Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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1.4 Ausblick: nach 1945 – nach 1989

Die europäische Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat durch die Teilung des Kontinents in zwei machtpolitische und ideologische Blöcke, die sich ihrerseits – wie zuvor nationalstaatliche Ideologien, kulminierend im Nationalsozialismus – maßgeblich auf die Wahrnehmung von Geschichte und die Konstruktion von Geschichtsbildern ausgewirkt hat, ebenso nachhaltig die wissenschaftlichen Grundlagen für diese Bilder einschließlich der methodischen Erschließung und Aufbereitung historischer Überlieferung beeinflusst. Anders als im 19. und 20. Jahrhundert bis zur Zwischenkriegszeit, als wissenschaftliche Kommunikation trotz politischer Brüche zwar eingeschränkt, aber dennoch auch grenzüberschreitend weiter stattfand, hat der Totalitarismus des 20. Jahrhundert zu vielfach bis heute wirksamen Unterbrechungen des fachlichen wie methodischen Austausches geführt.

Fallbeispiele in Langzeitperspektive

Die grundlegende Wende von 1989 kann daher nicht hoch genug eingeschätzt werden. Seither hat die politische Öffnung eine Vielzahl [<<47] von Initiativen zur Wiederaufnahme, Intensivierung und Stabilisierung des wissenschaftlichen Dialogs ermöglicht. Jedoch auch hier macht gerade die südosteuropäische Blickachse deutlich, wie heterogen und regional spezifisch die Auswirkungen der politischen Wende auf gesellschaftliche und damit auch wissenschaftliche Perspektiven waren: Der gewaltsame Zerfall des ehemaligen Jugoslawien und die weitgehend friedliche, aber von schweren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verwerfungen geprägte Übergangsepoche in Bulgarien und Rumänien hatten in den einzelnen Ländern ganz unterschiedliche Konsequenzen.

In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, aber auch in Bulgarien und Rumänien differenzierte sich die Forschung in den letzten drei Jahrzehnten in ein weitgehend selbstreferentielles, nach außen hin abgeschlossenes nationalkonservatives Lager einerseits und Gruppen von Historikerinnen und Historikern, die nach der Isolation im Kommunismus bewusst die Integration in eine gesamteuropäische Historikergemeinschaft anstreben, andererseits. Die Mittelalterforschung spiegelt so im Kleinen Gesellschaften mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten wider.

Es ist daher kaum verwunderlich, dass eine gesellschaftlich und politisch kritische und inhaltlich differenzierte Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit (nach 1945) sowie der jüngeren Vergangenheit bis einschließlich der letzten drei Jahrzehnte seit Ende der kommunistischen Regime in Mittel-, Ost- und Südosteuropa geographisch, institutionell und disziplinär äußerst unterschiedlich stark entwickelt ist. Dies wiederum hat seinerseits Auswirkungen auf den aktuellen Stand der jeweiligen Auseinandersetzung mit Gegenständen und Themen der Mittelalterforschung und der Einschätzung und Interpretation der Überlieferung.

Ein Fallbespiel für diese zudem vielfach gebrochenen Forschungsgeschichten bietet in diesem Buch der Überblick von Miklós Takács in Kap. 2.4.2 zur Mittelalterarchäologie der Provinz Woiwodina seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis zu den Veränderungen nach 1989; ein weiteres die in Kap. 4.6.4 diskutierte Erschließung und Interpretation mailändischer Gesandtenbriefe durch die historische Südosteuropaforschung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart hinsichtlich der Konstruktion des als Nationalhelden gefeierten albanischen Fürsten Georg Kastriota Skanderbeg (1405–1468). [<<48]

An dieser Stelle müssen einige Beispiele als Ausblick auf zukünftige Forschungsaufgaben genügen: Zeitlich konsequent fand in unserem Betrachtungsraum eine umfassende Aufarbeitung der Verflechtung von Wissenschaft und Politik in den europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts zuerst und systematisch in der Bundesrepublik Deutschland statt. Diese Aufarbeitung erfasste auch die Mittelalterforschung und mit ihr die historischen Hilfswissenschaften und ihre Vertreter und wenigen Vertreterinnen. In Österreich, wo politisch lange die These seiner Rolle als „Opfer“ nationalsozialistischer Machtpolitik prägend blieb, setzte der Prozess einer systematischen und gleichzeitig differenzierten Analyse der Involvierung wissenschaftlicher Akteure in das politische Geschehen erst deutlich später und zögerlich ein. Federführend war auch hier die zeithistorische Forschung.

