Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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3.1 Neue Herrschaftsbildungen 1000–1300: Adels-, Hof- und Klosterkultur

Byzanz, Ungarn und die Kiewer Rus’

Die Welt, die Konstantínos VII. Porphyrogénnetos beschrieb, war eine Welt in Bewegung. Ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Kaisers († 959) hatten sich die politischen Verhältnisse in unserem Betrachtungsraum entlang der Donau grundlegend verändert. Wer in gängigen Handbüchern eine Karte des südöstlichen Europas betrachtet, erhält folgendes Bild vermittelt: Das Byzantinische Reich hatte um 1000 weite Teile des Balkans, von der Adria bis zum Schwarzen Meer, von der mittleren Donau bis in die Peloponnes wieder unter seine Herrschaft gebracht. Auf solchen Geschichtskarten nimmt sich die imperiale Machtausdehnung eindrucksvoll aus. Verschwunden ist das Erste Bulgarische Reich: 971 hatte Byzanz den Osten Bulgariens unterworfen, 1018 auch die bulgarische Herrschaft des Zaren Samuil, die von 976 bis 1018 mit dem Zentrum um die makedonische Seenplatte (Ochrid- und Prespa-Seen) bestanden hatte. In den sich herausbildenden serbischen Raum wurden auch die zahlreichen kleineren südslawischen Herrschaften eingegliedert. Byzanz war wieder eine Donaumacht geworden, wie einst das römische Imperium.

Doch auch der Raum nördlich der unteren und mittleren Donau hatte sein politisches Antlitz verändert, ebenfalls im Sinne einer Stabilisierung. Im pannonischen Raum waren die Magyaren – nach der Landnahme im 9. Jahrhundert und zahlreichen Vorstößen in den Westen und Süden Europas im 10. Jahrhundert – in einem langwierigen Prozess um 1000 zum Christentum übergetreten und wurden unter ihrem König Stephan I. (dem Heiligen) aus der Familie der Árpáden Teil der westkirchlichen Christenheit. Wie im Falle Bulgariens hatten Rom und Byzanz bei der Bekehrung der Magyaren in Konkurrenz zueinander gestanden, und die ungarische Krone, die später so benannte Stephanskrone (Abb 7 und 8), trägt deutliche Spuren dieses byzantinischen Einflusses: Ihr unterer Teil mit Emailbildern von Christus, [<<142] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe den Erzengeln Michael und Gabriel sowie den Heiligen Kosmas und Damian wird als „griechische“, ihr oberer Teil als „lateinische Krone“ bezeichnet (corona graeca, corona latina). Für ein halbes Jahrtausend, bis zur ungarischen Niederlage gegen die Osmanen bei Mohács (1526), war das Königreich Ungarn die Vormacht im pannonischen Raum. 1102 wurde der damalige ungarische König Koloman König von Kroatien; 1105 erlangte er die Oberhoheit über Dalmatien womit Ungarn zur Adriamacht wurde.


Abb 7 und 8 Krone des Hl. Stephan, undatiert, vermutlich im 12. Jahrhundert in dieser Form zusammengestellt. [Bildnachweis]

Ebenfalls langfristig stabilisierend wirkte die zweite große Herrschaftsbildung im Norden des byzantinischen Einflussbereichs, die Kiewer Rus’: Aus Skandinavien in den heute russischen Raum eingewanderte Kriegergruppen hatten slawische und finno-ugrische Gemeinschaften politisch organisiert, die langfristig in eine neue sprachlich ostslawisch geprägte Herrschaftswelt mit Zentrum in Kiew verschmolzen. 988/989 trat ihr Anführer Vladimir zum Christentum byzantinischer Prägung über. Das Großfürstentum Kiew der Dynastie der Rurikiden zerfiel zwar ab dem 11. Jahrhundert in zahlreiche Teilfürstentümer, die von Dynastieangehörigen regiert wurden, stabilisierte mittelfristig aber die seit der Spätantike unruhige Steppenzone im Gebiet der heutigen Ukraine. Mit den Rurikiden und den ungarischen [<<143] Árpáden (bis 1301) erhielt der weite Raum zwischen pannonischem Becken und den Weiten des russischen Raumes erstmals seit der Spätantike dauerhafte Strukturen.

