Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Logik der Überlieferung

Sie wird daher zweitens ergänzt und verschränkt mit einer Einführung in die sozialen Räume und kulturellen Milieus, in denen in jedem dieser Zeiträume tendenziell die umfangreichste oder eine deutlich ansteigende Überlieferung zu verzeichnen ist, sowie besonders gute Chancen ihres längerfristigen Bestandes. Das ist für das Frühmittelalter die Kirche als wichtigste Überlieferungsträgerin. Im Hochmittelalter hat die urkundliche Überlieferung auch für die Rechts- und Verwaltungspraxis weltlicher Herrschaftsträger zunehmenden Anteil an der Überlieferung, ergänzt durch die Vielzahl von Objekten schriftlicher, bildlicher und materieller Kultur, die Zeugnis von höfischer und adeliger Repräsentation geben. Im Spätmittelalter kann Stadtentwicklung als paradigmatisch für den enormen Anstieg an zunehmend organisierter pragmatischer Schriftlichkeit und vergleichbaren materiellen Überlieferungsformen gelten.

Auch diese Typologie versteht sich in erster Linie als grobe Orientierungshilfe: Selbstverständlich sind im geistlichen Milieu entstandene Quellen über weite Strecken auch im Hoch- und Spätmittelalter dominant, doch im Zeitraum davor sind sie gemeinsam mit den spärlichen historiographischen Nachrichten aus dem Betrachtungsraum bzw. der fränkischen, langobardischen und byzantinischen Geschichtsschreibung über ihn oft die einzige erzählende Überlieferung. [<<27] Selbstverständlich gibt es auch im Frühmittelalter bereits Urkunden. Sie sind maßgeblich für die Etablierung eines robusten raum-zeitlichen Gerüsts. Richtiggehende Urkundenlandschaften entstehen allerdings in den meisten Regionen erst im Hochmittelalter, wo sie ihrerseits zur Konstituierung des Raumes beitragen. Selbstverständlich gab es pragmatische Schriftlichkeit bereits in den gut organisierten Reformorden des 12. und 13. Jahrhunderts und zunehmend auch in fürstlichen Kanzleien. Die systematische und serielle Überlieferung, die teilweise sogar vorsichtige quantitative Auswertungen möglich macht, ist allerdings besonders charakteristisch für die spätmittelalterliche Stadtkultur.

Die Orientierung an der Logik der Überlieferung und deren zunehmende Dichte, die sich nicht zuletzt in den Proportionen der Kapitel widerspiegelt, ist ungewohnt und liegt teilweise quer zum gewohnten chronologischen Aufbau von Überblicksdarstellungen, der als Rahmen auch diesem Buch zugrunde liegt. In allen Abschnitten werden wir daher zusätzlich zu Überblicksdarstellungen zur Forschungssituation besonderes Augenmerk auf die Diskussion solcher Überlappungen und auf vergleichende Differenzierungen legen.

Fallstudien

Das dritte Strukturprinzip der Darstellung ist jenes der exemplarischen Fallstudien, für die wir teilweise auf die Expertise von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fächern und mit spezifischen Sprach- und Materialkenntnissen zurückgreifen, um der räumlichen und damit auch sprachlichen Heterogenität der Überlieferung in Mittel- und Südosteuropa Rechnung zu tragen. Eine einführende Darstellung wie diese kann dabei nicht enzyklopädisch, sondern nur exemplarisch vorgehen, um die Vielfalt und Komplexität der Gegenstände auch methodisch fassbar zu machen.