Für die österreichische Mediävistik und ihre spezifische Ausprägung am Institut für österreichische Geschichtsforschung ist dieser Prozess nach wie vor nicht abgeschlossen: Das von Karel Hruza herausgegebene mehrbändige Handbuch Österreichische Historiker (1900–1945) (Bde. 1 und 2, Wien 2008 und 2012) zeigt, in welchen unterschiedlichen Formen gerade auch scheinbar unpolitische, methodisch-„positivistische“ historische Hilfswissenschaften und Quellenforschungen ihren wesentlichen Anteil an der Schaffung und Verfestigung von Geschichtsbildern haben können.

Die Aufarbeitung der komplexen Geschichte der deutsch-böhmischen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert und ihrer Beziehungen zur tschechischen Historiographie vor dem Hintergrund der mehrfach gebrochenen Geschichte der böhmischen Länder und der Slowakei im Kontext der politischen Entwicklung des östlichen Mitteleuropa macht sich das 1956 gegründete Collegium Carolinum in München zur Aufgabe. Als wissenschaftliche Gesellschaft, die unterschiedliche Fachdisziplinen und ihre Vertreterinnen und Vertreter aus einer Vielzahl europäischer Länder zusammenbringt, widmet sie sich besonders der vergleichenden Forschung. So wurden etwa in mehreren besonders seit 2000 durchgeführten Tagungen für die Zeit nach 1945 eine Reihe der hier angesprochenen Fragen systematisch diskutiert und publiziert. Eine vergleichbare Plattform für den internationalen Austausch hat sich mit dem Collegium Hungaricum in Wien etabliert. [<<49]

In der Südosteuropäischen Geschichte setzte eine Münchner Tagung im Jahre 2002 wichtige Akzente, die freilich kaum der umfangmäßig bescheidenen deutschsprachigen mediävistischen Forschung zum Balkanraum galten. Gegenwärtig setzt sich auch die deutsche Südosteuropa-Gesellschaft kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinander. In Südosteuropa selbst ist es in der Mittelalterforschung am ehesten die bulgarische Osmanistik, die ihre Rolle bei der Rechtfertigung der nationalistischen Repression gegen die türkische Minderheit in der Spätphase (Mitte der 1980er Jahre) der kommunistischen Diktatur Todor Živkovs hinterfragt.

Deutlich geringer ist eine öffentliche Debatte in der serbischen Mediävistik, die teilweise immer noch nationalistische Positionen vertritt, etwa die selbstverständliche Eingliederung ganz Bosniens und der Herzegowina in eine mittelalterliche serbische Geschichte. Stark von Nationalismus gekennzeichnet ist auch die personell kleine albanische Mittelalterforschung. In Griechenland besteht die Tendenz, Byzanz als griechischen Staat, und nicht als Vielvölkerreich wahrzunehmen. Historiographiekritische Ansätze in Südosteuropa sind überwiegend auf die Neuzeitforschung bezogen und behandeln das Mittelalter eher am Rande. Den kritischsten Umgang mit dem Mittelalter pflegen im regionalen Vergleich rumänische Historiker.

Hingegen hat sich in Ungarn das Collegium Budapest in den vergangenen beiden Jahrzehnten in einer Reihe von Workshops und daraus resultierenden internationalen Publikationen die systematische vergleichende Erforschung der Bedeutung mittelalterlicher Geschichte und der Methoden zu ihrer Erforschung für die Konstruktion vergangener wie gegenwärtiger nationaler Mythen zur Aufgabe gemacht. Die Untersuchung verschiedener historischer und kultureller Visionen der Vergangenheit dient als Ausgangspunkt für eine histoire croisée (Bénedicte Zimmermann, Michael Werner), eine Geschichte der Verflechtungen unterschiedlicher Gründungsnarrative. Ähnlich wie bei anderen aktuellen europäischen Forschungsprojekten, z. B. in Wien, Bergen, den Niederlanden bzw. jenen der European Science Foundation wird dabei die Untersuchung der einzelnen Fächer der humanities von den nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts bis zu den Meistererzählungen des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart in ihren Interaktionen in Politik und Wissenschaft fokussiert. [<<50]

