Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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2.2.3 Linguistische Quellen zum Frühmittelalter: Zur Aussagekraft der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft
Joachim Matzinger, Wien

Zwei bedeutende historische Ereignisse haben die Sprachenlandschaft Südosteuropas vor dem Beginn der Neuzeit einschneidend verändert: Zum einen in antiker Zeit – zu Beginn des 2. vorchristlichen Jahrhunderts – die römische Eroberung, die als Folge der schrittweisen Eingliederung dieses Territoriums unter die Herrschaft Roms die lateinische Sprache als weitreichendes Kommunikationsmedium (d. h. als Sprache der Verwaltung, des Militärs, des Handels sowie der Neusiedler) nach Südosteuropa brachte; zum anderen am Ausgang der Antike ab ca. dem 6. Jahrhundert n. Chr. die Ankunft slawischer Verbände, die sich dauerhaft in Südosteuropa ansiedelten. Besonders die frühmittelalterlichen Veränderungen sind in schriftlichen Quellen kaum dokumentiert. Hauptzeugnis der sprachlich-ethnischen Verschiebungen sind die in Südosteuropa überlieferten Sprachen selbst. Diese werden von der vergleichenden Sprachwissenschaft erforscht. [<<71] Dieses Kapitel gibt einen vertieften Einblick in die Arbeits- und Denkweise einer Disziplin, von deren Befunden historische Forschung zum südosteuropäischen Frühmittelalter in hohem Maß abhängig ist.

Die antike Sprachenlandschaft Südosteuropas vor der Ausbreitung des Lateinischen kann folgendermaßen skizziert werden: Im Süden lag seit der Bronzezeit das Sprachgebiet des Griechischen. Griechische Kolonisierungstätigkeit und Binnenhandel brachten andere Bewohner Südosteuropas in Kontakt mit dem Griechischen (vor allem mit der hellenistischen Gemeinsprache, der sog. Koiné), das wegen des hohen Prestiges der materiellen und geistigen Kultur der Griechen die Funktion eines Ausdrucksmediums lokaler Eliten übernahm. Dies äußert sich u. a. darin, dass sich diese auf Inschriften des Griechischen bedienten und nicht ihrer eigenen Sprachen. Dieses hohe soziale Prestige des Griechischen als Sprache der „Kultiviertheit“ erklärt, warum in Südosteuropa nur wenige etwas längere Inschriften gefunden wurden, die in lokalen Sprachen verfasst sind. An der Adriaküste, von Epirus im Süden bis Istrien im Norden wird vielfach der Siedlungsraum der Illyrer angenommen. Während dieser illyrische Siedlungsraum nach einem heute überholten Forschungskonzept sogar noch viel weitergehend gefasst wurde (z. T. weite Gebiete Europas einnehmend), wird er nach neueren archäologischen sowie sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen nur noch im Bereich des heutigen Albaniens (Mittel- und Nordalbanien) und Montenegros mit ihren jeweiligen Hinterländern lokalisiert.

Die vielen lokalen Stämme nördlich Montenegros, d. h. auf dem Gebiet Dalmatiens, sollten hiervon besser getrennt werden, da ihre (sprachliche) Verbindung mit dem illyrischen Kerngebiet keineswegs gesichert ist. So hat z. B. die Sprachwissenschaft zeigen können, dass im Ostadriabereich mehrere ganz verschiedene Personennamengebiete vorliegen, von denen sich nur eines auch mit dem Siedlungsraum der eigentlichen Illyrer deckt. Im Osten, zur Schwarzmeerküste und Ägäis hin (heute Nordostgriechenland, Bulgarien und die europäische Türkei), liegt der Siedlungsraum jener zahlreichen Stämme, die mit dem allgemeinen Sammelbegriff Thraker benannt und denen auch die Geten im Donaudeltaraum zugerechnet werden.