Ein kulturhistorischer Zugang zu historischen Quellen fokussiert auf das „Wie“ und „Warum“ ihrer Herstellung, Rezeption und Zirkulation im Kontext von sozialen Lebensformen und kulturellen Vorstellungen. Der Aufgabe einer vergleichenden einführenden Darstellung als Wegweiser oder Orientierungshilfe gerecht zu werden, erfordert daher Schwerpunktsetzungen. „Exemplarisch“ ist angesichts der unterschiedlichen Größenordnungen der vorhandenen Überlieferung daher weniger im Sinn von „repräsentativ“ zu verstehen, sondern mit einem weiteren Begriff von Arnold Esch (1985) als „maßstäblich“: [<<28]

Wie lässt sich die jeweils präsentierte Überlieferung im Vergleich einordnen? Frühe erzählende Quellen wie die Lebensbeschreibung des Hl. Severin aus dem 6. Jahrhundert oder jene der Hl. Method und Kyrill, die dreihundert Jahre später geschrieben wurden, sind für den jeweiligen Überlieferungsraum singulär, während es vergleichbare Quellen im Westen und Süden des ehemaligen Römischen Reichs in deutlich größerer, aber immer noch überschaubarer Zahl gibt und die Überlieferung von Heiligenviten ab dem 12. Jahrhundert sprunghaft anwächst. Aber auch hier ist die räumliche Verteilung im Betrachtungsraum sehr ungleichmäßig. Am eindrücklichsten ist in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts der Gegensatz zwischen Papst Innozenz III. und dem bulgarischen Patriarchen Visarion. Während für das Oberhaupt der römischen Kirche eine enorme Fülle an Urkunden und Registereinträgen erhalten ist, wissen wir von der Existenz seines kirchlichen Gegenübers nur durch eine kurze Inschrift und ein zufällig überliefertes Siegel (Abb 1). Umfasst das niederösterreichische Urkundenbuch insgesamt über 150 Urkunden in 36 Gruppen bis zum Jahr 1076, das babenbergische Urkundenbuch einige hundert Stück bis 1246, und verzeichnen die Regesten der Bischöfe von Passau für denselben Zeitraum knapp 2000 Dokumente, so gibt es in Bulgarien oder den rumänischen Fürstentümern Walachei und Moldau bis ins 14. Jahrhundert aus unterschiedlichen Gründen (Urkundenverlust, spätes Einsetzen der Urkundenausstellung) nur einige wenige Einzelstücke.


Abb 1 Siegel des Patriarchen Visarion, Siegelabbildung revers, 13. Jahrhundert. [Bildnachweis] [<<29]

Ein letztes Beispiel: Um 1200 bildeten europäische Städte wie Rom oder Paris mit fünfstelligen Einwohnerzahlen die Ausnahme. Dazu gehörte auch Venedig, für das in dieser Zeit rund 70.000 Einwohner angenommen werden. Ebenso hat das dichte Städtegeflecht der italienischen Halbinsel oder der spätmittelalterlichen Hanse-Kultur an Nord- und Ostsee keine Entsprechung in Mittel- und Südosteuropa. „Große“ Städte wie Wien oder Prag hatten bis 1500 zwischen 10.000 und 25.000 Einwohner, durchschnittliche Mittel- und Kleinstädte zwischen 2000 und 5000, oft auch weniger. Dalmatien, der westliche Küstensaum Südosteuropas mit einer teilweise noch aus römischer Zeit stammenden Stadtkultur, hatte keine Stadt mit mehr als 10.000 Einwohnern. Selbst die im 15. Jahrhundert blühende Stadtrepublik Dubrovnik/Ragusa, die den Balkanhandel beherrschte und Handelsschiffe bis in das westliche Mittelmeer sandte, gehörte im europäischen Vergleich bestenfalls zu den mittelgroßen Städten. Konstantinopel, die bevölkerungsreichste Stadt Südosteuropas, hatte um 1450 mit zwischen 30.000 und 40.000 Einwohnern einen demographischen Tiefstand erreicht und wurde nach der Eroberung durch Sultan Mehmed II. (1453) u. a. durch gezielte Deportationen aus den Provinzen des Osmanischen Reichs besiedelt.