Dabei werden die tiefgreifenden Auswirkungen der Mittelalterforschung und ihrer überlieferungsgeschichtlichen Grundlagen gerade dort deutlich, wo ihre populären Aneignungen nachhaltig erfolgreich waren. Andererseits wurden bereits im 18. und 19. Jahrhundert eine Reihe spezifisch nationaler Mythen durch Vertreter einer Länder und Fächer übergreifenden intellectual community aufgedeckt, deren gemeinsames Methodenverständnis in jahrzehntelangen Prozessen des Verhandelns von Gegenständen und der Praxis der Forschung zu historischer Überlieferung etabliert wurde.

Patrick J. Geary, Gábor Klaniczay, (Hg.), Manufacturing The Middle Ages. Entangled History of Medievalism in Nineteenth-Century Europe (Leiden, Boston 2013). [<<51]

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2.1 Überblick über die politischen Veränderungen 500–900

Das antike Erbe

Nimmt man die Jahre 500 und 900 als Ausgangspunkte für einen Vergleich der Herrschaftsbildungen im Donau-Balkanraum, werden tiefgreifende politische und sprachlich-ethnische Veränderungen deutlich. Um 500 hielt das Römische Imperium, seit 395 in einen West- und einen Ostteil gegliedert, noch die Donaugrenze. Damit lagen weite Teile unseres Betrachtungsraumes innerhalb des Imperiums. Gerade der Balkanraum diente seit dem 3. Jahrhundert als Rekrutierungsgebiet der römischen Heere. Bedeutende Kaiser der ausgehenden Antike von Diokletian über Konstantin den Großen bis zu Justinian I. stammten aus den römischen Balkanprovinzen. Während die Küstenlandschaften – ebenso wie jene an der mittleren Donau – von einem dichten Städtenetz überzogen waren, gestaltete sich die Urbanisierung im Inneren der Balkanhalbinsel bescheidener. Dennoch bestand auch dort die griechisch-römische Reichskultur, die imperiale Verwaltung. Zudem bildete sich in der Spätantike eng an die Orte der staatlichen Verwaltung gebunden ein System von Bischofssitzen heraus. Die Bevölkerung setzte sich aus Griechen und anderen altbalkanischen Sprachgruppen (Illyrern, Thrakern, Dakern u. a.) zusammen, deren Sprachen aber kaum verschriftlicht wurden, da das Griechische im Süden, das Lateinische im Zentrum und Norden des römischen Donau-Balkanraumes als Schriftsprache verwendet wurden. Wichtige Teile der altbalkanischen Bevölkerung im Einflussbereich der lateinischen Verwaltungssprache waren, ähnlich wie in Gallien oder Spanien, romanisiert worden. Wie auf der iberischen Halbinsel die Basken oder in der Bretagne die Kelten waren aber in gebirgigen Gebieten des westlichen Balkans die sprachlichen „Vorfahren“ der heutigen Albaner von der Romanisierung nur am Rande erfasst worden.

 

Byzantinische Einflüsse

400 Jahre später hatte sich unser Betrachtungsraum von einem militärisch-administrativen, wenn auch – mit Ausnahme der Küste [<<52] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe ngebiete – nicht wirtschaftlichen oder kulturellen Kerngebiet des Römischen Imperiums in einen Zwischenraum zwischen den Nachfolgern des römischen Reichsgedankens verwandelt. Im Osten betonte das Byzantinische Reich die ungebrochene Kontinuität des römischen Kaisertums; im Westen hatte Karl der Große durch die Kaiserkrönung im Jahre 800 die Tradition des westlichen Kaisertums wiederbelebt und danach dessen Anerkennung durch Byzanz erzwungen. Dieses westliche Kaisertum war um 900 aber stark geschwächt. Byzanz hatte im 7. Jahrhundert die Kontrolle über den Balkan bis auf wenige Küstenplätze verloren. Um 900 hatte es die Küsten von Ägäis und der östlichen und südwestlichen Adria wieder unter seine Herrschaft gebracht und war dabei, sich mit einer groß angelegten Christianisierungsstrategie den Balkan wieder zu erschließen.