Eine solche kartographische Beschreibung stellt allerdings nicht mehr als eine Momentaufnahme aus der „Vogelperspektive“ dar: Weder kann sie die Vielzahl der längerfristig weniger erfolgreichen politischen Projekte erfassen, noch sagt sie etwas über die Kriterien, was „Herrschaft“ jeweils konkret bedeutet hat, inwieweit wir über ihre Durchsetzung Kenntnis haben und welche Grundlagen der Überlieferung einen solchen Befund erlauben. Karten, die große Räume einfarbig als Herrschaftsgebiete ausweisen, geben kaum mittelalterliche Realitäten wieder. Die byzantinische Herrschaft auf dem Balkan etwa war alles andere als flächendeckend. Schon die Ausdehnung der Provinzen, die von der Küste ins gebirgige Hinterland zunahm, deutet auf stärkere Herrschaftsdichte in verkehrsmäßig besser erschlossenen Gebieten hin.

Die Küsten der Ägäis und des ionischen Meeres und die anschließenden Küstenebenen – die an Flussmündungen jedoch oft malariaverseucht waren – bildeten den Kernraum byzantinischer Kontrolle. Aufgrund der räumlichen Entfernung und der instabilen Lage im Hinterland als schon weniger nachhaltig erwies sich die Machtstruktur in der südlichen und mittleren Adria. Im balkanischen Binnenland hatte Byzanz starke Garnisonen nach Ochrid, Skopje und Niš gelegt. Das Reich konzentrierte sich darauf, die wichtigsten Verkehrsachsen durch Burgen zu beherrschen, die West-Ost-Transversale Dyrrháchion (heute: Durrës, Albanien) – Ochrid – Saloniki – Konstantinopel; die Heerstrasse von Konstantinopel über Serdika (heute: Sofia, Bulgarien) – Niš – Sirmium (heute: Sremska Mitrovica) sowie die Straße entlang der Vardar-Morava-Furche (Saloniki – Skopje – Niš – Sirmium).

Die Gebirgszonen des westlichen Balkans (Bergzonen von Bosnien über Serbien, Montenegro nach Albanien) vermochte das Reich weder flächendeckend mit seinem Verwaltungsapparat zu durchdringen noch – selbst auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung – dauerhaft zu befrieden. Es griff zu bewährten Methoden indirekter Herrschaft, wie der Vergabe von Titeln und Jahrgeldern an örtliche Machthaber, während neue Provinzen (Thémata) in strategisch wichtigen und verkehrsgünstigen Regionen wie Süddalmatien (Raúsion/Dubrovnik, nach 1018) und an der mittleren Donau (Sirmium) errichtet wurden. [<<144] Im Hinterland entglitt schon im zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts die Zeta (Raum zwischen Kotor und Shkodra) der byzantinischen Herrschaft. Aufstände in der Region des heutigen Kosovo und Makedonien (um 1040) begleiteten diese Loslösungsprozesse. Der verkehrsoffenere Osten der Balkanhalbinsel (heutiges Nordostgriechenland und Südbulgarien) hingegen war kaisernäher, d. h. sowohl geographisch wie politisch-kulturell stärker an Konstantinopel angebunden.

Doch auch in Regionen wie Thessalien entzogen sich Bevölkerungsgruppen wie die Vlachen (Aromunen, eine balkanromanischsprachige Bevölkerung aus überwiegend seminomadischen Hirten) der byzantinischen Herrschaft. Die untere Donau hingegen stellte einen eigentlichen Begegnungsraum zwischen byzantinischer und Steppenkulturen dar: In den byzantinischen Forts mischte sich eine Bevölkerung, die in byzantinischen Quellen als mixobárbaroi („Mischbarbaren“) bezeichnet wurde. Einfälle von Steppenvölkern wie den Petschenegen (1045–1049), Uzen und Kumanen (ab 1064) legten aber die Fragilität der byzantinischen Herrschaft offen. Auch für die europäische Geschichte als einschneidend erwies sich die byzantinische Niederlage im ostanatolischen Mantzikert gegen die vorrückenden turksprachigen Seldschuken (1071): Byzanz verlor seine Machtbasis in Kleinasien fast vollständig.

