Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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Ein übergreifender Ansatz wird demgegenüber versuchen, grundlegende Entwicklungen der Epoche zu begreifen. Dazu zählen die Transformation der spätantiken christlichen Kultur in Mitteleuropa und die erneute Christianisierung weiter Teile Südosteuropas sowie die langsame Herausbildung einer neuen Herrschaftswelt in Mittel- und Südosteuropa, die wesentlich mit der Integration germanischer und slawischer Gruppen sowie von Steppen-„Völkern“ (in einem nicht ethnisch essentialisierenden Sinn der Begriffe) verbunden ist. Beide Prozesse – kirchliche Verstetigung und Mission sowie politische Stabilisierung – sind dabei auf das engste verwoben, wie am Beispiel der sogenannten „Slawenmission“ gezeigt werden wird, einer Bewegung, die vor allem von Rom und Konstantinopel ausging und die gesamteuropäischen Bezüge unseres Betrachtungsraumes besonders deutlich vor Augen führt.

2.2.1 Spätantike Karten: Die Tabula Peutingeriana

Imperiale Herrschaftsansprüche

Das mittelalterliche Straßennetz Mittel- und Südeuropas basiert in seinen Grundzügen auf den seit der Spätantike bestehenden Verkehrswegen. Straßen als Verbindungslinien zwischen einem Ausgangspunkt und einem Ziel beschreiben die lineare Wahrnehmung eines Raumes. Meilensteine mit Entfernungsangaben sind wichtige Bestandteile des spätantiken Systems der Verkehrserschließung. Beides kann auch als Ausdruck der imperialen Herrschaftsansprüche des Römischen Reichs in seinen Provinzen verstanden werden. Beredtes Beispiel dafür sind fünf erhaltene Kalksteintafeln aus Spalato/Split, deren Inschriften die Gliederung der neuen Provinz Dalmatien in fünf von Salona/Solin ausgehenden Hauptrouten darstellen. Die Tafeln dokumentieren die Strukturierung der Provinz durch die neu angelegten und vermessenen Straßen: nach Norden ad fines provinciae Illyrici in Richtung Servitium/Bosanska Gradiška, nach Andetrium/Gornji Muć, nach Castellum [<<61] Hedum/Podgora bei Breza, zum Fluss Batinus/Bosna und zur Passhöhe Ulcirus (bei Strumica).

Ähnliche Funktion haben auch die spätantiken Routenverzeichnisse, die Itinerarien, wie etwa das Itinerarium Antonini. Es ist zugleich die inhaltliche Basis des einzigen, in einer mittelalterlichen Kopie des 12. bzw. frühen 13. Jahrhunderts überlieferten Exemplars einer spätrömischen Straßenkarte, der Tabula Peutingeriana (Abb 2). Auf 11 Pergamentblättern in Form eines Pergamentstreifens mit einem Gesamtmaß von 34 × 674,5 cm, der ursprünglich wohl als Rotulus – als Schriftrolle – konzipiert war, werden die großen Straßenverbindungen des Römischen Reichs dargestellt. Die graphische Übersicht gibt nicht nur einen Einblick in die Verkehrssituation zwischen Adria und Donau, sondern des gesamten Raumes vom Atlantik bis nach Indien.


Abb 2 Tabula Peutingeriana, um 1200. Segment 5 der Tabula itineraria orbis romani mit Teilen des heutigen Serbien, Kroatien, Italien und Tunesien; die ursprünglich als Rolle angelegte Darstellung von Verkehrsverbindungen mit einer Größe von 34 × 674,5 cm wird in 11 Segmenten aufbewahrt. [Bildnachweis]