Awaren und Bulgaren

Archäologische Befunde und solche der Ortsnamenforschung sowie deutlich spätere schriftliche Quellen legen nahe, dass im Gefolge der Awaren, die gemeinsam mit den iranischen Sassaniden 626 Konstantinopel belagert hatten, in einem langwierigen Prozess slawische Gruppen bis an die Adria und die Spitze der Peloponnes vorgedrungen waren. Wichtige Teile der provinzialrömischen Bevölkerung waren an die Küsten oder in gebirgige Rückzugszonen geflohen. Slawen gründeten vom Alpenbogen bis nach Südgriechenland neue Siedlungen. Römische Städte wurden oftmals geplündert und zerstört; Staats- und Kirchenverwaltung brachen zusammen. Nicht die Awaren, sondern eine andere aus den eurasiatischen Steppenzonen zuwandernde Kriegergemeinschaft, die von der Forschung so bezeichneten „Proto-Bulgaren“, füllten das politische Vakuum an der unteren Donau dauerhaft auf. Verwendet wird der Begriff „Proto-Bulgaren“, um die nichtslawische namengebende Gruppe der mittelalterlichen Bulgaren von slawischen Bevölkerungsgruppen abzugrenzen. Die Frühgeschichte der Bulgaren ist quellenmäßig so schlecht belegt, gleichzeitig aber von so starken Forschungshypothesen überformt, dass die moderne Forschung kaum gesicherte Aussagen tätigen kann: Wann und unter welchen Umständen eine Integration der vom Nordkaukasus bis auf den Balkan (dort seit dem 5. Jahrhundert n. Chr.) nachweisbaren nichtslawischen Bulgaren als Kerngruppe von Kriegern mit der ansässigen altbalkanischen Bevölkerung und slawischen Gruppen südlich der unteren Donau [<<53] erfolgte, die eine gemeinsame ostsüdslawische Sprache verwendeten, ist nicht genau zu klären.

Die Verfestigung ihrer Ende des 7. Jahrhunderts errichteten Herrschaft, die in das heutige Rumänien und Ungarn hineinreichte, gelang den Bulgaren durch die Annahme des Christentums 864/65. Die Missionierung der (aus der Perspektive der christlichen Welt) heidnischen, d. h. nichtchristlichen Bulgaren wurde von Rom, dem ostfränkischen Reich und Konstantinopel aus in zunehmender Konkurrenz betrieben. Sie stand in engstem Zusammenhang mit der Christianisierung des zwischen dem ostfränkischen Reich und der bulgarischen Herrschaft liegenden mährischen Reichs im Donaubecken. Die Entfremdung zwischen Rom und Byzanz, die Entstehung einer katholischen Papstkirche und einer orthodoxen Kirche unter dem Patriarchen von Konstantinopel ist nicht zuletzt Folge des Wettlaufs um die Christianisierung des Donau-Balkan-Raumes.

Magyaren

Ende des 9. Jahrhundert gewann mit der Migration, Landnahme und Herrschaftskonsolidierung der Magyaren ein weiteres „Volk“ aus dem Steppenraum im Karpatenbogen an maßgeblicher Bedeutung. Seine Christianisierung erfolgte erst hundert Jahre später, wiederum in einem langwierigen Prozess und im Spannungsfeld zwischen Rom und Byzanz. Mit der Annahme des Christentums wurden Bulgaren wie Magyaren als einzige Steppen-„Völker“ Teil der christlichen Staatenwelt. Das erst viel später – ab dem 13. Jahrhundert – als Reich der Stephanskrone bezeichnete Ungarn, benannt nach dem Hl. Stephan, seinem ersten getauften König, erwies sich dabei als deutlich stabiler als das bulgarische Reich. Dies erklärt die ungarische Betonung seiner Krone als einer staatsrechtlichen Tradition ungeachtet aller territorialen Veränderung bis ins 21. Jahrhundert. Ähnliches gilt für die kroatische Staatsidee: Im Westen der Balkanhalbinsel hatte sich im 7. Jahrhundert im Hinterland Dalmatiens mit „Kroatien“ eine weitere, dauerhafte Herrschaft herausgebildet, deren Krone (abermals im Sinn der Herrschaftstradition) ohne Unterbrechung bis 1918 Bestand hatte, allerdings seit dem 12. Jahrhundert mit Ungarn verbunden war. Venedig, formell byzantinische Provinz, machte sich als Ordnungsfaktor im Kampf gegen slawische und arabische Piraten bereits bemerkbar.

