c. 4,7) Regelmäßig sucht etwa der Rugierkönig Flaccitheus seinen Rat und seine Gabe, in die Zukunft zu sehen (c. 5). Dessen Sohn Feletheus und seine „böse“ gotische Gattin Giso, die als Arianerin sogar katholische Christen wiedertaufen will, werden ermahnt bzw. von Gott bestraft (c. 8). Beide respektieren die Autorität Severins, ebenso wie der Alemannen-König Gibuld in seiner Anwesenheit vor Furcht zu zittern beginnt (c. 9,2). Und dem damals noch ärmlich gekleideten Odoaker sagt er bei einem Besuch seine große Zukunft in Italien voraus (c. 7). Immer wieder wird der Heilige als Vermittler tätig, schließt Verträge, kümmert sich um den Schutz der Provinzialen nicht nur gegen feindliche Übergriffe, sondern auch vor Überschwemmungen und Nahrungsknappheit, organisiert ihre Versorgung, Kleidung und Hilfsgüter und hebt den Zehnt ein (c. 17, 2–4; 18, 1). Er wirkt zahlreiche Wunder, die zum überwiegenden Teil im Vorhersehen zukünftiger Ereignisse (und der dadurch möglichen Abwendung von Gefahren) bestehen, aber auch in der häufigen Heilung von Kranken [<<86] oder in der Vermehrung des knappen Öls (c. 28). Zwischen 467 und seinem Tod 482 lässt sich Severins Wirken an der Donau konkret rekonstruieren; wenige Ereignisse, und keines mit Sicherheit, lassen sich in das Jahrzehnt davor datieren.

Die Person Severin

Wer aber war Severin? Seine Lebensbeschreibung nennt ihn in verschiedenen Varianten einen Heiligen und Diener des Herrn, er handelt im Auftrag Gottes und in der Nachfolge Christi. Wenn er auch Mönche (monachi, c. 9,4) bzw. Geistliche (spiritales, c. 13,2) um sich schart, so ist er selbst weder Mönch noch Priester, kein Abt und Bischof, aber auch kein römischer Beamter oder Träger eines offiziellen Mandats. Auch über seine Herkunft ist wenig bekannt. Eugippius lässt den Heiligen in seinem Schreiben an Paschasius beredt schweigen:

Was nützt dem Knecht Gottes die Angabe seines Geburtsortes oder seiner Familie, wenn er dadurch, daß er darüber lieber schweigt, leichter der Prahlsucht, die etwas Widerwärtiges ist, entgeht? (Ep. 9)

Daraus wurde auf eine hohe Herkunft des Heiligen geschlossen. Bischof Ennodius erwähnt ihn in seiner Antonius-Vita als vir illustrissimus, was sowohl im Sinn eines Angehörigen des römischen Senatorenstandes, aber ‒ wohl plausibler ‒ im Sinn der besonderen Ehrerbietung für den Heiligen interpretiert worden ist. Eine römische Ämterlaufbahn des homo omnino Latinus (Ep. 10) lässt sich jedenfalls auf Basis der vorhandenen Quellen nicht rekonstruieren. Vor seiner Tätigkeit in Ufernorikum sei Severin, so Eugippius in seinem Brief an Paschasius weiter, auf der Suche nach einem eremitischen Leben in einer Wüste im Osten gewesen und dann durch göttliche Offenbarung in die bedrängten Städte von Noricum in der Nachbarschaft Pannoniens gekommen (ebd.).

Die Gemeinschaft des Eugippius in Süditalien

Diese Schilderung ist selbstverständlich genauso topisch wie die Lebensbeschreibung Severins selbst. Der „historische“ und der hagiographisch wie politisch stilisierte Heilige lassen sich ebenso wenig voneinander trennen wie die geistlichen und politischen Herausforderungen der Zeit. Auf sie verweisen Vita und Brief, der Antwortbrief des Paschasius an Eugippius, aber auch dessen übrige Werke, darunter eine Klosterregel für seine Gemeinschaft und eine Zusammenstellung von Werken des Hl. Augustinus. Als Vorsteher seines Klosters bei Neapel war Eugippius Teil eines sozialen Beziehungsgeflechts, in dem politische und geistliche Faktoren aufs engste miteinander verwoben [<<87] waren. Dies wird am Beispiel jener illustris femina Barbaria deutlich, die vielleicht die Witwe des von Odoaker ermordeten Orestes und Mutter des abgesetzten letzten Kaisers Romulus Augustus war und im letzten Kapitel der Severins-Vita eine Grablege für den Heiligen zur Verfügung stellt (c. 46). Auch das ist ein zeittypisches Modell frommen Handelns, das mit der Möglichkeit für Eugippius korrespondiert, „einen Heiligen aus einer Grenzregion als Begründer einer frommen Gemeinde in Italien darzustellen und sein Vorbild in der kirchenpolitischen Diskussion seiner Zeit wirksam werden zu lassen“.

