Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

1.2 Nationale Geschichtsbilder

Während sich aber gleichzeitig das Problem des Fehlens eines gesamtstaatlich-nationalen Geschichtsbildes für das habsburgische Zentrum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch politisch weiter verschärfte – einerseits durch den endgültigen Verlust einer politischen „groß-deutschen“ Option unter habsburgischer Führung spätestens mit Ende des deutschen Bundes (1866) und andererseits durch den „Ausgleich“ mit Ungarn (1867) – entwickelten sich in demselben Zeitraum die nationalen Narrative der einzelnen Länder der Monarchie unter den Schlagworten des „nationalen Erwachens“ bzw. der „nationalen Wiedergeburt“. Hier wiederum gingen methodische Spezialisierung und disziplinäre Verfestigung Hand in Hand mit der Entwicklung identitätsstiftender nationaler Geschichtsbilder, die ihrerseits in neu gegründeten nationalen Institutionen in den jeweils eigenen Sprachen und ebenfalls mit einem zunehmend verfeinerten methodischen Handwerkszeug effektiv wurden.

Die Verflechtungen der wissenschaftlich-institutionellen und politischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg und teilweise auch darüber hinaus machen deutlich, wie eng methodische und inhaltliche Fortschritte in der Forschung und ihre politische Instrumentalisierung verflochten sein konnten – aber dies nicht notwendigerweise sein mussten. Eines der charakteristischen Momente, die diesen Zeitraum kennzeichnen, ist die Spannung zwischen vielfältigen historischen Meistererzählungen (v. a. weit in die Vergangenheit zurück reichenden Gründungsnarrativen) und der [<<37] zunehmend national orientierten Konkurrenz beim Versuch ihrer möglichst umfassenden Fundierung in der Überlieferung in einem Raum intensiver akademisch-methodischer Kommunikation.

Angesichts des weitgehenden Fehlens schriftlicher Quellen für die jeweiligen Frühgeschichten der entstehenden Nationen kam der Entwicklung kritischer Methoden in philologischer, sprachwissenschaftlicher und linguistischer Forschung sowie der Archäologie eine herausragende Bedeutung zu. Wie auch für die Geschichtswissenschaft reichen die Anfänge einer intensivierten und zunehmend systematischen Beschäftigung mit diesen Gegenständen ins 18. Jahrhundert zurück.

Historisch-philologische Methodik in Prag

So beruht die monumentale Bibliotheca Slavica des böhmischen Theologen, Philologen und Slawisten Josef Dobrovský (1753–1829), der eine herausragende Rolle bei der Entwicklung der modernen tschechischen Schriftsprache spielte, auf Material der Wiener Hofbibliothek und des Prager Clementinums. Dieses Jesuitenkolleg ging nach Aufhebung des Ordens (1773) in die habsburgische Verwaltung über; 1781 ließ Maria Theresia dort die Nationalbibliothek errichten. Auf Dobrovskýs Werk und der in Wechselwirkung mit ihm verfeinerten historisch-philologischen Methode bauten im 19. Jahrhundert die wichtigsten Begründer eines sprachlich fundierten tschechischen Nationalbewusstseins auf, v. a. der Sprachwissenschaftler Josef Jungmann (1773–1847) mit seinem grundlegenden fünfbändigen tschechisch-deutschen Wörterbuch.

Panslawismus

Am politisch einflussreichsten wurde der Historiker František Palacký (1798–1876), dessen Dějiny národu českého v Čechách a v Moravě (Geschichte des tschechischen Volkes in Böhmen und Mähren) im Revolutionsjahr 1848 erschien. Gemeinsam mit dem slowakischen Slawisten Pavel Jozef Šafárik (1795–1861) gilt er als Begründer des in den nationalen Auseinandersetzungen bedeutenden Konzepts des Panslawismus, das von einem gemeinsamen Ursprung und einer gemeinsamen Geschichte der slawischen Völker ausging. Šafárik, dessen internationales Profil in seinen Mitgliedschaften in der Königlich-Preußischen, der Bayerischen und seit ihrer Gründung 1847 der Wiener Akademie der Wissenschaften deutlich wird, arbeitete wiederum eng mit dem Slowaken Ján Kollár (1793–1852) zusammen, der als erster Professor für slawische Archäologie die Universität Wien zu einem wichtigen Zentrum für diesen Gegenstand machte. [<<38]

Archäologie in Ungarn

Archäologische Funde und ihre unterschiedliche Interpretation in Hinblick auf die historische Kontinuität der einzelnen konkurrierenden Nationen der Habsburgermonarchie führten ebenfalls zu steigender systematischer Sammlung und methodischer Spezialisierung der Analyse der Überlieferung. Slawisch- und rumänisch-sprachige Minderheiten standen mit ihren Auslegungen besonders nach dem Österreichisch-Ungarischen „Ausgleich“ von 1867 dem Gründungsmythos der ungarischen Mehrheit gegenüber.