Mit unterschiedlichen Hilfsmitteln wie Farben und Piktogrammen (Vignetten) werden Straßenverläufe, Städtenamen, Wegstationen und landschaftliche Gegebenheiten dargestellt und vermitteln den Eindruck eines weit verzweigten und gut organisierten Verkehrssystems. Zudem sind Entfernungsangaben in römischen Meilen bzw. keltischer Leuga (Gallien) ausgewiesen. Die etwa 4000 eingezeichneten Ortsangaben erfahren durch unterschiedliche Vignetten eine inhaltliche Differenzierung: Sie verweisen auf römische Villen mit Beherbergungspflicht, die oft zusätzlich mit Thermen, Tempeln oder Altären ausgestattet waren. Vignetten für Hafenanlagen und Leuchttürme sowie Straßentunnel zeichnen spezielle Routensituationen aus. Besonders auffällig sind die Städte Rom, Konstantinopel und Antiochia markiert. Die Darstellungen von allegorischen Personifikationen der Stadt oder der jeweiligen Stadtgottheit bringen den hohen Stellenwert der drei Städte in der Vorstellungswelt des Römischen Imperiums zum Ausdruck. Doch auch die christliche Perspektive fand Eingang in die Symbolik der Tabula Peutingeriana. So wurden die Hauptziele des spätantiken Pilgerwesens, die Peterskirche in Rom sowie das Heilige Land mit dem Ölberg und dem Sinaigebiet besonders hervorgehoben.

Die Tabula Peutingeriana veranschaulicht das Imperium Romanum und die angrenzenden Gebiete: Teile des heutigen England, Nordspanien, Frankreich und Mitteleuropa bis zur Donau; im Süden erstreckt sich die Darstellung der Regionen bis auf das Gebiet des heutigen Nordafrika, im Osten bis nach Indien. Manche der nicht dargestellten [<<62] Teile werden auf nicht mehr zu rekonstruierende Blattverluste zurückgeführt. Prominent im Zentrum befindet sich Rom, flankiert von Italien und jeweils links und rechts von den Gebieten im Osten und Westen. Dem Betrachter wird aus der Perspektive Roms die eroberte Welt vor Augen geführt.

Entstehungszusammenhänge

Nicht vollständig geklärt sind die antiken Entstehungszusammenhänge dieser Karte. Inhaltlich basiert sie auf dem Itinerarium Antonini (Itinerarium provinciarum Antonini Augusti), einem Reisehandbuch aus der Zeit um 300 n. Chr., das die wichtigsten Straßenverbindungen mit Angaben von Orten, Stationen und Entfernungsangaben in Form von Listen beschreibt. In der spätantiken Tradition entstand eine Reihe von Werken, die zunächst dem praktischen Gebrauch und der Verwaltung dienten, darüber hinaus jedoch auch Funktionen der räumlichen und politischen Repräsentation übernehmen konnten. Dies zeigt sich schon in der Größe und graphischen Gestaltung der Karte, die in Form eines relativ schmalen, aber sehr langen, zu einem Rotulus gerollten Streifens die geographische Ausdehnung des gesamten römischen Machtbereichs darstellen konnte.

Lange Zeit führte die Forschung die erhaltene mittelalterliche Kopie der Tabula Peutingeriana auf eine existierende Weltkarte des [<<63] Römischen Imperium zurück. Eine erste Fassung soll auf die berühmte Karte des römischen Feldherrn Agrippa († 12 v. Chr.) zurückgehen, die er in einer von ihm erbauten Säulenhalle in Rom anbringen ließ. Denn einige Details der Darstellung, wie etwa die Unversehrtheit der bereits 79. n. Chr. durch den Ausbruch des Vulkans Vesuv zerstörten Stadt Pompeji legen eine inhaltlich ältere Konzeption der Karte nahe. Das Vorbild der Wandflächen entlang einer Säulenhalle sei auch der Grund für die auffällige Form der Tabula, wird von der Forschung vermutet.