Die exemplarische Vorstellung einzelner Überlieferungsträger wird daher, wo immer das möglich ist, vergleichend diskutiert, um die Relevanz und Repräsentativität oder eben die Besonderheit der vorgestellten Beispiele deutlich zu machen. Sie werden zudem mit den entsprechenden Verweisen auf einschlägige Handbücher und Forschungsliteratur jeweils in den zeitlichen und räumlichen Kontext eingeordnet. Gleichzeitig werden „weiße Flecken“ auf der Landkarte der Quellenerschließung ebenso sichtbar gemacht wie das Fehlen eines Vergleichsrahmens, wo dies der Fall ist. Schließlich sollen einige Fallbeispiele bewusst konkrete methodische Vorgangsweisen sichtbar machen, mit denen unterschiedliche Fachwissenschaften an ihre Gegenstände herangehen.

Eine kulturhistorische Perspektive

Prägend für das mittelalterliche Europa in seinem allmählichen und „ungleichzeitigen“ Werden waren eine Reihe komplex verflochtener Faktoren. Zwei davon, die – wenn auch vielfach gebrochen – nachhaltig wirksam werden sollten, sind das Christentum und die Auffassung von der sozialen Welt als durch das Prinzip der Ungleichheit [<<30] strukturiert. Man stellte sich die Menschen in Stände hineingeboren vor, die Lebensformen und -chancen wie Handlungsmöglichkeiten maßgeblich bestimmten. Selbstverständlich muss man solche Aussagen umgehend wieder einschränken. Denn das Christentum setzte sich nur allmählich und regional sehr unterschiedlich „tief“ durch, wurde darüber hinaus in einem langen Prozess in einen katholischen „Westen“ und einen orthodoxen „Osten“ geteilt. In ganz Europa lebten im gesamten behandelten Zeitraum Angehörige nicht christlicher Religionen, besonders Juden und Muslime. So gehörten weite Teile unseres Raumes seit der osmanischen Eroberung zu einem Reich, in dem eine überwiegend muslimische Elite nach islamischen Staatsmodellen eine mehrheitlich christliche Bevölkerung beherrschte.

Ebenso sah die ständische Einteilung der Menschen in Geistliche, Krieger und Bauern, welche die Kirchenväter der lateinischen Spätantike prägten, schon in den frühmittelalterlichen Jahrhunderten viel komplexer aus. Geistlicher und adeliger Stand überschnitten einander und differenzierten sich, die bäuerliche Bevölkerung war je nach naturräumlichen und ökonomischen Gegebenheiten regional unterschiedlich stark abhängig. In Krisenzeiten stieg oft die soziale Mobilität, und die Ausbildung von Herrschaftszentren, Städten und Dörfern in Hoch- und Spätmittelalter schuf neue Formen der Zugehörigkeit und des gemeinschaftlichen Zusammenlebens ebenso wie eine verstärkte Binnendifferenzierung in diesen sozialen Räumen, deren Grenzen nach außen ihrerseits unterschiedlich durchlässig sein konnten.

Überlieferungschancen hängen maßgeblich von sozialen Aspekten ab. Wer Macht und Einfluss hat, wer sich ein Archiv bauen und es erhalten kann, wer der Erinnerung Stimme und Schrift verleihen kann, dessen Zeugnisse werden eher in die Geschichte eingehen als die von Angehörigen sozialer Unterschichten, manchmal auch von Randgruppen oder rechtlich nicht Gleichgestellten wie etwa Frauen. Die zumindest teilweise „Unsichtbarkeit“ dieser Gruppen in den Quellen liegt aber nicht nur in der Überlieferung selbst begründet, die meist die Perspektive der Sieger und der institutionell langfristig Erfolgreichen privilegiert. Sie hängt vielmehr auch davon ab, ob Historiker und Historikerinnen nach ihnen suchen. Es ist uns daher ein Anliegen, in der exemplarischen Diskussion vorhandener Überlieferung gerade auch solchen Personen und Gruppen Augenmerk zu schenken, die auf [<<31] den ersten Blick geringere Chancen haben, von Überlieferung und historischen Darstellungen – zumal im Überblick – berücksichtigt zu werden.