Wenig bekannt ist über den inneren Balkan, das heutige Bosnien und Serbien. Dieser Raum stand im Spannungsfeld von Kroatien, [<<54] Bulgarien, Byzanz und Ungarn. Im späteren 9. Jahrhundert lässt sich eine südslawische (serbische) Herrschaft im heutigen südwestlichen Serbien (Raška; heute Region Novi Pazar) schemenhaft erkennen.

Interdisziplinarität

Was hier in groben Zügen geschildert wird, erarbeitete die historische, archäologische, bild- und sprachwissenschaftliche Forschung in mühsamer Kleinarbeit. Ausgrabungen, Inschriften, Siegel, Bildquellen stellen hohe Anforderungen an die Interpretierenden. Entsprechend spezialisiert sind die Forschungszweige, in deren Gegenstände und Arbeitsweisen die folgenden Abschnitte Einblick geben. Sie sollen – wie bereits der wissenschaftshistorische Abriss im ersten Kapitel – sichtbar machen, in welchem Maß die Mittelalterforschung auf die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Disziplinen angewiesen ist, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen – und dies jenseits aller Moden auch immer war. Aus einer überlieferungsgeschichtlichen Perspektive wird zudem deutlich, dass sich Geschichtswissenschaften keineswegs allein mit schriftlichen Hinterlassenschaften befassen. Im Gegenteil, die folgenden Abschnitte zur frühmittelalterlichen Geschichte sollen zeigen, dass nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Überlieferung in diesem Zeitraum Schriftquellen im engeren Sinn darstellen. Das Kapitel über die Kirche als Trägerin schriftkultureller Tradition (→ Kap. 2.3) ist daher eingebettet in jene zu maßgeblichen spätantiken Forschungsgegenständen und Methoden (Kartographie, Epigraphik, Linguistik) einerseits (→ Kap. 2.2), und andererseits zur dinglichen und bildlichen Überlieferung (→ Kap. 2.4), die lange Zeit das Gros der Quellen in unserem Untersuchungszeitraum ausmacht. Auch hier gilt – wie für alle Teile dieses Buches – dass zeitliche und räumliche Grenzen fließend sind: Die Mittelalterarchäologie spielt selbstverständlich auch für das 12.‒15. Jahrhundert eine herausragende Rolle, ebenso wie die formale und ikonographische Interpretation von Bildern und ihren vielfältigen Trägern: Wände, Stoffe und Bücher, Siegel, Wappen und Münzen. Für die frühen Jahrhunderte stellen sie jedoch vielfach die einzige Grundlage unseres Wissens über die Vergangenheit dar. [<<55]

2.2 Forschungstraditionen und Methoden zur frühmittelalterlichen Geschichte Mittel- und Südosteuropas

Transformation der Römischen Welt

Die Frage, wie das Ende römischer Staatlichkeit und das Entstehen neuer Formen politischer Macht zu erklären und die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen in Europa am Übergang vom Altertum zum Mittelalter zu deuten sind, ist Gegenstand der klassischen Diskussionen der europäischen Geschichtswissenschaft seit der Aufklärung. Die Deutungen – der Althistoriker Alexander Demandt hat weit über 200 zumeist monokausale Erklärungen für den Fall Roms zusammengetragen – spiegeln in hohem Maße das politisch-kulturelle Selbstverständnis der beteiligten Historikerinnen und Historiker wider. So sprach der französische Gelehrte André Piganiol davon, das blühende Römische Reich sei von Barbaren ermordet worden – sein biographisches Schlüsselerlebnis war der Zusammenbruch Frankreichs unter dem Angriff des „Dritten Reichs“ im Jahre 1940. Bruch oder Übergang, beide in verschiedensten Unterformen und Schattierungen, bilden die beiden zentralen Erklärungsansätze. Die Forschung betont für den Westen des Römischen Reichs in den letzten Jahrzehnten Phänomene des Übergangs – bahnbrechend war etwa das mehrjährige Verbundprojekt der European Science Foundation mit dem Titel Transformation of the Roman World –, auch wenn Theorien von einem massiven Kulturverfall (so der britische Archäologe Bryan Ward-Perkins) wieder aufgegriffen werden.