Kreuzzugsbewegungen

Die ab 1096 beginnenden Kreuzzugsbewegungen wurden nicht zuletzt in diesem Zusammenhang in Gang gesetzt. Sie verschärften die seit dem 8. und 9. Jahrhundert schwelenden Spannungen zwischen West- und Ostkirche, d. h. zwischen Katholiken und Orthodoxen, die erstmals in großer Zahl aufeinander trafen. Die zunehmende Entfremdung, die Bildung von Vorurteilen auf beiden Seiten zeitigen Folgen bis in die Gegenwart. Als 1204 die Teilnehmer des Vierten Kreuzzuges Konstantinopel eroberten, erschütterten sie nicht nur nachhaltig das Byzantinische Reich. Das Jahr 1204 steht bis heute für viele Orthodoxe für katholische Gewalt gegen das Ostchristentum, und noch 2004 entschuldigte sich Papst Johannes Paul II. (1920–2005) für Plünderung und Verwüstung des Mittelpunkts orthodoxer Kultur.

Für den Balkanraum bedeutete das Jahr 1204 den Beginn einer fast drei Jahrhunderte währenden Zeit zunehmender politischer Zersplitterung. Schon 1185 hatte sich in einem großen von Bulgaren, balkanromanischen Vlachen und christianisierten turksprachigen Kumanen [<<145] getragenen Aufstand Bulgarien von Byzanz gelöst (sog. Zweites Bulgarisches Reich, bis 1393). Ebenfalls am Ende des 12. Jahrhunderts hatte die serbische Dynastie der Nemanjiden die byzantinische Kontrolle abgeschüttelt. In Bulgarien wurde die alte Zarenwürde neu belebt. Zar Kalojan wurde 1204 von einem päpstlichen Legaten gekrönt. 1217 erhielt der serbische Herrscher Stefan (der „Erstgekränzte“, prvovenčani) vom Papst die Königswürde verliehen. Nach 1204 umwarb das Papsttum also die orthodoxen Balkanslawen. Diese aber orientierten sich langfristig an dem politisch schwachen, kulturell aber prestigereichen Konstantinopel, nicht aber an Rom, das auch politisch als Bedrohung wirkte. Denn das Papsttum stützte in den Augen der orthodoxen Eliten des Balkans – ob byzantinisch, serbisch oder bulgarisch – das kurzlebige lateinische Kreuzfahrerreich Konstantinopel (1204–1261), das realpolitisch stark von Venedig abhängig war. 1219 wandte sich Serbien kirchlich dem im kleinasiatischen Exil (Níkaia) befindlichen Patriarchat von Konstantinopel zu, das ihm kirchliche Autokephalie (Autonomie) unter einem eigenen Erzbischof verlieh.

Als deutlich langlebiger erwiesen sich die sogenannten Kreuzfahrerstaaten in Griechenland: das Herzogtum des Archipel/Kykladen, bis 1566; das Herzogtum Athen, bis 1456; das Fürstentum Achaia/Peloponnes, bis 1432. Die Republik Venedig, ursprünglich ein fernes Randgebiet von Byzanz, richtete sich als eigentliche Vormacht in der Adria und der Ägäis ein. Sie hatte sich schrittweise zu einem faktisch gleichberechtigten Vertragspartner von Byzanz entwickelt (1082), hatte weite Teile des byzantinischen Handels schon vor 1204 beherrscht und wurde nach 1204 zur direkten (Kreta) und indirekten (Kykladen) Territorialherrscherin in der Ägäis. In der Adria setzte sich Venedig nach jahrhundertelangen wechselvollen Kriegen gegen das Königreich Ungarn erst 1420 als Vormacht durch.

 

Politische Instabilität

Das 13. Jahrhundert war in Südosteuropa geprägt von starker politischer Instabilität: weder Ungarn noch die Kreuzfahrer, weder Serbien noch Bulgarien oder die byzantinischen Nachfolgestaaten im heutigen Westgriechenland (Epirus) waren in der Lage, das byzantinische Erbe ganz zu übernehmen. Die Mongolen zerstörten schließlich 1240 Kiew, 1241/42 wurde das ungarische Königreich schwer verwüstet; die Schätzungen der Bevölkerungsverluste bewegen sich zwischen 25 % und 40 %. Das mongolische Chanat der Goldenen Horde beherrschte [<<146] den weiten Steppenraum von der unteren Donau bis nach Russland und brachte auch das geschwächte Bulgarien in Tributabhängigkeit. Damit erreichte der Einfluss der Kriegergemeinschaften mit germanischer, zentralasiatischer, ostasiatischer Führungsschicht, die seit der Spätantike die untere Donau bedrängten, einen letzten Höhepunkt. Erst im beginnenden 14. Jahrhundert lockerte sich der Druck der „Steppenvölker“ auf den südosteuropäischen Raum. Am Abhang der Karpaten schoben sich zwei neue orthodoxe Fürstentümer allmählich in das politische Vakuum vor: die Walachei (um 1330) und die Moldau (um 1360) entstanden als Herrschaftsbildungen von rumänischen Adeligen, die sich Schritt für Schritt von der nominellen ungarischen Herrschaft gelöst hatten und sich deren Übergreifen über die Süd- und Ostkarpaten entgegen setzten.