Für diese war die ungarische Landnahme ein Schlüsselereignis, das 1896 anlässlich seines „Millenniums“ als Ereignis von herausragender nationaler Bedeutung gefeiert wurde. Archäologische Argumentationen wurden dabei politisch in Dienst genommen, während gleichzeitig der Archäologe József Hampel (1849–1913), Mitglied der ungarischen Akademie der Wissenschaften, die erste umfassende fachwissenschaftliche Studie der sogenannten „Landnahmezeit“ vorlegte. Bereits zuvor hatte sich der Linguist Pál Hunfalvy (1810–1891) in seiner Magyarország ethnographiája (Ethnographie von Ungarn, 1876/77) basierend auf neuesten philologischen und sprachwissenschaftlichen Methoden gegen biologistische Modelle nationaler Zugehörigkeit gewandt. Wenige Jahre später verfasste er den 5. Band des in Wien und Teschen herausgegebenen Werks Die Völker Österreich-Ungarns zu Ungarn, kurz darauf folgte eine Publikation zu den Rumänen. Trotz methodologischen Austauschs wurde in diesen Fragen weder kurz- noch mittelfristig ein inhaltlicher Konsens zwischen fachlichen und politischen Vertretern konkurrierender Narrative über die Vergangenheit gefunden.

Methodenlehre

Am Institut für Österreichische Geschichtsforschung (IÖG), das sich gleichzeitig zu einem der zentralen Orte der Methodenlehre entwickelt hatte, fanden sie kaum Resonanz, wie man sich dort generell wenig für die nicht deutschsprachigen Länder der Habsburgermonarchie interessierte. Der Schwerpunkt lag klar auf der Erforschung und Edition mittelalterlicher Quellen. Hier bestanden vielfältige Kooperationen mit den Monumenta Germaniae Historica (MGH) in Berlin. Auch der inhaltliche Fokus lag auf der deutschen Geschichte, v. a. der mittelalterlichen Könige bzw. Kaiser sowie Italien und der Papstgeschichte, besonders in Verbindung mit dem 1881 gegründeten Österreichischen Institut in Rom. Eine Ausnahme bildete das Interesse an [<<39] der tschechischen Geschichtsschreibung zur böhmischen Geschichte, wie sie von Jaroslav Goll (1846–1929) in Prag vertreten wurde, einem der wichtigsten Vertreter der tschechischen Historiographie.

Mitteleuropäische Absolventen, europäische Karrierewege

Die Ausbildung in den handwerklichen Grundlagen zur Erforschung der Überlieferung zu deren jeweils „eigenen“ Geschichte erfolgte allerdings häufig in Wien als wichtigem Standort. Für das 1907 eingerichtete Seminar für osteuropäische Geschichte der Universität sowie das IÖG liegen einschlägige Darstellungen über die Absolventen in diesem Zeitraum vor. So besuchten bis zum Ersten Weltkrieg jeweils sechs Polen und Slowenen, 15 Ungarn und Deutsche aus Ungarn sowie 22 Tschechen und 13 Deutsche aus Böhmen und Mähren die Ausbildung am IÖG. Die Methodenrezeption in Südosteuropa erfolgte weniger über die historisch-hilfswissenschaftliche Ausbildung als über andere Institutionen (→ Kap. 1.3).

Exemplarisch ist etwa der europäische Karriereweg von Stanisław Krzyzanowski (1865–1917), der seine in Wien begonnenen paläographischen Studien später in Rom erweiterte und sich als erster Pole in Krakau in den historischen Hilfswissenschaften habilitierte und dort ab 1898 als Professor für dieses Fach und Geschichte des Mittelalters tätig war. Er und seine Schüler schrieben die wesentlichen ersten Werke zur polnischen Paläographie, Urkundenlehre und den historischen Hilfswissenschaften. Ein Beispiel für das Ende dieser formativen Periode der Wissenschaftsentwicklung ist der Slowene Milko Kos (1892–1972), der ab 1911 zuerst in Wien und dort auch am IÖG, nach dem Krieg an der Pariser École des Chartes studierte, sich 1924 in Belgrad für historische Hilfswissenschaften habilitierte und dann zunächst als Extraordinarius in Zagreb und ab 1926 als Professor für mittelalterliche Geschichte und historische Hilfswissenschaften an der Universität Ljubljana tätig war, wobei er für beide Fächer eine maßgebliche Gründerrolle in Slowenien spielte und u. a. eine Geschichte der Slowenen im Mittelalter verfasste.