Kate Cooper, The Widow as Impressario: Gender, Legendary Afterlives, and Documentary Evidence in Eugippius’ Vita Severini, in: Maximilian Diesenberger, Walter Pohl (Hg.), Eugippius und Severin. Der Autor, der Text und der Heilige (Wien 2001), S. 53–63, hier S. 63.

Denn das „richtige“ geistliche Leben, auch das monastische, war in den politisch-geistlichen Parteiungen im Süditalien des 6. Jahrhunderts ebenso umstritten wie dreißig Jahre vorher in Ufernoricum. Die Schwierigkeiten Severins, angesichts der Verantwortung für die ihm Anvertrauten eine Balance zwischen den geistlichen Modellen der vita contemplativa und der vita activa zu finden, sind ein wichtiger Hinweis darauf. Bezieht man die beiden Handlungskontexte aufeinander, lässt sich das commemoratorium des Eugippius als Dokument einer komplexen Praxis des Umgangs sowohl mit zeitgenössischen Grenzerfahrungen als auch mit Gemeinschaftsvorstellungen lesen.

Ré-écriture

Auf vergleichbare Herausforderungen verweist die geistliche Überlieferung durch das gesamte Mittelalter trotz zunehmend etablierter Ordensstrukturen. Immer wieder neue Reformbewegungen und Auslegungen bestehender Regeln geben davon ebenso beredtes Zeugnis wie die Rezeption von exemplarischen Heiligenleben. Der bei weitem größte Teil dieses zentralen Bestandteils erzählender mittelalterlicher Überlieferung ist in meist Jahrhunderte später entstandenen Handschriften überliefert. So ist die Vita des Heiligen Severin seit dem 11. Jahrhundert in über 50 Handschriften v. a. in Italien, Bayern und Österreich überliefert. Das hat einerseits mit Überlieferungsverlusten älterer Textträger zu tun. Andererseits dienten die vielfachen und dabei oft auch modifizierten Abschriften – Textteile wurden weggelassen oder ergänzt und ausgeschmückt –, ihre ré-écriture jeweils unterschiedlichen Zwecken. Im Fall der Lebensbeschreibung Severins [<<88] etwa wurde im hochmittelalterlichen Bistum Passau die Kontinuität zum spätantiken Bistum Lauriacum/Lorch vor allem zur Begründung von weitreichenden kirchenpolitischen Ansprüchen herangezogen, ohne dass dabei der Heilige selbst oder sein Hagiograph eine besondere Rolle gespielt hätten (→ Kap. 3.2.2).

Fallbeispiel: Die Salzburger Überlieferung des 8. und 9. Jahrhunderts

Ende der spätantiken Kirchenorganisation

Die in der Severins-Vita so eindrucksvoll dokumentierte spätantike Kirchenorganisation ging in den Grenzgebieten des einstigen Römischen Reichs an der mittleren Donau um 490 zu Ende. Die letzten Nachrichten über den Metropolitanverband von Aquileia sind aufgrund von kirchenpolitischen Kontroversen rund um die Synode von Grado (572/vor 577) erhalten, als deren Teilnehmer die Bischöfe von Scarabantia/Ödenburg, Celeia/Cilli, Emona/Laibach, der binnennorischen Bistümer Teurnia und Aguntum/Lavant sowie Sabiona/Säben und Trient genannt werden. Nach dieser letzten „Momentaufnahme“ gibt es lange nahezu keine Nachrichten mehr. In den folgenden Jahrzehnten vollzog sich eine völlige Neuordnung der ehemaligen römischen Provinzen. Eine Folge der Auseinandersetzungen ist das Fehlen jeglicher schriftlicher Überlieferung aus diesem Raum in den nächsten gut hundert Jahren. Sie setzt erst mit der von den bayerischen Herzögen aus dem Geschlecht der Agilolfinger initiierten Missionsbewegung durch angelsächsische, irische und fränkische Mönche wieder ein.