Neuere Studien weisen jedoch sehr nachdrücklich auf eine andere Dimension des Rückgriffes auf antike Vorbilder hin. Sie sehen den Entstehungszusammenhang der Tabula Peutingeriana in der Funktion einer Weltkarte, die karolingische Welt des 9. und 10. Jahrhunderts mit ihren Macht- und Herrschaftsansprüchen in der Tradition des Imperium Romanum bildlich auszudrücken. So könnte gemäß dem wenig konkreten Eintrag mappa mundi in rotulis in einem Bücherverzeichnis des frühen 9. Jahrhunderts eine erste Vorlage der um 1200 entstandenen Abschrift möglicherweise aus der Abtei Reichenau stammen. Das Benediktinerstift am Bodensee gilt als ein Zentrum der „karolingischen Renaissance“.

Doch dann schweigen die Quellen bis ins 16. Jahrhundert. Erst mit dem Interesse des Humanisten, Dichters und Gelehrten Conrad Celtis († 1508) an antiker Kartographie fand die Karte wieder Eingang in das gelehrte Wissen der Zeit. Celtis, Professor für Rhetorik und Poetik in Wien, entdeckte das Dokument in einem süddeutschen Kloster und vererbte es testamentarisch seinem Freund Konrad Peutinger († 1547), einem vermögenden Augsburger Kaufmann und Humanisten, mit dem Auftrag, es der gelehrten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nach ihm wurde das einzigartige Dokument einander überlagernder spätantik-mittelalterlicher Raumkonstruktionen schließlich in der Forschung auch benannt. Peutinger hatte sich bereits um eine kaiserliche Druckerlaubnis beworben, konnte jedoch sein Vorhaben nicht mehr ausführen. Als Teil der Peutinger’schen Bibliothek geriet die Karte wieder in Vergessenheit. Erst 1720 gelangte sie über die Sammlung des kaiserlichen Feldherrn Prinz Eugen von Savoyen wieder zurück nach Wien in die kaiserliche Hofbibliothek. Die Tabula Peutingeriana wird heute in den Beständen der Wiener [<<64] Nationalbibliothek aufbewahrt und zählt seit dem Jahr 2006 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe.

2.2.2 Spätantike Epigraphik und das Ende der Alten Welt (300–500)
Fritz Mitthof, Wien

Inschriften im öffentlichen Raum

Die Allgegenwart von Inschriften unterschiedlichster Gattungen auf dauerhaften Schriftträgern wie Stein oder Bronze war in der römischen Kaiserzeit ein grundlegender Bestandteil des öffentlichen Lebens. Die Städte des Imperium Romanum boten in vielfältiger Weise Raum für die inschriftengestützte Kommunikation zwischen Herrscher, Herrschaftsapparat, Reichselite, örtlicher Elite und Unterschichten: zunächst auf dem forum, dem zentralen Platz und Ort offizieller Verlautbarungen ebenso wie der Ehrung herausragender Persönlichkeiten, sodann in den öffentlichen Gebäuden, Tempeln, Kultstätten und Privathäusern der Vornehmen, die mit Bau-, Weih- und Ehreninschriften geschmückt waren, sowie in den Nekropolen, die sich vor den Toren der Stadt entlang der Zufahrtsstraßen hinzogen und zahllose Grabmonumente beherbergten – ganz abgesehen schließlich von den Graffiti und Dipinti, mit Griffel geritzten oder mit Pinsel gemalten Kurzmitteilungen jeden erdenklichen Genres, mit denen Bauwerke und Monumente überzogen waren. Diese enorme Masse an Texten, deren Urheber alle sozialen Schichten repräsentierten und deren Adressatenkreis je nach Inhalt, Kontext und Zugänglichkeit der jeweiligen Inschrift variierte, bewirkte einen dauernden Dialog zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Inschriften entwickelten sich somit in der Kaiserzeit zum Medium par excellence für politisch-gesellschaftliche Diskurse zu Themen wie Herrschaftslegitimation, Definition und Hierarchisierung sozialer Gruppen, Funktion und Selbstrepräsentation der Eliten, Erinnerungskultur und Identität.