Brüche und Kontinuitäten

Für unseren Betrachtungsraum besonders bedeutsam aber ist, dass diese Theorien nicht allgemein gültig angewandt werden können: Während an der oberen Donau und im Alpenraum zwar die römische Herrschaft verschwand, hielt sich, wenn auch geschwächt, die christliche Kirche als Trägerin wichtiger Teile der spätantiken Kultur. Die Tradition wurde zwar ausgedünnt, aber nicht unterbrochen. Anders in weiten Teilen des Balkans: Hier hinterließen im Gegensatz zur oberen Donau die durchziehenden germanischen Gruppen kaum dauerhaft Spuren. Dafür führten die ab dem 5. Jahrhundert zu beobachtenden, im 6. und 7. Jahrhundert sehr starken Bewegungen zumeist kleiner slawischer Gruppen zu einem Zusammenbruch von politischer und kirchlicher Tradition. Ausgenommen waren nur von [<<56] See her gut erreichbare Außenposten des Byzantinischen Reichs in Dalmatien, den ionischen Inseln und Festlandgriechenland. Christliche Kultur verschwand nicht völlig, wohl aber die Kirche als Institution. Wenngleich Elemente der Kontinuität vorhanden sind – im albanischen Fall eine Sprach- und relative Siedlungskontinuität, beim rumänischen Beispiel jedenfalls eine sprachliche –, wirkte der Bruch ungleich stärker.

Ethnogenesen

Bedeutendes hat die Forschung in den letzten Jahrzehnten auch zur Klärung der Frage geleistet, wer denn die Akteure der Veränderungen waren. Im Gegensatz zu den bis in die vierziger Jahre vorherrschenden und auch nach 1945 teils weiter bestehenden Vorstellungen von germanischen Völkern, im Sinne eines modernen Nationsbegriffs, haben im Anschluss an Reinhard Wenskus und in Weiterentwicklung seiner Thesen die Wiener Mediävisten Herwig Wolfram und Walter Pohl aufgezeigt, dass der Begriff „Volk“ für die Untersuchungsgegenstände der Frühmittelalterforschung mit besonderer Vorsicht zu verwenden ist, da sich die Annahme geschlossener ethnischer Großgruppen nicht für das Verständnis der soziokulturellen Veränderungen zwischen dem 4. und dem 9. Jahrhundert eignet.

Fruchtbar gemacht wurde eine differenziert weiter entwickelte Theorie von namengebenden, politisch und militärisch erfolgreichen Kerngruppen. Wer sich ihnen anschloss, nahm den Erfolg versprechenden Gruppennamen an. Wurde diese Gemeinschaft militärisch und politisch besiegt, ging damit nicht ein Volk gleichsam biologisch unter. Vielmehr bildeten sich neue Herrschaftsverbände, denen sich die Gefolgsleute der Unterlegenen anschlossen. In solchen komplexen Prozessen siedelten sich Slawen in Dalmatien an, das vom Reich der Awaren mit Schwerpunkt im pannonischen Raum beherrscht wurde. Im Verlauf des 7. und 8. Jahrhunderts lösten sich diese Zuwanderer dann allmählich aus dem awarischen Machtbereich und bildeten, als Kroaten bezeichnet, ab dem 9./10. Jahrhundert einen eigenen Herrschaftsbereich.

 