 

Selbstverständlich gilt auch hier, dass man sich darum bemühen muss, die Proportionalität der überlieferten Gegebenheiten methodisch nachvollziehbar zu machen. Der reichen Überlieferung dalmatinischer Küstenstädte und dörflicher Gemeinden im 14. und 15. Jahrhundert, die uns Einblicke in den Alltag der Menschen und in Facetten sozialer Beziehungen, in Ehestreitigkeiten und Wirtschaftsweisen, Gasthausraufereien und Handlungsstrategien gegenüber der venezianischen Obrigkeit erlaubt, stehen weite Gebiete im bosnischen oder serbischen Hinterland gegenüber, über die zu all diesen Themen nur vereinzelte oder gar keine Quellen erhalten sind. Warum das jeweils so ist und wie Historiker und Historikerinnen in Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen der Nachbardisziplinen (Archäologie, Kunstgeschichte, Theologie und Kirchengeschichte, Philologien, Linguistik, etc.) versuchen, diese Probleme zu lösen, das sind Fragen konkreter methodischer Verfahren, die nicht zuletzt durch die – zu Unrecht so bezeichneten – historischen „Hilfs“-Wissenschaften laufend weiter entwickelt werden. Der Umgang mit Schriften, Inschriften und Handschriften (Paläographie, Epigraphik, Kodikologie) gehört dazu ebenso wie die Interpretation von Bildern, Wappen und Münzen (Ikonographie, Heraldik, Numismatik). Sie alle werden in den einzelnen Kapiteln im Sinn von Kulturtechniken ebenso wie als methodische und letztlich epistemologische Werkzeuge vorgestellt. [<<32]

1
1.1 „Moderne“ Wissenschaften und Nationen

Vom ausgehenden 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert, als sich in ganz Europa Rahmenbedingungen und Formen dessen ausprägten, was heute unter „moderner Wissenschaft“ verstanden wird, gehörten einige Gebiete unseres Betrachtungsraumes politisch zunächst noch zum Herrschaftsgebiet des Osmanischen Reichs, der überwiegende Teil aber zu dem der Habsburgermonarchie. Ihr Zentrum Wien hatte daher in vielfacher Hinsicht Einfluss auf die wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Entwicklung der sich im 19. Jahrhundert formierenden „Nationen“, trotz und teilweise gerade wegen ihrer zunehmenden politischen Abgrenzung von diesem Zentrum.

Generell ist Europa im 19. Jahrhundert von zwei für unseren Gegenstand maßgeblichen und komplex verflochtenen Aspekten der politischen und wissenschaftlichen Entwicklung charakterisiert: Eine der vielen Antworten auf die napoleonischen Kriege und die konservative Restaurationspolitik der europäischen Großmächte bestand in zunehmenden nationalstaatlichen Bestrebungen. Diese entwickelten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa in Konkurrenz und Opposition zur imperialen Politik der heterogen zusammengesetzten Habsburgischen, Russischen und Osmanischen Reiche besondere Brisanz. Formen der politischen und sozialen Nationsentwicklung und die ihnen zugrunde liegenden Prozesse nationaler Identifikation benötigten ihrerseits Erzählungen, die eine „eigene“ – möglichst weit in die Vergangenheit zurück reichende – Geschichte propagierten.

Wissenschaft als Legitimationsinstanz

Solche nationalen „Meistererzählungen“ bedurften einer möglichst robusten Fundierung durch historische Belege. Quellenbasierte Geschichtsdeutungen hatten größere Autorität, wodurch wissenschaftliche Forschung in den entstehenden Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts eine herausragende Funktion als Legitimationsinstanz erhielt: Philologien, Sprach- und Geschichtswissenschaften, historische [<<33] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe Geographie und Archäologie und später auch „neue“ Fächer wie die Ethnologie erarbeiteten Materialgrundlagen und Methoden, mit denen die kategorialen Grundlagen dessen geschaffen wurden, was man als Basis einer „Nation“ verstand: eine gemeinsame Sprache und Herkunft, Geschichte und Kultur.

Die zunehmende Bedeutung nationaler Geschichtskulturen und deren Konkurrenz untereinander führten somit zu einer Aufwertung von Wissenschaft, deren Arbeits-, Organisations- und Vermittlungsformen. Dies resultierte in einem gewaltigen Schub der Institutionalisierung und Professionalisierung wissenschaftlicher Forschung.