 

Formen privater Schriftlichkeit

Neben dieser „monumentalen“, auf eine möglichst breite und nachhaltige Interaktion abzielenden Form von Schriftlichkeit bestand eine weitere, die den Zwecken der Verwaltung, des Rechts- und Geschäftslebens und der häuslich-privaten Sphäre gewidmet war und sich vergänglicher Beschreibstoffe wie Papyrus und Holztäfelchen und damit auch kursiver Schriften bediente. [<<65]

Überlieferungschancen

Die erhaltenen und von der Forschung erschlossenen Reste dieser beiden Bereiche von Schriftlichkeit bieten uns kein genaues Abbild der ursprünglichen Verhältnisse, da die Materialien, die in der Antike als Schriftträger dienten, in sehr unterschiedlichem Maße der natürlichen Zersetzung oder mutwilligen Zerstörung ausgesetzt waren, so etwa organische Stoffe wie Papyrus und Holz durch Verrottung, Metall durch Einschmelzen oder Marmor durch Kalkbrennerei. Verzerrt ist das Bild auch durch solche Faktoren wie die höchst unterschiedliche Intensität einerseits späterer Überbauung und andererseits der archäologischen Erforschung antiker Siedlungen. Dennoch eröffnen Inschriften als authentische Primärzeugnisse tiefe Einblicke in die antike Lebenswelt, und dabei vor allem in solche Bereiche, über die uns die übrigen Quellen kaum oder gar keine Auskunft geben. In der Gesamtschau betrachtet, d. h. nach Zusammenführung und Vergleich aller Einzeldaten, lassen sich aus den Inschriften grundlegende Erkenntnisse gewinnen, und nicht nur ihre Zahl, sondern auch ihre Bedeutung für die Erforschung der römischen Kaiserzeit nimmt von Jahr zu Jahr stetig zu.

Die Blütezeit der monumentalen Inschriftenkultur Roms lag in den Provinzen des lateinischen Westens zwischen dem späten 1. und frühen 3. Jahrhundert n. Chr. Um die Mitte des 3. Jahrhunderts setzt allerdings ein dramatischer Wandel ein, als dessen primäre Ursache die allgemeine Reichskrise gelten darf. Zahlenmäßig ist ein extremer Schwund zu verzeichnen, und qualitativ sticht die geringe Sorgfalt in der Ausführung der epigraphischen Monumente ins Auge. Das Schriftbild erscheint nachlässig, und oftmals greift man nunmehr auf ältere Steinblöcke oder -platten zurück, um diese einer Zweitverwendung zuzuführen, wobei die Erstbeschriftung getilgt oder der neue Text auf der Rückseite des Monuments angebracht wird.

Forschungsgeschichte

In der älteren Forschung ist der Einschnitt des 3. Jahrhunderts als Symptom des allgemeinen Niedergangs und Verfalls des Reichs betrachtet worden. Spätantike Inschriften wurden daher lange Zeit nur insofern gewürdigt, als sie den Prozess der Christianisierung beleuchten, und aus dieser Haltung heraus entstand bereits im 19. Jahrhundert die „Christliche Epigraphik“ als eigenständige Disziplin. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Bewertung des mit Diokletian (284–305) und Konstantin (306–337) beginnenden post-tetrarchischen Zeitalters allerdings deutlich gewandelt. Die Spätantike wird nicht [<<66] mehr als Verfallszeit oder Übergangsphase, sondern als selbständige Epoche mit eigenen Leistungen und eigener Bedeutung gewürdigt. Dies hat zur Folge, dass mittlerweile auch die epigraphische Kultur der Spätantike als „drittes Zeitalter“ der lateinischen Epigraphik eingestuft wird. Besonders die letzten zehn Jahre haben eine enorme Zunahme an derartigen Forschungen gesehen. Diese Entwicklung bringt es mit sich, dass die traditionelle Scheidung von Inschriften aus nach-konstantinischer Zeit in christliche und nicht-christliche nicht mehr als sinnvoll gilt, da sich eine solche Trennlinie nicht scharf ziehen lässt und überdies moderner Perspektive entspringt.