Gute Beispiele für die enge Verflechtung verschiedener wissenschaftlicher Tätigkeitsfelder bieten die ungarischen Teilnehmer an der Ausbildung am IÖG. Von ihnen wirkte etwa László Fejérpataky (1857–1923) sowohl als Professor an der Universität Budapest (ab 1895) als auch als Direktor der Bibliothek des Nationalmuseums. Auch der Spezialist für Heraldik und Sphragistik Gyula Schönherr (1864–1908) [<<40] war nach Studien in Wien am Nationalmuseum in Budapest tätig und habilitierte sich 1902 an der dortigen Universität. Árpád Károlyi (1853–1940) wiederum war nach seiner Wiener Ausbildung am dortigen Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA) beschäftigt, bevor er sich 1880 in Budapest habilitierte, jedoch einen Ruf auf einen dortigen Lehrstuhl ablehnte und von 1909–1913 als Direktor des HHStA tätig war.

Prag – Berlin – Wien

Die meisten Absolventen der Wiener historischen Ausbildung waren Tschechen bzw. Deutsche aus Böhmen und Mähren. Jene unter ihnen, die sich in den historischen Hilfswissenschaften spezialisierten, studierten zu einem großen Teil in Wien, von den Deutschsprachigen vermutlich alle.

Die Prager Carolo-Ferdinandea war 1882 in die k. k. böhmische Karl-Ferdinands-Universität und die k. k. deutsche Karl-Ferdinands-Universität geteilt worden. Zwischen letzterer und den deutschsprachigen Universitäten in Wien und Berlin gab es in den letzten Jahrzehnten der Monarchie enge wissenschaftliche Beziehungen sowie einen intensiven Austausch von Gelehrten. An der tschechischen Karlsuniversität spielte der Archivar und seit 1887 Ordinarius für Hilfswissenschaften Josef Emler (1836–1899) eine zentrale Rolle, besonders für die Editionstechnik. Seine Schüler absolvierten ihrerseits häufig die Wiener Ausbildung, unter anderem die Gründer der Schule für Urkundenforschung in Brünn.

 

Parallel zur Intensivierung der nationalen Geschichtsnarrative und der Ausprägung nationalsprachlicher Fachwissenschaften in den einzelnen Kronländern kam es in den deutsch-österreichischen Wissenschaften im Zentrum der Habsburgermonarchie, denen Anknüpfungspunkte an eine „alte“ politische Nation fehlten, zu einer – je unterschiedlich artikulierten – Entwicklung eines deutschen Nationalbewusstseins, das sich seinerseits in einer deutschsprachigen Wissenschaftskultur äußerte. Diese lässt sich etwa an den engen Beziehungen zwischen den Universitäten in Berlin, Wien und Prag gut nachvollziehen.

In einer Phase weiterer Verwissenschaftlichung um die Jahrhundertwende wurden die Forschungsgegenstände abermals kleinteiliger und die Methoden vielfältiger und spezialisierter. Dementsprechend verlagerten sich die Auseinandersetzungen noch stärker auf Methoden-Diskussionen. Trotz einer auch hier bestehenden Wechselwirkung [<<41] zwischen Nationalisierungspolitiken und wissenschaftlicher Entwicklung dominierten methodische Debatten um fachwissenschaftliche Spezialisierung vs. disziplinäre Öffnung die akademischen Beziehungsgeflechte, die über die politischen Brüche des Ersten Weltkriegs und seiner Konsequenzen bis in die Zwischenkriegszeit aufrecht blieben.

1.3 Wiener Methodenausbildungen und ihre Ausstrahlung nach Südosteuropa

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bemerkte Dejan Medaković, Mitglied der Serbischen Akademie und national ausgerichteter Historiker, dass „fast alle namhaften serbischen Historiker“ in Wien studiert hätten (2001). Damit meinte er insbesondere die Belgrader Mittelalter- und Frühneuzeithistoriker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. In abgeschwächter Form gilt diese Aussage auch für die bulgarische, kroatische, rumänische und albanische Mittelalterforschung.