Für alle jene Stämme wieder, die auf heute rumänischem Staatsgebiet siedelten (hauptsächlich im heutigen Siebenbürgen) und die [<<72] man zumeist ebenfalls zu den Thrakern zählt, kam seit dem 1. vorchristlichen Jahrhundert der gesonderte Begriff Daker auf. Die Sprache der im nördlichen Griechenland (d. h. nördlich von Thessalien) siedelnden Makedonen wird von der Sprachwissenschaft im Gegensatz zu früher heute nicht mehr als eigene Sprache, sondern vielmehr als nordwestgriechisch-dorischer Dialekt angesehen, der wie die übrigen altgriechischen Dialekte auch (abgesehen vom Überbleibsel des Tsakonischen auf der Peloponnes) zu Gunsten der hellenistischen Koiné aufgegeben wurde. Darüber hinaus siedelte auch im Inneren Südosteuropas eine Vielzahl von Stämmen, deren Einordnung allerdings nicht immer zu sichern ist.

Spärliche Belege der altbalkanischen Sprachen

Alle antiken lokalen Sprachen Südosteuropas können schließlich mit dem Begriff altbalkanische (bzw. paläobalkanische) Sprachen benannt werden. Ihre Beleglage ist marginal; es gibt nur eine Handvoll längerer thrakischer Inschriften, die sich – obgleich in griechischem Alphabet geschrieben – dennoch bis heute einer allgemein anerkannten Interpretation entziehen. Keine Inschriften hinterlassen haben die Daker (wie auch die Illyrer sowie alle übrigen altbalkanischen Stämme). Die Interpretation des altbalkanischen Sprachmaterials muss sich, da keine Textdenkmäler zur Verfügung stehen, daher auf andere Zeugnisse stützen. Hierzu gehören neben den bei antiken Autoren verzeichneten Glossenwörtern (d. h. Erklärungen fremder Wörter), deren Interpretation jedoch nicht immer zweifelsfrei ist, vor allem die zahlreich überlieferten Orts- und Personennamen, die den altbalkanischen Sprachen zuzuschreiben sind. Auf Grundlage dieser Namensbelege muss schließlich versucht werden, zumindest die Grundzüge der Lautsysteme dieser Sprachen zu ermitteln, da der Einblick in ihre Grammatik verwehrt bleibt, die bei Untersuchungen zum Sprachvergleich letzten Endes von ausschlaggebendem Wert ist.

Das genaue Schicksal der lokalen Sprachen im Gefolge der Ausbreitung des Lateinischen ist nur schwer zu bestimmen, gemeinsam ist ihnen allen aber, dass sie ausgestorben sind, bzw. präziser gesagt, zu Gunsten des Lateinischen allmählich aufgegeben wurden (abgesehen vom Griechischen und der Ausnahme des Albanischen; dazu im Folgenden). Dieser Vorgang war gewiss nicht einheitlich, sondern verlief örtlich und zeitlich unterschiedlich. Am schnellsten fasste das Lateinische in urbanen Siedlungen, erschlossenen Ebenen sowie [<<73] entlang der Verkehrswege Fuß, während damit gerechnet werden muss, dass lokale Sprachen in den Höhenlagen zunächst eine gewisse Zeit lang noch weiter gesprochen wurden.

Die sprachliche Neuformierung des Balkans

Nachdem für den Ausgang der Antike anzunehmen ist, dass ein weitreichender Teil Südosteuropas (von Griechenland und griechisch geprägten Siedlungen abgesehen) zur lateinischen Sprache übergewechselt ist, hat die Ankunft der slawischen Verbände, die zunächst die Ebenen in Besitz genommen haben, dazu geführt, dass die lateinische Sprachlichkeit erschüttert wurde.

Das Lateinische findet sich in der Folge einerseits noch in den urbanen Bereichen an der Adriaküste. Denn in den Städten an der Adria (so z. B. in Dubrovnik/Ragusa) entwickelte sich – im Unterschied zum slawischen Hinterland – aus dem Latein jene romanische Sprachform, die Dalmatisch genannt wird, jedoch im Spätmittelalter unter dem Druck des Venezianischen und des Slawischen ausgestorben ist (ein letzter Rest hielt sich jedoch noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf der Insel Krk/Veglia).