In der neuesten Forschung gilt als anerkannt, dass nach dem vorübergehenden Einbruch des 3. Jahrhunderts seit dem Beginn des Zeitalters der Tetrarchen („Vierherrscher“, d. h. die beiden Augusti und die beiden Caesares nach dem von Kaiser Diokletian eingeführten Herrschaftssystem) eine neue Blüte der Inschriftenkultur zu beobachten ist, die das gesamte 4. Jahrhundert hindurch anhielt und in weiten Teilen des lateinischen Westens erst im Laufe des 5. Jahrhunderts zum Erliegen kam. Von diesem Niedergang blieben nur einzelne Regionen Italiens und vor allem die Stadt Rom ausgenommen – wo die Tradition sich zumindest in rudimentärer Form sogar bis ins frühe 7. Jahrhundert hielt, wie die Phokás-Säule auf dem Forum zeigt –, ebenso wie der Osten des Reichs, der unter Anastásios I. (491–518) und Justinian I. (527–565) nochmals einen markanten Aufschwung der epigraphischen Kultur erlebte, und zwar besonders im Hinblick auf die Publikation kaiserlicher Gesetze.

Spätantike Epigraphik des Donau-Balkan-Raumes

Die epigraphische Kultur der Spätantike beinhaltet alle vier Hauptgattungen, die auch schon in den früheren Jahrhunderten maßgeblich gewesen waren: Ehren-, Bau-, Weih- und Grabinschriften. Es sind aber bedeutsame Akzentverschiebungen zu verzeichnen: Zunächst nimmt der relative Anteil der Grabinschriften stark zu, einerseits weil die Christen dieses Medium für die eigene Identitätsbildung besonders nutzten, andererseits weil die übrigen Gattungen in der Bedeutung deutlich an Bedeutung verloren. Zugleich verlagert sich der Schwerpunkt epigraphischer Repräsentation von der „politischen“ in die kirchliche Sphäre; munizipaler Euergetismus, d. h. Schenkungen und Stiftungen an Stadtgemeinden durch die örtliche Oberschicht, wird jetzt nicht mehr auf dem Forum, sondern in Sakralbauten durch [<<67] Stifterinschriften (bevorzugt in Gestalt von Mosaiken) zum Ausdruck gebracht. Die Selbstdarstellung der Reichs- und lokalen Eliten in ihrer politischen Funktion reduziert sich mehr und mehr auf die Metropolen. Drittens gewinnt das Genre der Versinschrift an Bedeutung, sowohl für Ehrungen als auch für Epitaphe.

Der Donau-Balkan-Raum folgt dieser allgemeinen Entwicklung des Westens. Selbst die oben angesprochenen unterschiedlichen Entwicklungsrhythmen lassen sich hier nachweisen: Während in den Provinzen entlang der Donau die Inschriften mit der Wende zum 5. Jahrhundert quasi schlagartig verschwinden, lebt die epigraphische Kultur in den beiden Zonen, die einerseits an Italien und andererseits an den oströmischen Reichsteil angrenzen, noch mindestens bis ins frühe 7. Jahrhundert fort – zweifellos aufgrund der Impulse, die von Rom und Konstantinopel, aber auch von direkt benachbarten Landschaften wie Oberitalien oder Makedonien ausgehen, alles Gebiete mit ungebrochen aktiver epigraphischer Kultur. Dies ist auch der Grund, warum das dalmatinische Küstenland mit Städten wie Salona oder die westpontische Küste (Pontos = Schwarze Meer) mit Tomis/Constanţa, (heute Rumänien) bzw. das thrakische Binnenland südlich des Haemus (Balkangebirge) mit Philippopolis/Plovdiv und Augusta Traiana/Stara Zagora zu den Orten zählen, die in der Spätantike die vergleichsweise reichste und am längsten anhaltende epigraphische Dokumentation liefern, und zwar nicht nur auf Latein, sondern auch auf Griechisch, das in Thrakien und im westpontischen Bereich ohnehin tief verwurzelt war, aber in Dalmatien ebenfalls an Bedeutung gewann.