Dejan Medaković, Serben in Wien (Novi Sad 2001), S. 196.

Dass die Wiener mediävistische Schule stark nach Südosten ausstrahlen konnte, hatte gleich mehrere wissenschaftsgeschichtliche Gründe: Bis 1918 war Wien das kulturelle und wissenschaftliche Zentrum der Habsburgermonarchie. Die Universität Wien zog aber auch Studierende aus den jungen Balkanstaaten Serbien (autonom 1815, souverän 1878), Rumänien (autonom 1859/61, souverän 1878), Bulgarien (autonom 1878, souverän 1908) und Albanien (souverän 1912) an, die alle zumindest zeitweise politisch eng an die Donaumonarchie gebunden waren. Deren imperiale Politik hatte – wie im Zentrum – auch entscheidenden Anteil am Aufbau einer institutionalisierten Wissenschaft im seit 1878 von Österreich-Ungarn verwalteten, 1908 annektierten Bosnien-Herzegowina (vor allem über das Landesmuseum in Sarajevo), während albanische intellektuelle Eliten durch gezielte Stipendienvergabe besonders an den Universitäten Wien und Graz herangezogen wurden.

Das Bildungswesen des jungen bulgarischen Staates wurde in seinen Anfängen von Konstantin Jireček (1854–1918), selbst Sohn eines österreichischen Bildungsministers, maßgeblich begleitet. Wien war [<<42] aber auch Zentralort der Forschung zu Südosteuropa, an dem Theorien und Methoden der philologischen, geographischen, anthropologischen und historischen Beschäftigung mit dem Raum von den österreichisch-ungarischen Reichsgrenzen bis zum Ionischen und Schwarzen Meer ausgebildet wurden. Diese zentrale Stellung Wiens kann man in drei Phasen gliedern.

Vor der Institutionalisierung

In einer vorinstitutionellen Phase in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Grundlagen für eine mehrdisziplinäre Erforschung Südosteuropas im Umfeld der Hofbibliothek und der Zensurbehörde sowie im diplomatischen Dienst gelegt. Auch der Begriff Südosteuropa entstand in Wien, erstmals eingeführt 1814 von dem herausragenden Philologen Bartholomäus Kopitar (1780–1844). Der hamburgische Hugenotte in Wiener Diensten Ami Boué (1794–1881) erschloss als erster Forschungsreisender den inneren Balkan (heutiges Bosnien, Serbien, Kosovo, Albanien, Makedonien) in geographischer und anthropologischer Sicht (La Turquie d’Europe, 1840). Der Diplomat Johann Georg von Hahn (1811–1869) aus Hessen schuf nicht nur die Grundlagen einer philologischen und kulturwissenschaftlichen Albanologie, sondern veröffentlichte gemeinsam mit Karl Hopf (1832–1873), dem Begründer der Erforschung Griechenlands im Mittelalter, einen ersten quellengesättigten Überblick über die mittelalterliche Geschichte der Albaner.

Institutionalisierung: Lehrstühle und Seminare

Die institutionalisierte wissenschaftliche Beschäftigung mit Südosteuropa setzte an der Wiener Universität mit der Schaffung eines Lehrstuhls für Slawistik (1849) ein und wurde 1907 mit der Einrichtung eines Seminars für osteuropäische Geschichte abgeschlossen. Prägende Gestalt dieser Phase war Franz Ritter von Miklosich (1813–1891), ein Schüler Kopitars, dessen Arbeiten alle Sprachen Südosteuropas, vom Altkirchenslawischen bis zur Sprache der Roma, umfassten. Zur Mittelalterforschung trug er durch Editionen slawischer und byzantinischer Urkunden bei.

Die herausragende Stellung der philologischen Methode kennzeichnet auch die Generation des Slawisten Vatroslav Jagić (1838–1923) und des Historikers Konstantin Jireček, den man als zentrale Figur der Balkanmediävistik bezeichnen kann. Jireček erschloss das Archiv von Dubrovnik als Hauptquelle nicht nur für die mittelalterliche Geschichte Serbiens, Bosniens und Albaniens, sondern auch insgesamt [<<43] für die historische Forschung. Seine Geschichte der Serben (2 Bde., 1911–1918) und Staat und Gesellschaft im mittelalterlichen Serbien (4 Bde., 1912–1919) gelten heute noch als Standardwerke. Jireček schuf eine eigene Schule serbischer, aber auch bulgarischer Mediävisten, die in ihren Herkunftsländern die Wiener Methode verbreiteten. Diese bestand in einer kritischen Analyse erzählender Quellen und vor allem der Heranziehung archivalischer Dokumente. Als entscheidend erwies sich gerade für Serbien der Impuls zur Abkehr von einer nationalromantischen Schule, die das Mittelalter nach dem Vorbild der europäischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts verklärt und in den Dienst der Theorie von einer nationalen Wiedergeburt nach dem Ende der osmanischen Herrschaft gestellt hatte.