Aus dem Latein jener Sprecher wieder, von denen angenommen werden kann, dass sie sich in die Höhenlagen zurückgezogen hatten, wofür das rumänische Lexikon Hinweise gerade im Bereich der Hirtenterminologie liefert, entwickelte sich andererseits das Urrumänische. Von diesem leiten sich die modernen erhaltenen ostromanischen Sprachen her: das norddanubische (Dako)rumänische und die kleinen süddanubischen Sprachen Aromunisch (in Albanien, Mazedonien und Griechenland), Meglenorumänisch (in Griechenland) sowie Istrorumänisch (auf Istrien). Aus dem Slawischen schließlich, das bei Ankunft seiner Sprecher, wie die Daten der historischen slawischen Linguistik nahelegen, noch einheitlich war, entstanden im Verlauf der Zeit durch Differenzierungsprozesse die heute in Südosteuropa gesprochenen südslawischen Sprachen. Den modernen Fortsetzern der hellenistischen Koiné (Neugriechisch), des Lateinischen (Rumänisch sowie die anderen Kleinsprachen) und des Slawischen (Bulgarisch, Mazedonisch, Serbisch-Kroatisch, Slowenisch) ist gemein, dass ihre Sprachgeschichte auf Grund der Tatsache, dass ihre Vorstufen gut bezeugt und auch reichlich Textdokumente vorhanden sind, recht gut nachverfolgt werden kann, ihre Herkunft und Entwicklung ist daher kein besonderes Forschungsproblem. [<<74]

Das Beispiel des Albanischen

Anders stellt sich die Lage beim Albanischen dar, das die Forschung schon bald als eine eigenständige indogermanische Sprache identifiziert hat. Seine Dokumentation setzt nämlich von Namens- und Einzelwortbelegen sowie in spätmittelalterlichen lateinischen und griechischen Handschriften überlieferten kleinen Sätzchen abgesehen erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts ein (1555 mit dem Seelsorgehandbuch des katholischen Priesters Gjon Buzuku). Die albanische Sprachgeschichte vor diesem Zeitpunkt kann mangels schriftlicher Zeugnisse daher nur auf dem Weg des Sprachvergleichs und der sogenannten internen Rekonstruktion erschlossen werden. Dies wird im Folgenden näher erläutert. Hier bewährt sich die Tatsache, dass die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft als eine seit langer Zeit erprobte linguistische Disziplin, die ihre Methodik im Zusammenspiel mit anderen linguistischen Forschungsrichtungen kontinuierlich verfeinert, über die nötigen Instrumentarien dazu verfügt. So konnte aus dem Sprachvergleich der indogermanischen Einzelsprachen das lautliche und grammatische System des Urindogermanischen rekonstruiert werden, d. h. jene rekonstruierte Sprachform, die auch als Ursprung des Albanischen vorauszusetzen ist.

Darüber hinaus wurde aus Sprachen mit langer schriftlicher Überlieferungsgeschichte die Methode der internen Rekonstruktion entwickelt, mit deren Hilfe es möglich ist, innerhalb einer Sprache historische sprachinterne Veränderungen in der Laut- und Formenlehre nachzuvollziehen. Der Sprachvergleich und besonders die interne Rekonstruktion ermöglichen es, die schriftlose Sprachgeschichte von erst spät belegten Sprachen wie dem Albanischen sehr zuverlässig zu ermitteln. Zum Tragen kommt hierbei das empirische Prinzip der relativen Chronologie, das besagt, dass auch wenn der exakte Zeitpunkt z. B. eines Lautwandels nicht datiert werden kann, so doch die zeitliche Abfolge der einzelnen lautlichen Wandel innerhalb einer Sprache bestimmbar ist, womit erkennbar wird, wo es sich um einen früheren und wo um einen späteren Wandel handelt.

 

Illyrisch und Albanisch

Da das Albanische heute auf jenem Territorium gesprochen wird, das in der Antike von illyrischen Stämmen besiedelt wurde, wurde a priori angenommen, dass es sich beim Albanischen um eine kontinuierliche moderne Fortsetzung des Illyrischen handeln muss. Die Befürworter dieser Herleitung, die sich in albanischen Handbüchern [<<75] trotz schwerwiegender Kritikpunkte gleichsam konkurrenzlos durchgesetzt hat, führen zur Bekräftigung neben archäologischen gerade auch sprachwissenschaftliche Argumente an. Sie sollen im Folgenden zur Erläuterung der methodischen Analyseweisen skizziert und kritisch überprüft werden.