Fränkisches Reich

Im Norden des hier beschriebenen Raumes, d. h. an der Ostgrenze des ostfränkischen Reichs unter karolingischer Herrschaft, hatten sich im 9. Jahrhundert das polyethnische, von duces (Fürsten) geführte Böhmen und besonders das mährische regnum (Reich) als maßgebliche Machtfaktoren etabliert. Die politisch-militärische Expansion des fränkischen Reichs wiederum – dessen Geschichtsschreibung diese Bezeichnungen entstammen – war seit dem 8. Jahrhundert Hand in Hand mit internen Maßnahmen der Herrschaftsstabilisierung gegangen, etwa um Selbständigkeitsbestrebungen der Herzöge von Bayern entgegen zu wirken. So versuchten die ostfränkischen Karolinger, lokale Große entweder politisch zu integrieren oder aber auszuschalten, indem sie wichtige Positionen mit königlichen Mandatsträgern besetzten. Dabei wurden neue Ämter geschaffen, von denen sich einige längerfristig etablierten. Neben den „alten“ Herzogtümern (ducatus) waren dies vor allem Grafschaften (comitatus) in den gesicherten Herrschaftsgebieten und Markgrafschaften (marchae) für die Grenzlandverteidigung. Besonders große Gebiete wie das bayerische Ostland (plaga orientalis) unterstanden zwar zeitweilig einem Präfekten. Maßgeblich waren aber darunter liegende Einheiten wie das „alte“ Fürstentum Karantanien im Südosten oder die zeitgenössisch noch sehr unspezifisch benannte marcha orientalis, die Ende des 10. Jahrhunderts das Kerngebiet der österreichischen Länder werden sollte. Das insgesamt vergleichsweise riesige, dünn und polyethnisch besiedelte Gebiet bot für die königlichen Beauftragten sowohl eine Fülle von [<<147] Herausforderungen, die in der Rodung und Urbarmachung des Landes, in Befestigungen, Auseinandersetzungen wie Verhandlungen mit den Nachbarn bestanden, aber gleichzeitig auch Karrierechancen. Weitab vom karolingischen Herrschaftszentrum mussten die Verantwortlichen vor Ort oft rasch und selbständig handeln und bauten dabei ihre eigene Machtbasis aus. Dies wiederum führte zu permanenten Konflikten, besonders in Zeiten eines schwachen Königtums oder bei Herrschaftsteilungen, wobei zwischen „intern“ und „extern“ oft nur schwer zu unterscheiden ist. Oft lagen Allianzen zwischen karolingischen Amtsträgern oder Vertretern von Nebenlinien der Herrscherfamilie mit mährischen, später auch ungarischen Fürsten bzw. einflussreichen Gruppen näher als unbedingte Loyalität zum König. Diese Auseinandersetzungen stellen eines der Grundelemente der allmählichen Organisation von Raum und Herrschaft in den mittelalterlichen Jahrhunderten dar.