Neue Forschungsfelder

Auch in der Bestimmung der Forschungsfelder erwies sich Jireček als Pionier und Anreger: Institutionen- und Rechtsgeschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, historische Geographie, Literaturgeschichte besonders des mittelalterlichen Dubrovnik charakterisieren ein Forschungsinteresse, das weit über eine eng gefasste politische Ereignisgeschichte hinausreichte. Daneben kam der Grundlagenforschung erhebliches Gewicht zu: Jireček legte Editionen serbischer Urkunden vor und veröffentlichte gemeinsam mit dem Kroaten Milan von Šufflay (1879–1931) und dem Ungarn Ludwig von Thallóczy (1857–1916) ein heute noch maßgebendes Urkundenbuch zur mittelalterlichen albanischen Geschichte (1913–1918). Da Jirečeks ehemalige Dissertanten wie die Serben Jovan Radonić (1873–1953) und Stanoje Stanojević (1874–1937) oder der Bulgare Petăr Nikov (1884–1938) ebenfalls schulbildend wirkten, erstreckte sich Jirečeks Einfluss besonders auf die serbische Mediävistik bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bestes Beispiel ist der bedeutende serbische Mediävist Sima Ćirković (1929–2009).

Diese Schulen übernahmen von Jireček weitgehend Methode und Themenwahl, freilich mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Ein serbisches Urkundenbuch wurde erst vor kurzem vorgelegt, beinahe hundert Jahre nach Jirečeks Tod und nach vielen vergeblichen Anläufen (→ Kap. 3.2.7). Ein größeres bulgarisches Urkundenbuch des Mittelalters kann wegen des fast völligen Verlusts der Dokumente kaum erstellt werden. Ganz anders gestaltet sich hingegen die kroatische Urkundenforschung: Nicht nach Wiener Vorbild, sondern nach dem [<<44] Modell der MGH arbeitet die als Südslawische Akademie gegründete heutige Kroatische Akademie der Wissenschaften an einer umfassenden Sammlung der die Südslawen betreffenden mittelalterlichen Urkunden mit Schwerpunkt auf der kroatischen Vergangenheit (Monumenta historica Slavorum meridionalium, seit 1863). Dieselbe Akademie betreut auch das kroatische Urkundenbuch (seit 1904).

Zwischenkriegszeit (1918–1938)

Als dritte Phase eines freilich nunmehr schwindenden Wiener Einflusses auf die südosteuropäische Mediävistik kann die Zeit 1918–1938 angesehen werden. Das Ende der Monarchie und die tiefe Krise des Nachfolgestaates Österreich führten zu einem allmählichen Rückgang der Forschungsmöglichkeiten und -kompetenzen. 1934 wurden der Lehrstuhl für Balkangeschichte und das nach 1918 eingerichtete Balkaninstitut aus Spargründen geschlossen. Doch wirkte das Erbe der Jahrhundertwende noch nach, diesmal vor allem auf bulgarische und albanische Studierende, d. h. Angehörige von Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg nahestehenden Nationen. Jene aus den Siegerstaaten Serbien und Rumänien hingegen wandten sich den aufstrebenden Wissenschaftszentren Belgrad und Bukarest zu, wo direkt oder indirekt vom Wiener Methodenraum beeinflusste Mediävisten Institute und Schulen aufbauten. Neue wissenschaftliche Bezugsorte in Frankreich, Italien und Deutschland aber übernahmen zunehmend das wissenschaftliche Erbe der Donaumonarchie.

Der österreichische Ständestaat (1934–1938) hatte die Wiener Balkanforschung bereits stark zurückgedrängt, als der Nationalsozialismus in Wien eine neue Richtung vorgab: die einer „Südostforschung“ im Dienste der NS-Raumpolitik. Nach 1945 verlagerte sich der Schwerpunkt der deutschsprachigen historischen Südosteuropaforschung in die Bundesrepublik Deutschland, wobei Forschungen zum Mittelalter fast ganz zugunsten der jüngeren Epochen vernachlässigt wurden.