Geschichtsschreibung „von außen“

Über den Zeitraum dazwischen sind wir siedlungsgeschichtlich nahezu ausschließlich durch archäologische und linguistische Befunde informiert sowie durch die Nachrichten der byzantinischen Historiographen Prokópios, Agathias, Ménandros und Jordanes, die Historia Langobardorum des Paulus Diaconus sowie die fränkischen Autoren Venantius Fortunatus und Gregor von Tours bzw. die sogenannte Chronik des Fredegar.

Bis zum Tod Theoderichs des Großen (536), dessen Heer Odoaker besiegte und dessen Reich seinen Mittelpunkt in Ravenna hatte, dominierten die Goten auch den Ostalpen- und Donauraum. Danach ging die ostgotische Herrschaft in diesem Raum an die Franken unter [<<89] dem Herrschergeschlecht der Merowinger über, während die Gebiete weiter im Osten im Zuge langwieriger Auseinandersetzungen mit dem ost-römisch/byzantinischen Kaisertum neu geordnet wurden. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielten die Langobarden, die ihre Siedlungsgebiete um 500 im Donauraum ‒ im ehemaligen Gebiet der Rugier ‒ hatten, wie Gräberfelder im niederösterreichischen Hollabrunn und Krems belegen. Sie sind in der Folge in Pannonien nachweisbar und ab 568 in Oberitalien mit dem Herrschaftszentrum in Pavia.

Im Laufe der Auseinandersetzungen des 6. Jahrhunderts wurde, wie Herwig Wolfram formuliert, der Ostalpenraum von Italien getrennt. Im Westen sind ab Mitte des Jahrhunderts die politisch von den Frankenkönigen abhängigen Bayern nachweisbar, deren Herkunft unklar ist und die wohl verschiedene gentile Gruppen inklusive der verbleibenden romanischen Bevölkerung integrierten. Das führende bayerische Geschlecht der Agilolfinger (um 555 nennt die Historia Langobardorum als ersten Herzog Garibald) hatte enge verwandtschaftliche Beziehungen zu den Langobarden in Italien. Im Westen am Arlberg grenzte das bayerische Einflussgebiet an das der ebenfalls von den Franken abhängigen Alemannen. Im Osten berichtet die Langobarden-Geschichte des Paulus Diaconus für 592 von ersten Zusammenstößen der Bayern mit den Slawen im Drautal; für 595 und 610 mit den Awaren, zu denen die Grenze an der Enns verlief. Sie sind bereits 558 am byzantinischen Hof Kaiser Justinians I. († 565) fassbar und dominierten die Donauländer von ihrem Herrschaftszentrum im pannonischen Raum aus bis zum Beginn des 9. Jahrhunderts. Gemeinsam mit den Awaren sind an der unteren Donau slawische Verbände belegt, die ‒ wie die Bayern im Westen ‒ in diesem Raum die wichtigste und nachhaltigste Bevölkerungsgruppe darstellen. Im frühen 7. Jahrhundert sind ihre Siedlungen bis ins östliche Pustertal, ins nördliche Ennstal und an der Traun nachweisbar. In den 620er Jahren konnte der fränkische Kaufmann Samo das Machtvakuum zwischen Awaren und Bayern zur Etablierung einer ersten slawischen Herrschaftsbildung von Böhmen bis ins heutige Kärnten nutzen. Nach seinem Tod (um 660) setzten sich aber wieder die Awaren durch, um 700 stabilisierte sich die Grenze zu den Bayern an der Enns. Südlich der Alpen brachten die Bayern um 740 die karantanischen Slawen [<<90] in ihre Abhängigkeit. Hier entstand das Fürstentum Karantanien, später Kärnten.

Heiligenleben

Über diese Vorgänge gibt es ab dem späten 7. Jahrhundert wieder schriftliche Nachrichten aus der bayerischen Überlieferung. Abermals, und vielleicht noch deutlicher als an der Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert, zeigt sich, wie sehr Motive zur Errichtung und Durchsetzung politischer Herrschaft sowie Aneignung des Raumes und ihre ideelle Legitimation mit geistlich-missionarischen Bemühungen Hand in Hand gehen. Um 700 begannen die Missionstätigkeiten der unter den agilolfingischen Herzögen ins Land gekommenen Emmeram, Corbinian und Rupert. Alle drei wurden Gründer bzw. Patrone der 739 durch den Hl. Bonifatius in päpstlichem Auftrag eingerichteten neuen Bistümer Regensburg, Freising und Salzburg; das Wirken aller drei wurde jeweils zwei bis drei Generationen später in Heiligenviten gewürdigt und nach den genretypischen hagiographischen Mustern stilisiert. Zum späteren Metropolitanverband von Salzburg mit dem ersten Erzbischof Arn († 821), der erst 798 auf Initiative Karls des Großen etabliert wurde, der auch seine Südgrenze gegenüber dem Patriarchat Aquileia mit der Drau festlegte, gehörte außerdem das Bistum Passau.