Momentaufnahme: Das Zollweistum von Raffelstetten

Einen guten und in dieser Dichte bis auf Weiteres letzten Einblick in die karolingische Herrschaftsorganisation und Rechtsfindung, Handels- und Verwaltungswirklichkeit im Grenzgebiet zwischen Bayern, Böhmen und Mähren zu Beginn des 10. Jahrhunderts bietet das sogenannte Zollweistum von Raffelstetten im heutigen Oberösterreich. Das Dokument wurde 903/906 verfasst und blieb in einer einzigen Abschrift aus dem 13. Jahrhundert erhalten – im Lonsdorfer Kodex, dem Kopialbuch, d. h. der zeitgenössischen Zusammenstellung der Rechtstitel des Bistums Passau. Formal gehört es zu der unter den Karolingern eingerichteten Anlassgesetzgebung zu unterschiedlichen Aspekten des Zusammenlebens in Form von Kapitularien, benannt nach ihrer Einteilung in capitula: Aufgrund von Beschwerden der bayerischen Bischöfe, Äbte und Grafen über Abgaben und Zölle für den Warenverkehr auf der Donau beauftragte König Ludwig („das Kind“, der letzte ostfränkische Karolinger) den Markgrafen Aribo und seine Richter aus dem Ostland, den alten Rechtszustand durch Befragung zu erheben und wieder herzustellen. Als „Königsboten“ fungierten so prominente Große wie der Salzburger Erzbischof, der Passauer Bischof sowie ein Graf Otakar. Die folgenden 12 Abschnitte bieten eine für die Zeit einzigartige Momentaufnahme einer Reihe von topographischen und handelstechnischen, rechtspraktischen und gesellschaftlichen Details: Handelsrouten sind ebenso beschrieben [<<148] wie die wichtigsten Waren – etwa Salz und Honig, aber auch Tiere und Sklaven – sowie Abgaben und Marktbestimmungen differenziert nach Herkunft, sozialem Stand und Beruf der Betroffenen. So enthält der letzte Absatz den ältesten eindeutigen Nachweis jüdischer Händler in diesem Gebiet (mercatores, id est iudei et ceteri mercatores, undecunque venerint de ista patria vel de aliis patriis […]) und benennt ihre Abgabenpflicht.

Monumenta Germaniae Historica (MGH), Capitularia II, Nr. 253, S. 252, c. 9, sowie Urkunde und Geschichte. Niederösterreichs Landesgeschichte im Spiegel der Urkunden seines Landesarchivs (Niederösterreichisches Urkundenbuch), bearb. von Maximilian Weltin (St. Pölten 2004), Nr. 13, S. 150–158.

Mit dem Vordringen der Ungarn vom Schwarzen Meer nach Pannonien in der zweiten Hälfte des 9. und ihren Streifzügen bis weit ins fränkische Reich, sowie nach Süd- und Westeuropa, während der ersten Jahrzehnte des 10. Jahrhunderts enden vorerst die Nachrichten über derart geregelte Beziehungen. Die fränkischen Annalen berichten von ungarischen Übergriffen und Plünderungszügen von Pannonien aus: 881 werden Kämpfe bei Wien (ad Weniam) erwähnt; 907 fällt ein Großteil der bayerischen Elite bei Brezalauspurc – dem späteren Pressburg und heutigen Bratislava – gegen ungarische Reiter, darunter der Erzbischof von Salzburg, die Bischöfe von Säben und Freising und der Markgraf der marcha orientalis Luitpold. Das bayerische „Ostland“ ging ebenso verloren. Die ungarische Expansion nach Westen bedeutete auch das Ende des mährischen Reichs. Erst nach den schweren Niederlagen der Ungarn bei Riade, das in Thüringen vermutet wird (933), und auf dem Lechfeld bei Augsburg (955) änderte sich die Politik der ungarischen Herrscher, namentlich des Fürsten Géza († 997), mit seiner epochemachenden Wendung zum Christentum: Dass die Annahme von Christentum und lateinischer Schriftlichkeit im Laufe des 10. Jahrhunderts zum erfolgreichen Integrationsmodell überregionaler Herrschaft nicht nur in Bulgarien, Kroatien und Ungarn, sondern besonders auch in Böhmen und – am Rande unseres Betrachtungsraumes – Polen werden sollte, war damals aber noch nicht absehbar.

Neue christliche regna

Der Etablierung der mitteleuropäischen christlichen regna, die um 1000 diesen Ausschnitt der Landkarte charakterisieren, waren [<<149] langwierige und keineswegs linear verlaufende politische Konzentrations- und Integrationsprozesse vorangegangen. Auch ihr „Erfolg“, der sich um 1000 in der Terminologie der Überlieferung abzeichnet (Urkunden und erzählende Quellen, Briefe und Predigten, Inschriften und Siegel), wird erst ex post aus historischer Perspektive deutlich. Dies gilt auch für die zeitgenössische bzw. zeitnahe Überlieferung – auch sie nahm die neuen Reichsbildungen erst als gleichsam „fertige“ politische Einheiten wahr, besonders im Vergleich mit ihren „gescheiterten Vorläufern“, die nicht dauerhaft erfolgreich blieben: „Geschichte“ erscheint immer erst nachträglich geschlossen und folgerichtig.