Spricht die Forschung heute nicht mehr von germanischen „Völkern“ mit einer „Urheimat“ in Skandinavien, so wurde in den letzten Jahren auch die Idee einer „slawischen Urheimat“, von der aus sich die heutigen slawischen Völker in alle Himmelsrichtungen ausgebreitet hätten, kritisch betrachtet: Vielmehr wird z. B. gefragt, wie [<<57] und unter welchen Umständen der Begriff „Slawe“ in spätantiken und frühmittelalterlichen, zumeist byzantinischen, Quellen überhaupt aufscheint. Deutlich wurde, wie die byzantinischen Eliten, die an der mittleren und unteren Donau das Vordringen slawischer Kleingruppen abzuwehren hatten, die Komplexität der gegnerischen Gruppen durch die Schaffung eines Überbegriffs zu fassen versuchten. Sie kategorisierten – und konstruierten dadurch – eine gegnerische Gruppe, die bestimmte Eigenschaften in Lebens- und Kampfweise besaß, und vereinfachten – militärstrategisch sinnvoll – eine komplexe soziale Wirklichkeit. Die Beschreibung des Gegners zu dessen Bekämpfung war das Ziel des sog. Strategikón des Mauríkios, eines Militärhandbuches, das zugleich eine der wichtigsten Quellen zur frühen Geschichte der Slawen darstellt.

Abnehmende Schriftlichkeit

Nicht nur Epochendeutungen und die kritische Diskussion vermeintlich eindeutiger ethnischer Zuordnungen beschäftigen die Forschung zum frühen Mittelalter. Sie hat sich mit weiteren erheblichen methodischen und wissenschaftsgeschichtlichen Herausforderungen auseinanderzusetzen. Der Rückgang, im regionalen Extremfall das Verschwinden, imperialer und kirchlicher Verwaltung zeitigte einschneidende Folgen für die Überlieferung. Die Schriftlichkeit ging allgemein massiv zurück und erreichte im 7. Jahrhundert im Frankenreich einen Tiefstand. Die geringe Schriftproduktion zur Zeit der Merowinger hebt sich aber immer noch von dem fast gänzlichen Verschwinden von Schrift und Text in den Donauländern und innerbalkanischen Provinzen des früheren Römischen Reichs ab. In Südosteuropa wurde nur noch in einigen Küstenstädten Schriftlichkeit gepflegt: in Qualität und Quantität überragte die Hauptstadt des Byzantinischen Reichs, Konstantinopel, alle anderen Häfen an Adria (Iadera/Zadar, Raúsion/Dubrovnik) und Ägäis (v. a. Thessalonike). Unser bescheidenes Wissen über die Vorgänge im Inneren Südosteuropas stammt aus Schriftquellen, die räumlich gesehen an seiner äußersten Peripherie entstanden sind und die zumeist kein unmittelbares Interesse an unserem Betrachtungsraum zeigen: Byzantinische Geschichtsschreibung war in erster Linie auf den Kaiser und dessen Hof bezogen; viele byzantinische Literaten hatten Konstantinopel zeitlebens kaum verlassen. Das Ende der Antike verringerte Schriftlichkeit nicht nur quantitativ: einzelne in der Spätantike blühende Gattungen wie die Redekunst und die [<<58] Geschichtsschreibung verloren an Bedeutung, doch verlagerte sich die erzählende Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen in andere Genres, besonders die Heiligenleben.

Träger der Überlieferung

Neben einer mengen- und gattungsmäßig veränderten Schriftlichkeit muss die Forschung in vielen Fällen daher auf andere Arten der Überlieferung zurückgreifen, um politische, vor allem aber soziale und kulturelle Entwicklungen wenigstens in Umrissen rekonstruieren zu können; und auch hier gilt die Regel der erheblichen regionalen Unterschiede. Formen schriftlicher und bildlicher Überlieferung sind nicht nur auf Pergament (und später Papier) erhalten, sondern auch auf Stein und Metall: Inschriften und Siegel werden daher im Folgenden als Träger von Überlieferung vorgestellt. Materiell greifbar sind auch die Ergebnisse archäologischer Ausgrabungen, die auch in Gegenden und zu Zeitabschnitten erfolgen können, aus denen kaum Textzeugnisse, auch nicht auf Stein oder Metall, vorliegen.

Für die materialmäßig besonders schlecht erschlossenen inneren Teile des Balkans schließlich untersucht die Forschung auch die Sprachen – slawische wie nichtslawische – als Quellen, und zwar sowohl ihre Form (Morphologie) wie ihren Wortschatz (Lexik), die Aufschlüsse über kulturelle Berührungen und soziale Wechselwirkungen in der langen Dauer erschließen. Von besonderer Bedeutung für den gesamten Betrachtungsraum ist zudem die Erforschung von Orts- und Geländenamen (wobei zwischen größeren Bezugspunkten wie wichtigen Flüssen und Bergmassiven und der Mikrotoponomastik, also etwa Bächen und Flurnamen, zu unterscheiden ist): Kontinuität von Siedlungen oder zumindest weiter bestehende Kenntnis von Siedlungsnamen, deren Übernahme in neu auftretende Sprachen, oder Hinweise auf die Neugründung von Siedlungen sind nur einige der Angaben, die Orts- und Geländenamen mitteilen. Archäologie und Sprachwissenschaft werden somit zu Grundlagenwissenschaften historischer Forschung zum frühen Mittelalter.