Lautgesetze als Schlüssel zur altbalkanischen Geschichte

Da das antike Illyrische nicht in Textzeugnissen überliefert und das Albanische erst neuzeitlich belegt ist, ergeben sich bei einem Vergleich dieser beiden Größen zwei Schwierigkeiten: zum einen eine zeitliche Distanz von ca. 1500 Jahren und zum anderen eine Ungleichmäßigkeit der jeweiligen Beleglage. Da die für einen Sprachvergleich primär aussagekräftige Komponente der Grammatik für das Illyrische völlig fehlt, müssen sich alle Hypothesen bei einem Vergleich des Albanischen mit dem Illyrischen auf einen Abgleich der Lautsysteme dieser beiden Sprachen stützen. Dies unternehmen auch die Vertreter einer Abstammung des Albanischen vom Illyrischen, indem sie postulieren, dass die auf dem Territorium Albaniens bezeugten antiken illyrischen Ortsnamen nach typisch albanischen Lautentwicklungen zu den modernen Formen weiterentwickelt worden sind (eine weitreichende Folge dieser Hypothese ist dann auch die Annahme einer Autochthonie (Alteingesessenheit) der Albaner auf ihrem Siedlungsgebiet). So wird z. B. auf eine albanische Lautentwicklung beim Namen der antiken Stadt Scodra (einem der Hauptorte der Illyrer) hingewiesen: Die albanische Form des Ortsnamens Shkodra zeige als Fortsetzer der antiken Namensform, dass deren Lautverbindung sk als shk erscheint, was so nur im Albanischen möglich ist – im Gegensatz etwa zur slawischen Namensform Skadar.

Nun handelt es sich bei der Wiedergabe des antiken sk als shk in der Tat um eine typisch albanische Erscheinung, aber bei genauem Hinsehen zeigt sich auch, dass diese Wiedergabe nur bei Wörtern zu finden ist, die das Albanische aus dem Altgriechischen, vor allem aber so zahlreich aus dem Lateinischen entlehnt hat. In den Wörtern, die das Albanische direkt aus seiner Vorstufe, dem Urindogermanischen, als Erbwörter fortgeführt hat, ist die Lautverbindung sk hingegen ganz anders entwickelt worden, nämlich zum Laut h, so z. B. in dem Verbum mih „graben, umgraben“, das mit dem deutschen Verbum mischen verwandt ist und die beide auf einer rekonstruierten urindogermanischen Vorform *misḱe/o- „mischen“ beruhen (Rekonstruierte [<<76] sowie unbelegte bzw. nur hypothetisch gebildete Vorformen werden in der Linguistik mit einem hochgestellten Sternchen gekennzeichnet).

Beim Ortsnamen alban. Shkodra muss auch sein Vokal o einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Die Entsprechung des alban. o mit dem o der antiken Namensform ist gleichfalls ein Phänomen, das so nur bei Wörtern beobachtet werden kann, die das Albanische entlehnt hat, vgl. alban. korb „Rabe“, das vom gleichbedeutenden lateinischen corvus abstammt. In albanischen Erbwörtern wiederum hat man es dagegen mit einer völlig anderen Entwicklung des urindogermanischen Vokals o zu tun, der, wie aus der relativen Chronologie klar hervorgeht, sehr frühzeitig schon zu einem a geworden ist, wie in dem Beispiel von natë „Nacht“ aus urindogermanisch *nokwt- (von dem auch gleichbedeutend lateinisch nox, Genetiv noctis herstammt).

Das bedeutet, dass eine ältere Sprachform des Albanischen, Uralbanisch genannt, somit keinen Vokal o mehr gekannt hat. Erst in einer späteren Periode seiner Sprachentwicklung ist dann sekundär wieder ein Vokal o entstanden, der sich aus den urindogermanischen Langvokalen ā und ē entwickelt hat (beide wurden zunächst zu uralban. ā, ehe dieses später zu o verändert wurde, vgl. z. B. alban. motër „Schwester“ aus urindogermanisch *māter- „Mutter“ gegenüber lateinisch māter). Dieses (ca. zwischen dem 1. und 2. nachchristlichen Jahrhundert) erst sekundär entstandene o wurde dann als geeigneter Ersatzvokal verwendet, um das o in den lateinischen Lehnwörtern wiederzugeben.