Herwig Wolfram hat in einer vergleichenden Studie die Kriterien für diese unterschiedlichen Entwicklungen systematisch zusammengestellt und diskutiert.

Herwig Wolfram, Die ostmitteleuropäischen Reichsbildungen um die erste Jahrtausendwende und ihre gescheiterten Vorläufer. Ein Vergleich im Überblick, in: Ivan Hlaváček, Alexander Patschovsky (Hg.), Böhmen und seine Nachbarn in der Přemyslidenzeit im mitteleuropäischen Vergleich (VuF 74) (Sigmaringen 2010), S. 49–90.

Maßgebliche Faktoren waren neben einer ausreichenden militärischen Machtbasis die Durchsetzung eines Alleinherrschers (im Unterschied etwa zu mehreren duces wie im 9. Jahrhundert noch in Böhmen) und die Transpersonalität dieser Herrschaft sowie eine erfolgreiche hierarchische Christianisierung von oben nach unten, die ihren Ausdruck in der bereits frühen Verehrung von Landesheiligen bzw. Hl. Königen wie dem Hl. Wenzel für Böhmen und dem Hl. Stephan für Ungarn fand. Die neue Religion benötigte aber auch eine dauerhafte kirchliche Organisation in Form von Erzbistums- und Bistumsgründungen, etwa Prag, Gnesen und Gran/Esztergom und einer Diözesanordnung. Die enge Verflechtung von kirchlicher und weltlicher Verwaltung wird besonders gut in Ungarn sichtbar, wo die regionale Einteilung der ersten zehn Bistümer auch der politischen Organisation durch Komitate entsprach. Nicht zuletzt bedurfte das geistlich legitimierte Königtum der Anerkennung des römisch-deutschen Königs, des byzantinischen Kaisers und des Papstes, um dauerhafte Stabilität zu erlangen – wie sich ex negativo an den gescheiterten Herrschaftsbildungen des 9. Jahrhunderts und ihren kirchenpolitischen Dimensionen veranschaulichen lässt (→ Kap. 2). [<<150]

Sowohl als Indiz wie auch als Bedingung von nachhaltigem Erfolg kann wohl auch die Existenz von „Sprechern“ der Herrschaft gelten, wie dies der tschechische Historiker František Graus bereits in den 1960er Jahren genannt hat: Strukturell vergleichbar mit dem frühmittelalterlichen Genus der origo gentis, einer grundlegenden Form politisch und sozial adaptierbarer Gründungsgeschichte, wie sie etwa für Goten, Franken und Langobarden charakteristisch ist, entstanden in und für die neuen regna Erzählungen im Schnittfeld von Geschichtsschreibung und Hagiographie, die eine Fülle von historischen wie geistig-geistlichen Angeboten zur Identifikation mit der Herrschaft bereit stellten. Die Viten der heiligen ungarischen Könige, die „Wenzelslegenden“ des von seinem Bruder ermordeten böhmischen „Märtyrer“-Herzogs sowie die Lebensbeschreibung Bischof Adalberts von Prag, der seinerseits das Martyrium erlitten hatte, aus dem 10./11. Jahrhundert gehören dazu ebenso wie zwei der frühesten mittelalterlichen Landeschroniken überhaupt, die Chronica Boemorum des Cosmas von Prag aus dem frühen 12. Jahrhundert und wesentlich später die Chronica Hungarorum, deren Autor nicht eindeutig feststellbar ist (→ Kap. 3.3).