Herkunft und Sprache

Forschungsgeschichtlich war die Deutung des Frühmittelalters in unserem Betrachtungsraum von den zumeist in nationalhistoriographischem und damit politischem Rahmen debattierten Fragen nach den Ursprüngen und Siedlungsgebieten heutiger Nationen geprägt – und teilweise ist sie dies immer noch: Sind die heutigen Griechen Nachfahren der antiken Griechen und haben diese auf dem ganzen heute [<<59] griechischen Staatsgebiet gewohnt? Stammen die heutigen Albaner von den antiken Illyrern ab, bewohnen sie deren einstiges Siedlungsgebiet und beweist eine solche Kontinuität den Anspruch der Albaner auf den auch von Serben bewohnten Kosovo, um den bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein erbitterter, bis heute nicht völlig gelöster albanisch-serbischer Konflikt besteht? Und leiten sich die Rumänen vom antiken Volk der Daker ab, die 117 n. Chr. von den Römern unterworfen und romanisiert wurden, auf jeden Fall aber vor den Magyaren im Karpatenbogen siedelten, um den seit dem 18. Jahrhundert Ungarn und Rumänen mit Argumenten aus der antiken und frühmittelalterlichen Geschichte eine emotionale Debatte um das historische Recht auf Siebenbürgen führen?

Allen diesen heutigen Nationen – Griechen, Albanern und Rumänen – gemeinsam ist, dass ihre Sprachen schon in der Antike im südöstlichen Europa gesprochen wurden. Ihre nicht miteinander verwandten Sprachen sind alle nicht slawisch. Trotz fehlender Verwandtschaft weisen sie einige gemeinsame Elemente auf, die auf ein langes gemeinsames Mit- und Nebeneinander hindeuten. Geht es den Nationalhistoriographien darum, die Kontinuität dieser „Völker“ von der Antike bis heute zu belegen und damit moderne Gebietsansprüche historisch zu untermauern oder symbolisches Kapital zu erwerben (das moderne Griechenland sieht sich etwa gerne als Mutterland der Demokratie), so heben Historiker von Nationen, die in nationalhistoriographischer Sicht im Frühmittelalter entstanden sind, die Epoche als zumeist mythenumwobene Zeit ruhmreicher Anfänge hervor. Dies gilt sowohl für jene beiden modernen Nationen, die sich von Steppenreitergemeinschaften ableiten, die im 7. bzw. Ende des 9. Jahrhunderts in den Donau-Balkan-Raum vorgedrungen waren (sog. Proto-Bulgaren und Magyaren), als auch für die modernen südslawischen Nationen der Kroaten, Serben und Slowenen. Gerade weil einige dieser Nationen bis in das 19., oft auch das 20. Jahrhundert hinein keine Eigenstaatlichkeit besaßen (→ Kap. 1), kam den mythischen Anfängen besondere Bedeutung zu: Der frühe Eintritt in die europäische Geschichte sollte den Wunsch nach Loslösung aus der Habsburgermonarchie bzw. dem Osmanischen Reich in der Neuzeit rechtfertigen. Eine moderne Nation wie jene der Bulgaren, die erst 1878 Autonomie erlangte, legte Wert auf die Behauptung, [<<60] den „ältesten Staat“ Europas zu besitzen: Das im 7. Jahrhundert an der unteren Donau entstandene Chanat der Proto-Bulgaren, dem Byzanz 681 Tribut zahlte, wurde in einer Vorstellung unmittelbarer ethnisch-nationaler Kontinuität seit diesem Jahr gedeutet. Zugleich wurde mit dem Beharren auf uralter Staatlichkeit das Gefühl kultureller Unterlegenheit gegenüber dem westlichen Europa kompensiert.