Die spätantiken Inschriften des Donau-Balkan-Raumes, also von Noricum, Pannonien, Dalmatien, Epirus, Moesien, dem südlich der Donau gelegen Dakien und Thrakien, in lateinischer Sprache sind erstmals im Rahmen der Erstellung des Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) zusammen mit dem übrigen antiken Material von Theodor Mommsen (1817–1903) zusammengestellt worden; manches hiervon gelangte in die Auswahlsammlung von Hermann Dessau (1856–1931) (ILS). Hingegen haben die Inscriptiones Graecae (IG), das griechische Pendant zum CIL, den thrakisch-pontischen Raum bis heute nicht erreicht. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist das CIL für fast alle Regionen durch nationale Corpora ersetzt worden, die erstmals auch die [<<68] griechischen Zeugnisse systematisch erschließen (IGBulg, ILBulg, ILJ, IMS, IScM, LIA, RIU etc.). Spezielle Sammlungen, die sich auf die spätantike bzw. frühchristliche Evidenz beschränken, liegen für Bulgarien, Nord-Kroatien, Ungarn und Rumänien vor (Beševliev, Migotti, Gáspár, Barnea und Popescu); daneben existieren lokale Kollektionen (z. B. Asdracha, Salona IV). Weiters ist auf die den gesamten Reichswesten umspannende Sammlung von Ernst Diehl zu verweisen (ILCV). Die Versinschriften werden derzeit neu bearbeitet (CLEMoes, CLEPann und CLEThr), ebenso die Meilensteine (CIL XVII).

Zur Auflösung der im folgenden verwendeten Siglen von Inschrifteneditionen wie CIL etc.: http://db.edcs.eu/epigr/hinweise/abkuerz.html, Zugriff: 21. 12. 2016

Epigraphische Textsuchen sind über Online-Volltext-Datenbanken möglich, z. B. für lateinische Inschriften:

Epigraphische Datenbank Clauss-Slaby (EDCS): http://db.edcs.eu/epigr/epi_de.php, Zugriff: 24. 03. 2016 und für griechische Inschriften: Packard Humanities Institute, Greek Epigraphy: Searchable Greek Inscriptions http://epigraphy.packhum.org/inscriptions/, Zugriff: 24. 03. 2016

Für archäologische Beschreibungen und Bildmaterial epigrapischer Monumente aus dem Donau-Balkan-Raum: http://www.ubi-erat-lupa.org/about.php, Zugriff: 24. 03. 2016

Quellenwert der Inschriften

Der Quellenwert der griechisch-lateinischen Epigraphik beruht vor allem darauf, dass sie realien-, struktur- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte und Zusammenhänge erhellt, die durch keine andere Quellengruppe einsichtig gemacht werden. In seltenen Fällen wird aber auch die Ereignisgeschichte bedient. Dies gilt auch für das hier behandelte Material. Im Folgenden seien einige Beispiele angeführt:

Ein herausragendes politisches Ereignis dokumentiert die berühmte Weihung der Tetrarchen anlässlich ihrer Konferenz zu Carnuntum (östlich des heutigen Wien) im Jahre 308 n. Chr. für den Gott Mithras, den Gönner und Förderer ihrer Herrschaft (fautor imperii sui). Es liegen ferner Grabsteine von Soldaten vor, die in einem der zahlreichen Bürgerkriege des Zeitalters fielen (in proelio Romanorum; bello civili). Gelegentlich haben sich kaiserliche Konstitutionen auf Bronze erhalten, insbesondere zu Fragen der Rechtsstellung von Soldaten (Brigetio/Silistra, [Bulgarien], 311 n. Chr.; Durostorum/Szőny, [Ungarn], 311 n. Chr.).