Herrschaftskonsolidierung

Vor allem die nationalstaatlich orientierte Geschichtsforschung in der Tradition des 19. Jahrhunderts (→ Kap. 1) hat ähnlich wie bei der Suche nach den Ursprüngen der eigenen „Nation“ im Frühmittelalter vielfach den Beginn der jeweils eigenen „staatlichen“ Entwicklung im Zeitraum zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert identifiziert. Die aktuelle Forschung steht solchen Positionen seit geraumer Zeit kritisch und zurückhaltend gegenüber. Das betrifft nicht nur die Problematik der Projektion moderner Vorstellungen von „Nation“ in die Vergangenheit, sondern auch von Konzepten wie „Staat“ oder „Zentralisierung“, die nur schwer eine Entsprechung in der zeitgenössischen Überlieferung finden. Zwar lassen sich, wie beschrieben, ab dem 11. Jahrhundert in weiten Teilen des Betrachtungsraumes eine zunehmende Stabilisierung der Grenzen ebenso wie Formen verstärkter Herrschaftsorganisation und -konzentration beobachten. Dennoch dominieren generell die Offenheit der Herrschaftsräume und wechselnde Machtkonstellationen konkurrierender Personenverbände. Konzentrationsprozessen stehen die Erweiterung von Herrschaftsräumen ebenso wie Reichsteilungen gegenüber. Die Quellen verwenden [<<151] Begriffe für Herrschaft und Reich in Verbindung mit dynastischen Zuordnungen; die Vielfalt und der parallele Gebrauch von Würden-, Amts- und Funktionsbezeichnungen ebenso wie von geographischer und ethnographischer Terminologie macht einen äußerst vorsichtigen analytischen Umgang mit ihrer Interpretation notwendig.

 

Zudem lässt sich für Böhmen wie Ungarn, aber ebenso für die seit dem Ende des 10. Jahrhunderts neu eingerichteten Markgrafschaften Österreich und Steier oder das Herzogtum Kärnten zunächst recht wenig Konkretes über die Durchsetzung von Herrschaft sagen. Burgenbau zum Zweck der Verteidigung und Grenzsicherung sowie später auch der Herrschaftsrepräsentation lässt sich bereits seit den Karolingern archäologisch überall in Europa gut nachweisen, ebenso wie es Belege für dauerhafte administrative Einheiten wie die ungarischen Komitate oder das Amt des castellanus in Böhmen gibt. Hinweise auf eine „straffe Burgenorganisation“, von der in der älteren Forschung etwa zu Böhmen häufig die Rede war, finden sich allerdings kaum. Cosmas von Prag erwähnt in seiner Chronik insgesamt zwei konkrete castellani. Während die Einteilung der ungarischen politischen Landschaft in eine Vielzahl von Komitate mit Burgen als Herrschafts- und Verwaltungsmittelpunkten schon seit dem 11. Jahrhundert überliefert ist, wissen wir wenig Konkretes über die frühe Organisation von Grundherrschaften oder über die Gefolgschaften der árpádischen Könige wie auch der přemyslidischen Herzöge.

Auch für das kleine Herrschaftsgebiet der Babenberger Markgrafen an der Donau um Melk, Krems und Klosterneuburg, das im Jahr 996 nebenbei in einer königlichen Schenkungsurkunde für den Bischof von Freising erstmals und noch sehr unspezifisch als Ostarrîchi bezeichnet wird (in regione vulgari vocabulo Ostarrichi in marcha et in comitatu Heinrici comitis filii Luitpaldi marchionis), und für die Steiermark, deren Markgrafen sich ab Mitte des 11. Jahrhunderts nach ihrem Herrschaftsmittelpunkt marchiones de Stire benannten, gibt es im 10. und frühen 11. Jahrhundert nur vereinzelt urkundliche Nachrichten. Die älteste im Original erhaltene ungarische Urkunde stellte König Andreas I. im Jahr 1055 für das Kloster Tihany aus. Vergleichbar mit der Ostarrîchi-Urkunde von 996 enthält sie den ersten erhaltenen volkssprachlichen Einschub in den ansonsten lateinischen Dokumenten. Auch in diesem Fall geht es um eine geographische Spezifikation, wenn [<<152] erläutert wird, dass die dem Kloster übertragenen Besitzungen an der Straße nach Stuhlweißenburg/Székesfehérvár liegen.