 

Die Passio Haimhrammi und die Vita Corbiniani verfasste wohl zwischen 768 und 772 Arbeo von Freising, der zunächst Schreiber in der bischöflichen Kanzlei und später selbst Bischof von Freising und Zeitgenosse des Salzburger Bischofs Virgil († 784) war. Die Gesta Hrodberti, die Lebensbeschreibung des Salzburger Gründungsbischofs, der von Worms nach Bayern gekommen war, lässt sich hingegen keinem Autor zuweisen, und auch ihre Überlieferungsgeschichte ist deutlich komplizierter. Die vielleicht 746/7 entstandene früheste Fassung ist nicht erhalten. Die ältere Überlieferung A (nach 791/3) und die jüngere Fassung B, die viel später (870) entstanden ist (→ s. u.), weichen in maßgeblichen Punkten voneinander ab und zeugen so von ihrer jeweils kontextbezogenen Intentionalität.

Fränkische Quellen

Alle drei Heiligenviten gehören zusammen mit der karolingischen Hofhistoriographie, besonders dem Liber Historiae Francorum und der fränkischen Annalistik, der spezifisch mittelalterlichen Form historischer Darstellung in nach Jahren geordneten knappen Notizen (→ Kap. 3.3.4), zu den maßgeblichen frühen schriftlichen Quellen zur [<<91] bayerischen Geschichte, aber auch zu jener des Konflikts zwischen den Karolingern als neuen Trägern der fränkischen Herrschaft und ihren bayerischen Verwandten, der agilolfingischen Herzogsfamilie. Alle drei Heiligenleben wurden außerdem in einem Zeitraum geschrieben, als es die Auseinandersetzung zwischen dem mächtigen Bayernherzog Tassilo III. und Karl dem Großen für die Salzburger Kirche klug erscheinen ließ, sich der Gunst beider, der Agilolfingerherzöge wie der Frankenkönige, zu versichern.

Geistliche Kultur

Neben den Bistümern sind die bayerischen Klöster als Träger von schriftlicher Kultur von herausragender Bedeutung. Im 8. Jahrhundert wurden neben dem Domstift von St. Peter in Salzburg durch den Hl. Rupert und der Frauengemeinschaft auf dem Nonnberg unter seiner Nichte Erintrudis als erster Äbtissin unter anderen die Klöster Mondsee, Niederaltaich, Kremsmünster sowie das Passauer Domstift gegründet und von den bayerischen Herzögen mit umfangreichem Grundbesitz ausgestattet. In den Klöstern wurden Handschriften vor allem für den liturgischen Gebrauch hergestellt, die gleichzeitig zum Erlernen der lateinischen Sprache dienten. Der wichtigste Text war die Bibel; Latein, die Sprache der christlichen Liturgie, lernte man zunächst anhand der Psalmen des Alten Testaments. Die Bücher, die man für unterschiedliche liturgische und pastorale Zwecke wie für die Lektüre im Rahmen des monastischen Tagesablaufs und der Ausbildung benötigte, brachten die Missionsgeistlichen mit. In den Skriptorien der Klöster wurden sie kopiert und oft mit reichen Illustrationen ausgestattet: solche illuminierten Codices enthielten Psalterien, Sakramentare mit Mess- und Weiheformeln, Evangeliare und verschiedene Lektionare mit Lesungen aus dem Alten und Neuen Testament, darüber hinaus Gesangbücher, Sammlungen von Heiligenlegenden (Legendarien), Texte der Kirchenväter, exegetische und erbauliche Schriften, theologische Traktate sowie Texte, welche die wichtigsten Wissensbestände der Artes liberales (bestehend aus dem Trivium ‒ Grammatik, Rhetorik, Dialektik ‒ und dem Quadrivium ‒ Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) vermitteln sollten.

Zu den prachtvollsten frühen Werken im Betrachtungsraum gehören das exquisit illuminierte Cuthberht-Evangeliar aus der Schreibschule von St. Peter in Salzburg, das in der Zeit der Bischöfe Virgil oder Arn entstanden ist (Cod. Vind. 1224), und eine Handschrift [<<92] mit naturphilosophischen und chronologischen Texten mit den ältesten Monatsbildern (Cod. Vind. 387). Zwei der Legendarien aus diesem Skriptorium zählen zu den ältesten im deutschen Sprachraum überhaupt.