Von besonderer historischer Relevanz ist die Existenz intakter römischer Herrschaftsstrukturen, repräsentiert etwa durch Meilensteine [<<69] und andere Bauinschriften der Kaiser oder durch Ehreninschriften lokaler Akteure wie Statthalter oder Städte für Kaiser. Besonders prägnant tritt dabei die Funktion der Herrscher als Garanten für eine erfolgreiche Abwehr der Barbaren hervor (z. B. ad confirmandam provincialium suorum aeternam securitatem; ad confirmandam limitis tutelam). Solches läßt sich im gesamten Donau-Balkan-Raum bis zum Ende des 4. Jahrhunderts nachweisen, danach nur noch in den oben angesprochenen Übergangszonen im Nordwesten und Südosten.

Aus der Verwendung der Konsulatsdatierung auf Grabsteinen mag auf ein Zugehörigkeitsempfinden auch unterer Bevölkerungsschichten zum Reich geschlossen werden; interessant ist daher die Tatsache, dass in Salona nach dem Ende des Westreichs die (nunmehr oströmischen) Konsuln nur noch vereinzelt genannt werden. Als Echo auf den Auflösungsprozess römischer Herrschaft können auch Fürbitten von Reichsbewohnern für den Erhalt der res publica Romana (Salona, ca. 450–600 n.Chr.) bzw. der Romania (Sirmium, 578–582 n.Chr.) gelten. Unter den Grabsteinen, die mehr als nur die Namen der Verstorbenen liefern, stechen jene der Soldaten hervor. Die detailreichen Angaben zu ihren Karrieren bieten wertvolles Material für die sonst nur schlecht dokumentierte Militärgeschichte des Zeitalters. Eine Gruppe von Inschriften aus Novae (bei Svištov, Bulgarien) beleuchtet die logistischen Strukturen der Donauarmee, die damals aus dem Ägäisraum und der Levante mit Proviant beliefert wurde.

 

Die Prominenz von Epitaphen aus dem militärischen Milieu kontrastiert auffällig mit der geringen Zahl von Mitgliedern der städtischen Führungsschichten; im einen Fall liegt also gegenüber dem 1.‒3. Jahrhundert weitgehende Kontinuität, im anderen ein deutlicher Einschnitt vor.

Aus religionsgeschichtlicher Sicht fällt neben der allgemeinen Erscheinung der Christianisierung das vereinzelte Fortleben paganer Kulte und deren Förderung durch allerhöchste Repräsentanten des Reichs ins Auge. Man denke etwa an die bereits angesprochene Weihung der Tetrarchen für Mithras in Carnuntum oder aber an die Neuerrichtung eines seit fünfzig Jahren aufgelassenen Mithräums durch den norischen Statthalter (Virunum [bei Maria Saal, Kärnten], 311 n. Chr.).

Zur nach wie vor anhaltenden Mobilität und wirtschaftlich bedingten Migration der Reichsbevölkerung liefern die Inschriften viele [<<70] höchst interessante Detailinformationen. Hervorgehoben sei etwa die starke Präsenz syrischstämmiger Personen im Salona des 4. bis 6. Jahrhunderts.

Ausklang

Die epigraphische Kultur der Spätantike endete im Donau-Balkan-Raum teils um 400, teils im Laufe des 6. Jahrhunderts. Sie war ein wesentlicher Bestandteil der städtischen Kultur des Altertums gewesen. Mit dem Verschwinden von Urbanität und der Auflösung städtischer Eliten verlor sie die elementaren Voraussetzungen für ihre Existenz und Entfaltung. Zugleich ist die Spätantike aber auch der Beginn der christlich geprägten Inschriftenkultur im sakralen Raum ebenso wie auf Friedhöfen, mit neuen Formularen und Symbolen. Diese „christliche Epigraphik“ wurde in den folgenden Jahrhunderten bruchlos fortgeführt und erschloss sich neben Latein und Griechisch allmählich auch die neuen Sprachen und Schriften des Donau-Balkan-Raumes. Aber selbst die „politische“ Epigraphik findet zumindest in rudimentärer Form eine Fortsetzung, sowohl in den „barbarischen“ Nachfolgereichen als auch im mittelalterlichen Byzanz, freilich unter völlig veränderten Rahmenbedingungen und mit neuen Merkmalen.