Dynastische und politische Allianzen und Konflikte

Personale Beziehungen unterschiedlicher Qualität und vernetzte Eliten spielten lange Zeit eine deutlich größere Rolle als territorial abgegrenzte Einheiten und institutionelle Strukturen, die sich erst ab dem 12., vor allem aber im 13. Jahrhundert verstärkt auszubilden begannen, wovon sowohl die Terminologie in Urkunden und erzählenden Quellen als auch der Anstieg „pragmatischer Schriftlichkeit“ an sich Zeugnis geben. Zunächst aber sind die am besten sichtbaren Akteure einmal die jeweiligen Fürsten, deren Familien sich über mehrere Generationen hinweg im Land durchsetzen konnten. Dabei stützten sie sich auf die übrigen „Großen“ des Landes, deren Bedeutung bei der Mitwirkung an wichtigen Entscheidungen, insbesondere der Nachfolge in der Herrschaft nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Sie werden in den Quellen zunächst ebenfalls vielfältig und unspezifisch in Hinblick auf ihre soziale Vorrangstellung als maiores natu, nobiles, proceres, primates oder auch mit ihren weltlichen und geistlichen Amtstiteln etwa als comites, episcopi oder abbates bezeichnet. Diese „Adeligen“ im weitesten Sinn, also wichtige Familien im Land, wirkten einerseits bei der Unterstützung der Landesfürsten zusammen. Andererseits aber konkurrierten die einzelnen Großen ihrerseits um jene Ressourcen, die für die Etablierung von Herrschaft nötig waren – Land, Rechte, Einkünfte und Abgaben.

Konflikte zwischen den machtpolitisch maßgeblichen Personen und Personengruppen sowohl mit der jeweils herrschenden Familie als auch untereinander blieben auch in den folgenden Jahrhunderten ein kontinuierlicher Faktor einer prozessualen Landeswerdung und integraler Bestandteil mittelalterlicher Herrschaftsverdichtung und -differenzierung, im Rahmen derer sich soziale Unterschiede allmählich verfestigten und strukturelle Abgrenzungen herausbildeten. Die oft auch blutige Ausschaltung von Gegnern ebenso wie das Aussterben von Familien bleiben eher strukturelles Element als Ausnahmeerscheinung. Die andere Seite der Medaille zeigt Allianzen oft zwischen denselben Personen und Gruppen, die einander eben noch bekämpft haben, besonders in Form von verwandtschaftlichen Beziehungen, die von politischen und ökonomischen Aspekten nicht zu trennen sind: Familienpolitik ist Herrschaftspolitik. [<<153]

Eheverbindungen in immer größerem Stil – d. h. über weite Distanzen und Herrschaftsräume hinweg – spielten eine zunehmende Rolle für Land- und Prestigegewinn und standen ihrerseits in Wechselwirkung mit politisch-rechtlichen Allianzen, aber auch Abhängigkeitsverhältnissen. Neben den Fürsten in der Nachbarschaft, die sich sozusagen „auf Augenhöhe“ befanden, waren die wichtigsten Partner vor allem der römisch-deutsche König bzw. Kaiser, der Papst sowie Byzanz. War das ungarische Königtum von diesen drei Instanzen zu Beginn des 11. Jahrhunderts anerkannt worden, befand sich Böhmen seit dem ostfränkischen Königtum der Karolinger in, wenn auch loser, lehensrechtlicher Abhängigkeit von den römisch-deutschen Königen, ebenso wie die Markgrafschaften und Herzogtümer im Südosten des römisch-deutschen Reichs. Ihr Verhältnis untereinander, zu König, Papst und Byzanz differenzierte sich zunehmend vor dem Hintergrund und in den großen Konflikten des 11. und 12. Jahrhunderts – dem endgültigen kirchenpolitischen Bruch (1054) zwischen Rom und Byzanz, d. h. katholischer und orthodoxer Kirche, und der Auseinandersetzung zwischen römisch-deutschem Kaisertum und Papsttum um den Vorrang in Europa, dem sogenannten „Investiturstreit“ (1075–1122).

Die dynastischen Allianzen zwischen Böhmen, Polen und Ungarn waren einerseits so dicht und vielfältig, dass die drei Herrschaftsräume häufig in Personalunion miteinander verbunden waren. Andererseits verbanden sich immer wieder oppositionelle Gruppen innerhalb dieser Herrschaften mit „externen“ Partnern, intervenierten byzantinische wie römisch-deutsche Kaiser in den einzelnen Ländern. Ab dem 12. Jahrhundert, und nicht zuletzt gefördert durch die Kreuzzüge europäischer Mächte ins Heilige Land, spielten Heiratsverbindungen mit Byzanz eine zunehmende Rolle: Byzantinische Prinzessinnen heirateten nach Ungarn und Böhmen; österreichische ebenso wie steirische Markgrafen waren in solchen Prestigeprojekten erfolgreich. Parallel dazu verdichtete sich das Netz dynastischer Verbindungen mit den wichtigen, zunehmend als „königsfähig“ qualifizierten Familien im römisch-deutschen Reich ‒ allen voran den Saliern und Staufern.

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