Aus diesen Befunden geht daher klar hervor, dass die albanische Namensform Shkodra typische Merkmale aufweist, die nicht die ererbten Wörter des Albanischen kennzeichnen, sondern nur seine Lehnwörter. Im Rahmen der Hypothese einer linearen illyrisch-albanischen Sprachkontinuität sollte aber auch der antike Ortsname Scodra, der seit ca. dem 4. vorchristlichen Jahrhundert inschriftlich auf Münzen bezeugt ist, ebenfalls linear im Albanischen fortgeführt worden sein, und mithin sollte er nach dem eben Gesagten die lautlichen Merkmale eines albanischen Erbwortes aufweisen (hierbei wäre eine hypothetische Namensform *Hadra zu erwarten gewesen).

Die sorgfältige Untersuchung der Fortführung antiker Ortsnamen im Albanischen lässt somit gesicherte Rückschlüsse auf die Lautsysteme des Illyrischen und des zeitgleichen Uralbanischen zu: während [<<77] das Illyrische, wie es der Ortsname Scodra zeigt, einen Vokal o sowie eine Lautverbindung sk aufwies, waren diese dem Uralbanischen unbekannt (urindogermanisches o war bereits zu a geworden und sk hatte sich zu h entwickelt). Diese entsprechend den linguistischen Grundprinzipien unüberwindbaren lautlichen Diskrepanzen offenbaren, dass es sich hier um zwei unterschiedliche Lautsysteme und damit auch um zwei verschiedene Sprachen handelt. Das Albanische kann deshalb weder mit dem Illyrischen gleichgesetzt, noch direkt von ihm hergeleitet werden. Durch seine lautliche Wiedergabe im Albanischen verrät der Ortsname Shkodra somit, dass er erst in einer späteren Periode des Uralbanischen von dessen Sprechern aufgenommen wurde, wobei fremdes o durch erst neu entwickeltes o und die Lautgruppe sk mit shk ersetzt wurde. Einer Kontinuität bzw. Autochthonie von Albanern in diesem Raum widerspricht dieser sprachliche Befund. So verhält es sich aber nicht nur bei der Lautgeschichte von Shkodra, auch alle anderen Orts-, und ebenso die Flussnamen, die auf dem antiken Gebiet des heutigen Albaniens bezeugt sind, zeigen bei ihrer Erhaltung gleichfalls nur solche Lautersetzungen, die für Lehnwörter im Albanischen charakteristisch sind. In diesem Zusammenhang darf auch nicht übersehen werden, dass ein großer Teil der heute in Albanien zu findenden geographischen Namensgebung ohne Zweifel sogar erst aus den südslawischen Sprachen übernommen worden ist. Dieser Befund widerspricht somit ganz deutlich der Annahme, wonach die Albaner als vermeintlich Autochthone die heutigen Nachkommen der antiken Illyrer sein sollen und legt zugleich nahe, dass die Albaner in ihren bekannten Siedlungsraum erst zugewandert sein müssen.

Alteingesessene oder Zuwanderer?

In der Tat wurde in der Forschung schon frühzeitig als Gegenentwurf zur Autochthoniehypothese der Albaner die Hypothese ihrer Zuwanderung aufgestellt. Diese sogenannte Admigrationshypothese widerspricht aber nicht nur einer illyrischen Herkunft der Albaner und des Albanischen, sondern versucht gleichzeitig auch, die Frage der Herkunft mit der Behauptung zu beantworten, dass das Albanische vom Thrakischen herzuleiten sei. Dieser vermeintlich thrakischen Herkunft (im Besonderen vom thrakischen Stamm der Bessen) kann wegen der eingeschränkten Beleglage des Thrakischen wiederum nur durch eine Konfrontation der Lautsysteme der beiden Sprachen [<<78] nachgegangen werden. Jedoch ergeben sich auch bei diesem Vergleich klare Diskrepanzen, die deutlich machen, dass die Lautsysteme des Thrakischen und Uralbanischen nicht deckungsgleich sind und somit zwei verschiedene Sprachen vorliegen müssen.