Memorialüberlieferung

Im Jahr 784 wurde noch unter Bischof Virgil der Liber confraternitatum, das Salzburger Verbrüderungsbuch, angelegt, ein Verzeichnis aller Lebenden und Toten, für die das Kloster eine Gebetsverpflichtung trug. Der ältere Teil der Handschrift – einer der ältesten in karolingischer Minuskel im Stil von St. Denis – reicht bis zum Ende des 9. Jahrhunderts und enthält etwa 8.000 Eintragungen, darunter die älteste Salzburger Bischofsreihe, die Namen der agilolfingischen Herzöge und fränkischen Könige mit ihren Frauen und Kindern, von Äbten und Äbtissinen, Grafen und Großen. Der jüngere Teil reicht von 1004 bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts. Vergleichbare Aufzeichnungen zur Bewahrung der memoria der Verstorbenen, um durch Gebet für ihr Seelenheil Sorge zu tragen, sind in den Nekrologen vieler Klöster erhalten und gehören zu den wichtigsten zeitgenössischen Quellen zur Rekonstruktion prosopographischer Daten und Beziehungskonfigurationen zwischen Menschen innerhalb und außerhalb geistlicher Institutionen. Für das frühmittelalterliche Mitteleuropa lässt sich anhand des Salzburger Liber confraternitatum gemeinsam mit dem Reichenauer Verbrüderungsbuch und dem Liber vitae aus Cividale ein guter Teil der bayerischen politischen und geistlichen Eliten und ihre Bemühungen um die Christianisierung der slawischen Großen wie der Bevölkerung im Donau- und Ostalpenraum und des bayerischen „Ostlandes“ (plaga orientalis) erschließen.

Eine Geschichte der Bekehrung der Bayern und Karantanen

Ein weiteres außergewöhnliches Beispiel der Salzburger Überlieferung sowohl hinsichtlich seines historischen Erkenntniswertes, mindestens genauso aber aufgrund seiner subtilen ré-écriture verschiedener Überlieferungsbestände und ihrer Integration in eine kirchenpolitische Denkschrift ist die von der modernen Geschichtsschreibung so genannte Conversio Bagoariorum et Carantanorum, die wohl 870 verfasst wurde und von Herwig Wolfram als „Weißbuch der Salzburger Kirche über die erfolgreiche Mission in Karantanien und Pannonien“ bezeichnet wurde (32013).

In den abermals mehr als hundert Jahren, die seit der bayerischen Bistumsorganisation durch Bonifatius vergangen waren, hatte sich die [<<93] bayerisch-salzburgische Mission parallel zur militärischen fränkisch-bayerischen Expansion nach Süd-Osten ausgedehnt, zunächst seit den 740er Jahren nach Karantanien. Davon erzählt die „Bekehrungsgeschichte“ im Rückblick aus der Perspektive des späten 9. Jahrhunderts, als es darum ging, die Ansprüche des Salzburger Erzbistums in Pannonien gegenüber den von Byzanz und später auch Rom unterstützten orthodoxen Missionsbestrebungen der Brüder Konstantin/Kyrill und Method zu verteidigen. Dementsprechend erzählt die Conversio eine bruchlose Geschichte der erfolgreichen Salzburger Mission und blendet dabei konsequent alle Ereignisse aus, die quer zu dieser Erfolgsgeschichte liegen.

Bayerische Mission in Karantanien

Denn der Zeitraum zwischen der bayerischen Karantanenmission und der Missionskonkurrenz seit den 860er Jahren ist geprägt von einer Vielzahl von Konflikten, die sich auch in der komplexen Geschichte der durchaus nicht widerstandslos erfolgten Verbreitung des Christentums in Karantanien äußern. 741/2 hatte der Karantanenfürst Boruth den Agilolfingerherzog Odilo gegen die Awaren zu Hilfe gerufen; der gemeinsam errungene Sieg führte allerdings zur politischen Abhängigkeit der Karantanen von den Bayern. In der Folge wechselten Bitten der Karantanen um Entsendung von Missionspriestern mit karantanischen Unruhen ab. Auf der kirchenpolitischen Ebene erhielt Salzburg päpstliche Bestätigungen seiner Zuständigkeit für Karantanien für diese Missionstätigkeit. Dass es daneben ebensolche Initiativen seitens Aquileias und Freisings gab, bleibt jedoch – der Intention der Schrift entsprechend – in der Conversio gänzlich unerwähnt.