Der Wiener Einfluss auf die historische Forschung zu Südosteuropa war hingegen stark mediävistisch geprägt. Hier trafen sich die Bedeutung der mittelalterlichen Geschichte im Rahmen der allgemeinen Geschichtsforschung in Mitteleuropa und besonders in Wien mit dem Interesse südosteuropäischer Studenten an ihrer Nationalgeschichte: Denn die jungen Balkanstaaten suchten nach Jahrhunderten osmanischer Herrschaft einen Anknüpfungspunkt im Mittelalter, um eine fortlaufende nationale Erzählung zu konstruieren, die nicht erst im [<<45] 19. Jahrhundert einsetzt. Die wissenschaftliche Methode im Umgang mit dem Quellenmaterial wurde dabei in Wien vermittelt, durch – nahezu ausschließlich männliche – Gelehrte, die ihrerseits unter dem Einfluss der Methoden der allgemeinen österreichischen Mittelalterforschung standen. Darauf beziehen wir uns, wenn in diesem Buch der Wiener Methodenraum angesprochen wird.

Die Übernahme von Methoden und Fragestellung ist dabei auch hier nicht gleichzusetzen mit kultureller oder gar politischer Sympathie für Österreich-Ungarn. Im Gegenteil, gerade serbische und rumänische Absolventen der Wiener Schulen engagierten sich in ihren Heimatländern nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch, und zwar sehr oft gegen die Donaumonarchie: Jovan Radonić zählt zu den führenden großserbischen Ideologen, und der Rumäne Ion Nistor (1876–1962), der bei Jireček eine heute noch lesenswerte Abhandlung zur Handelsgeschichte der Moldau vorgelegt hatte, wirkte nach 1918 maßgeblich an der Rumänisierung der Universität Czernowitz mit, die unter seiner Ägide zum Mittelpunkt ultranationalistisch-antisemitischer Umtriebe wurde.

Unpolitisch war freilich auch die Wiener Forschung nicht, wenngleich sich ihre zentralen Gestalten Miklosich, Jireček und Jagić nicht von der Balkanpolitik der Donaumonarchie vereinnahmen ließen. Doch ist die Beschäftigung mit dem albanischen Mittelalter und das erwähnte Urkundenbuch auch vor dem Hintergrund des österreichisch-serbischen Konflikts um Nord- und Mittelalbanien zu sehen, der 1913 fast zum Krieg geführt hätte. Beide Seiten argumentierten mit auf das Mittelalter zurückgehenden historischen Rechten, und bei Verhandlungen um die Ostgrenze des 1912 geschaffenen albanischen Staates im Jahre 1913 zitierten österreichische Diplomaten serbische Klosterurkunden aus dem 14. Jahrhundert.

 

Führende Mediävisten der Donaumonarchie wie Jirečeks Kollegen Milan von Šufflay (1879–1931; von serbischen Agenten ermordet, was Albert Einstein und Heinrich Mann in einem internationalen Appell anprangerten) und Ludwig von Thallóczy (1857–1916) zählten zu den führenden Vertretern kroatischer bzw. ungarischer Nationalpolitik. Thallóczy verfasste etwa im Auftrag des österreichisch-ungarischen Außenministeriums die erste albanische Geschichte, die unter dem Namen des albanischen Übersetzers verbreitet wurde und [<<46] die albanische Geschichtsauffassung nachhaltig prägte. In Bosnien wirkte er sowohl als hoher Beamter wie als einer der Begründer der bosnischen Mediävistik.

In der Zwischenkriegszeit, besonders den zwanziger Jahren, sammelten sich im Umfeld der Wiener Universität albanische, makedonische und kroatische Studenten, deren Vereine in engem Kontakt zu Untergrundgruppen standen, die Anschläge gegen das 1918 geschaffene Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Jugoslawien) durchführten. Diese Politisierung des sozialen Raumes Universität schränkte aber die Rezeption der Wiener Methoden offensichtlich nur wenig ein – derart konkurrierende Historiographien wie die serbische und die albanische bezogen sich gleichermaßen auf sie. Die Osteuropaforschung wurde zwischen 1934 und 1945 zuerst vom sogenannten Ständestaat mit Sparmaßnahmen eingeschränkt, dann vom Nationalsozialismus weitgehend für seine Zwecke missbraucht. Nicht zufällig wurden zwei der führenden Sprachwissenschaftler, Nikolaj Trubeckoj (1890–1938) und Norbert Jokl (1877–1942), Opfer des Regimes.