Ist das Albanische aber weder illyrischer noch thrakischer Herkunft, so bleibt nur der Schluss, dass es vielmehr eine andere altbalkanische Sprache fortsetzt, die unabhängig neben dem Illyrischen und Thrakischen gesprochen und trotz der intensiven Sprachkontakte mit dem Lateinischen sowie später auch dem Slawischen weder romanisiert noch slawisiert wurde, ähnlich wie das keltische Walisische (bzw. Kymrische) überlebte, das im Rückzugsgebiet walisischer Höhenlagen trotz eines ebenso intensiven Sprachkontakts mit dem Lateinischen weder romanisiert wurde, noch im Folgenden dem Angelsächsischen (Altenglischen) unterlegen ist.

Intensiver Sprachkontakt zwischen verschiedenen Sprachen und daraus resultierende Vielsprachigkeit ist im Übrigen ein Charakteristikum auch des nachantiken Südosteuropa, denn die hier gesprochenen Sprachen haben in jeweils mehr oder weniger hohem Grad spezifische Übereinstimmungen in Grammatik, Satzbau, Wortschatz und Redewendungen ausgebildet, die sogenannten Balkanismen, die besonders zahlreich im Albanischen, Mazedonischen und Aromunischen verbreitet sind. Als Benennung dieser sprachlichen Übereinstimmungen hat sich der Terminus Balkansprachbund eingebürgert, die Disziplin, die diese Phänomene untersucht, ist die Balkanlinguistik.

Führt die sprachwissenschaftliche Analyse zu der Erkenntnis, dass das Albanische weder illyrisch noch thrakisch ist und die Albaner nach Ausweis der lautlichen Entwicklung der Orts- und Flussnamen erst zugewandert sein müssen, stellt sich sofort die Frage, woher diese Zuwanderung erfolgt ist und ob die Sprachwissenschaft auch hierauf eine Antwort geben kann. In der Tat gibt es indirekte Hinweise, dass diese Zuwanderung aus den inneren Regionen Südosteuropas erfolgt sein muss. Einer dieser Hinweise besteht darin, dass das Albanische mit dem Rumänischen eine Reihe von Wörtern gemeinsam hat, besonders in der Domäne der Kleinviehhaltung. Dabei handelt es sich einerseits um Wörter, die exklusiv nur diesen beiden Sprachen gemeinsam sind und den Charakter von Erbwörtern aufweisen, sowie andererseits um lateinische Lehnwörter, die gleichfalls nur im Albanischen und [<<79] Rumänischen in dieser Form erhalten sind. Diese Gemeinsamkeiten können aus einem direkten Sprachkontakt auf einer früheren Zeitstufe erklärt werden, d. h. die heute geographisch weit voneinander getrennt lebenden Sprecher des Albanischen und des Rumänischen müssen sich zwischen nachantiker und frühmittelalterlicher Zeit in einer geographisch unmittelbaren soziokulturellen Symbiose und in engem Sprachkontakt befunden haben.

Da aus sprachwissenschaftlicher Sicht auch der nahezu von der gesamten rumänischen Linguistik vertretenen Hypothese einer Entstehung des Rumänischen nördlich der Donau mit gewichtigen Argumenten zu widersprechen ist, ergibt sich so ein weiterer Hinweis darauf, dass das albanisch-rumänische Kontaktgebiet einst im Inneren Südosteuropas gelegen haben muss. Speziell für die Gruppe der gemeinsamen Wörter, die sich auf die Kleinviehhaltung beziehen und die nicht gemeinsamer lateinischer Herkunft sind (z. B. albanisch thark, rumänisch ţarc „(geflochtene Kleinviehhürde“), hat sich die Ansicht eingebürgert, dass diese gleichfalls Lehnwörter (sog. Substratwörter) sein sollen, und zwar aus einer altbalkanischen Sprache, die meist mit der Sprache der Daker identifiziert wird. Aber dieser Substrathypothese wurde auch schon früh von Teilen der Sprachwissenschaft widersprochen, die in vielen dieser Wörter uralbanische Lehnwörter erkennt, die ins Urrumänische aufgenommen wurden. Dass diese Auffassung zutrifft, kann in einer Reihe von Fällen tatsächlich an Hand der lautlichen Struktur dieser Wörter nachgewiesen werden. Im Fall von albanisch thark, rumänisch ţarc (aus einem uralbanischen *tsarka- entlehnt), das im Rumänischen isoliert ist, zeigt sich auch, dass das albanische Wort eben nur im Albanischen gut versippt ist, wo auch das zu Grunde liegende Verbum thur „flechten“ belegt ist, von dem dieses Substantiv abgeleitet ist.