Neue Sammlungen und Institutionen

Die Sammlung, Sichtung, Ordnung und Auswertung vor allem schriftlicher, aber auch materieller Überlieferung war bis dahin am Ort der Entstehung der Quellen selbst – in Klöstern, an Adelssitzen, in Städten und später in höfischen Sammlungen und Institutionen (in Wien etwa das Haus-, Hof- und Staatsarchiv, die Hofbibliothek oder das Münz- und Antikenkabinett) erfolgt. Dort hatte sie jeweils einen besonders seit dem 18. Jahrhundert intensivierten Prozess der Verwissenschaftlichung im Sinn einer zunehmend geregelten methodischen Herangehensweise an die Gegenstände durchlaufen.

Im 19. Jahrhundert verschob sich der institutionelle Schwerpunkt durch die Aufhebung vieler geistlicher Institutionen einerseits und die Einrichtung neuer Akademien und universitärer Lehrstühle, Bibliotheken und Museen andererseits in Richtung zentraler Institutionen, wo unterschiedliche Überlieferungsformen (Handschriften, archäologische Funde, Toponyme, etc.) mit neu entwickelten Methoden erfasst, bearbeitet und analysiert wurden.

Landes- und Nationalmuseen

So wurden nach der Gründung des ungarischen Nationalmuseums 1802 ähnliche Institutionen in Berlin (1815), Lemberg (1817, heute in Breslau/Wrocław), Prag (1818), Agram/Zagreb (1821) und Laibach/Ljubljana (1821 Landesmuseum für Krain, 1921 slowenisches Nationalmuseum) gegründet, sowie das steiermärkische Landesmuseum Joanneum in Graz (1811) und das Ferdinandeum in Innsbruck (1823). Die methodische Ausdifferenzierung führte zur Abgrenzung wissenschaftlicher Disziplinen gegeneinander, wenn auch die jeweils individuellen Formen der wissenschaftlichen Zusammenarbeit überregional bzw. international, die neuen Fachrichtungen übergreifend und durch persönliche Kontakte geprägt waren. [<<34]

Vereine und Gesellschaften

Ähnliche Tendenzen der organisierten Beschäftigung mit der Vergangenheit zeigten sich in der Gründung verschiedener Vereine und Gesellschaften auf regionaler und Landesebene. Ihre Träger waren ebenfalls oft Vertreter sozialer – adeliger und bürgerlich-gelehrter – Eliten, die sich ihrerseits zu Trägern des jeweiligen Landes- bzw. Nationalbewusstseins entwickelten. Staatlich-institutionelle und „private“ Initiativen waren zunächst eng miteinander verflochten, so wie die europäische Gelehrtenkultur durch ein dichtes Netz an personellen, intellektuellen und institutionellen Bezügen gekennzeichnet war.

Quellenerschließung und Editionen

Überall aber erforderte die umfassende Sammlung unterschiedlichster Überlieferung neue Organisationsformen der Quellenerschließung, allen voran in großen Editionsunternehmen. Die Tätigkeiten im Rahmen der bereits in den 1770er Jahren gegründeten, und damit ältesten gelehrten Vereinigung, der Königlich-Böhmischen Gesellschaft, sind dafür ebenso ein Beispiel wie das bis heute federführende Editionsunternehmen für mittelalterliche Schriftquellen, die Monumenta Germaniae Historica (MGH), das in der 1819 durch den Reichsfreiherrn Karl von Stein begründeten Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde seinen Anfang nahm. An der 1825 von Graf Széchenyi in Pressburg am damaligen Parlamentssitz gegründeten und geförderten Ungarischen Akademie der Wissenschaften (so genannt ab 1845) wurden ebenfalls früh Editionsprojekte durchgeführt. Die Praxis der systematischen Quellenerhebung, -kritik und -interpretation ging Hand in Hand mit der Etablierung von zunehmend spezialisierten begrifflichen Instrumentarien.