Ein anderer Hinweis auf eine Herkunft der Albaner aus dem Inneren Südosteuropas ist ferner auch der Umstand, dass die historische Lautgeschichte einiger antiker, heute auf ausschließlich slawischem Sprachgebiet befindlicher Ortsnamen nicht mit slawischen Lautentwicklungen erklärbar ist, sondern vielmehr Lautentwicklungen vorliegen, die für das Albanische typisch sind. Ein solcher Fall ist z. B. Niš (aus antikem Naissus), dessen heutige Namensform (der Vokal i und das auslautende š) eben nicht mit slawischen Regeln erklärbar ist, [<<80] sehr wohl aber mit albanischen. Ist die Annahme einer Zuwanderung der Albaner aus sprachwissenschaftlicher Perspektive zwar überaus wahrscheinlich, so ist in der lebhaft geführten Diskussion nach wie vor die Frage ungelöst, woher ursprünglich und wann genau diese Zuwanderung erfolgt ist, d. h. ob noch in (nach)antiker Zeit oder erst im Frühmittelalter.

 

Forschungsergebnisse und ihre politische Dimension

Die Untersuchung der historischen Lautgeschichte der geographischen Namen Südosteuropas kann, wenn sie objektiv und frei von nationalistischen und anderen ideologischen Vorgaben oder Erwartungshaltungen durchgeführt wird, eine Reihe von recht gezielten Aussagen über schriftlose Perioden treffen. Auf berechtigte Fragen von Herkunft, früherer Siedlungsgeschichte und möglicher Migrationen können durchaus grundlegende Antworten gegeben werden. Die Daten der Linguistik zeigen, dass sich das wenige sprachliche Material der alten Balkansprachen Illyrisch und Thrakisch nicht mit den linguistischen Daten des Albanischen, im Speziellen mit den Daten des zeitgleichen, d. h. antiken Uralbanischen, in Übereinstimmung bringen lässt. So lässt sich sagen, dass das heutige Albanische die moderne Fortsetzung einer altbalkanischen Sprache darstellt, die einzige überhaupt, die unabhängig sowohl vom Illyrischen als auch vom Thrakischen ihren Weg in die Neuzeit gefunden hat, und deren Sprecher außerdem in ihr Siedlungsgebiet in Albanien erst zugewandert sein müssen. Allerdings, auch wenn erste Ansätze bereits unternommen wurden, so steht die wertfreie Untersuchung wie Auswertung solcher Befunde in großen Teilen noch aus; das geographische Namensmaterial ist sehr umfangreich und ein großer Teil der vorhandenen Literatur noch ideologiebeladen oder inzwischen methodisch stark veraltet, sodass in den meisten Fällen die Analyse erneut begonnen werden muss.

Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft ist eine von ihrer Ausrichtung und Methodik her geeignete Disziplin für diese Aufgabe, die im Zusammenspiel und Dialog mit anderen linguistisch-philologischen Fachrichtungen (Klassische Philologie, Gräzistik, Slawistik, Romanistik, Byzantinistik) und der Geschichtswissenschaft die Untersuchung dieser Fragen in Angriff nehmen kann. Sie in absehbarer Zukunft zu beantworten, ist Aufgabe und Ziel von kontinuierlichen interdisziplinären Forschungsbemühungen. [<<81]