Neue Ausbildungsstätten

In diesem gesamteuropäischen Rahmen gewann die Universität Wien als wissenschaftliches Zentrum vergleichsweise spät jenes Profil, das sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts charakterisierte. Im Unterschied etwa zu den deutschen Ländern wurde hier zu Beginn des Jahrhunderts noch keine systematische Forschung oder Methodendiskussion betrieben. Der Lehrbetrieb war den obrigkeitsstaatlichen Prinzipien des Vormärz unterworfen. Erst das Revolutionsjahr 1848 führte zu grundlegenden Reformen durch die Zentralverwaltung und zu einer offeneren Haltung gegenüber der universitären Lehre und Forschung. Der staatliche Bedarf nach einer modernisierten Wissenschaftsverwaltung äußerte sich bereits zuvor im Beginn der [<<35] Universitätsreform (1847) und – in demselben Jahr – der Gründung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, als deren erste Einrichtung die Historische Kommission mit ihrer Arbeit begann und bald maßgebliche Editionsreihen wie die Fontes rerum Austriacarum etablierte. Seit 1848 konnten österreichische Gelehrte und Institutionen auch formell Mitglied der MGH sein. 1854 wurde schließlich nach dem Vorbild der Pariser École des Chartes (1821) das Institut für österreichische Geschichtsforschung (IÖG) gegründet.

Nationalgeschichte der Habsburgermonarchie?

All diese Initiativen sind nicht nur Antwort auf bildungs- und verwaltungspolitische Defizite, sondern sie reagierten auch auf die grundlegenden Schwierigkeiten der Habsburgermonarchie und ihres Zentrums, ein integratives nationalstaatliches Geschichtsbild zu etablieren. Um eine forschungsbasierte „Nationalgeschichte“ im Sinn einer habsburgischen Gesamtstaatsgeschichte ging es einem der bekanntesten Vertreter der Reformpolitik, dem aus Prag stammenden Juristen, Bildungsbeamten und ab 1861 Unterrichtsstaatssekretär Josef Alexander Helfert. 1853 veröffentlichte er in Prag seine Schrift Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Oesterreich, die programmatisch für die habsburgische Wissenschaftspolitik war. Der mit der Gründung des IÖG verbundene politische Auftrag bestand daher in Helferts Sinn in einer wissenschaftlichen Ausbildung und Forschung, die das Verständnis einer habsburgischen Gesamtstaatsgeschichte begründen, aufbauen und vermitteln sollten.

Hilfswissenschaftliche Mediävistik in Wien

Betrafen also zunächst die Aufgaben des IÖG sowohl Geschichtsforschung als auch Geschichtsdarstellung, so verschob sich der Schwerpunkt von Beginn der praktischen Arbeit an auf die Forschungsaspekte, und hier wiederum fokussiert auf mediävistisch-hilfswissenschaftliche Studien. Maßgeblich prägte diese Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der aus Sachsen berufene Institutsleiter Theodor von Sickel (1869–1891), unter dem das IÖG sein primär an der Urkundenforschung (Diplomatik) des Mittelalters orientiertes Profil entwickelte. Das Sickel’sche paläographisch-diplomatische Ideal der „peinlich exakten Methode“ wurde nicht zuletzt vor dem Hintergrund zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Modelle neben der Urkundenforschung auch auf andere Gegenstände mittelalterlicher Überlieferung und ihre Erforschung angewandt (z. B. Numismatik, Heraldik, Sphragistik). [<<36]

Die zunehmende methodische Spezialisierung und die Konzentration auf die hilfswissenschaftlichen Aspekte der Geschichtsforschung an Quellen zur Geschichte des Mittelalters begründeten letztlich den Erfolg dieser Institution und ihren nachhaltigen Einfluss zunächst auf die österreichische Forschungslandschaft und bald auch in Mittel- und Südosteuropa. Diese spezifische Forschungspraxis und das – mit wenigen Ausnahmen – Fehlen von Bemühungen um umfassendere Geschichtsdarstellungen gingen Hand in Hand mit einer tendenziell unpolitischen Haltung eines großen Teils der Institutsangehörigen.