Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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2.4.5 Die Siegel des mittelalterlichen Bulgarien 864–971
Ivan Jordanov, Šumen

Bedeutung der Siegel für die mittelalterliche bulgarische Geschichte

Ähnlich wie die im vorigen Kapitel vorgestellten proto-bulgarischen Inschriften sind Siegel ein besonders wichtiger Teil der Überlieferung zum mittelalterlichen Bulgarien, für welches Schriftquellen nur sehr begrenzt vorhanden sind. Die wichtigsten schriftlichen Informationen stammen aus byzantinischen Texten, welche demgemäß byzantinische Sichtweisen zum Ausdruck bringen. Die Siegel und die Wissenschaft, [<<128] die sich mit ihnen beschäftigt, die Sphragistik (griech. sphragís, Siegel), dienen hier als Korrektiv. Darüber hinaus sind Siegel bisweilen die einzige Informationsquelle überhaupt. Ihre Untersuchung stellt eine der wenigen Möglichkeiten dar, direkte Hinweise auf die mittelalterliche bulgarische Herrschaft und ihre Repräsentation zu erlangen. Dafür können zwei Typen von Siegeln als Quellen herangezogen werden. Erstens Siegel von Vertretern des bulgarischen Reichs und zweitens byzantinische Siegel, von denen auf dem Gebiet des heutigen Bulgarien mehr als 3500 Stück dokumentiert sind, die verschiedene Funktionen aufweisen. Für die Zeit des Ersten und Zweiten Bulgarischen Reichs, also von 681 bis 971 und von 1185 bis 1393, erhellen sie die Beziehungen zwischen Bulgarien und Byzanz. In den Jahren, als Bulgarien Teil des Byzantinischen Reichs war (971–1185), beleuchten sie die Kontakte zwischen der Reichshauptstadt Konstantinopel und der bulgarischen Peripherie des Reichs sowie zwischen dem Verwaltungszentrum und der Provinz.

Forschungsgeschichte

Schon in der Zeit der „Nationalen Wiedergeburt“, wie auch in Bulgarien die Nationalbewegung genannt wurde (→ Kap. 1.2), als noch kein moderner bulgarischer Staat bestand (spätes 18. Jahrhundert bis 1878), erwachte das Interesse an den Siegeln, deren Erforschung als Beitrag zur Begründung und Legitimation einer frühen „nationalen“ bulgarischen Geschichte verstanden wurde. Die früheste Erwähnung eines mittelalterlichen bulgarischen Siegels findet sich in der „Slavenobulgarischen Geschichte“ des Mönchs Paisij Hilendarski (1722–1773) aus dem Jahre 1762. Sie bezieht sich auf ein silbernes Siegel des Zaren Ivan Aleksandăr († 1371), das heute im Kloster Chilandar (auf dem Mönchsberg Athos in Nordgriechenland) gemeinsam mit der sog. Urkunde von Mraca aus dem Jahre 1347 aufbewahrt wird.

Die erste Veröffentlichung eines bulgarischen Siegels – des letzten bulgarischen Zaren Ivan Šišman († 1395) – stammt aus dem Jahr 1845, als der bulgarische Nationalaktivist und Mäzen Vasil Aprilov (1789–1845) diese Urkunde mit angehängtem Siegel aus dem Rila-Kloster (heutiges Südwestbulgarien) publizierte. Nach dem Ende der osmanischen Herrschaft in Bulgarien (1877/78) wurden grundlegende staatliche Einrichtungen wie Bibliotheken, Museen und eine Universität geschaffen, wo unter anderem auch das Interesse an der Erforschung der bulgarischen Siegel gepflegt wurde. Die Entwicklung [<<129] moderner Wissenschaften und ihrer Methoden ging auch hier Hand in Hand mit politisch-nationalen Bestrebungen. Die erste Veröffentlichung eines einzelnen Siegels erfolgte 1901 in der angesehenen Revue numismatique und hatte den Direktor des Archäologischen Museums in Sofia, Václav Dobruský, zum Autor, der dabei zwei Zarensiegel vorstellte. Allmählich wuchs die Siegelsammlung des Nationalmuseums für Archäologie, deren Aufbau und Publikation mit der Gelehrtenpersönlichkeit von Nikola Mušmov (1869–1942) verbunden ist. 1925 veröffentlichte er seine für die Zeit grundlegende Arbeit „Münzen und Siegel der bulgarischen Zaren“, in der er alle damals bekannten Siegel der bulgarischen Herrscher – insgesamt acht – zugänglich machte. Die folgende Periode der Forschungsgeschichte wurde von Todor Gerasimov (1903–1974) geprägt. Er veröffentlichte Dutzende unbekannter bulgarischer Siegel aus Pliska, Preslav und anderen Fundorten, darunter auch das Siegel des ansonsten nirgends belegten bulgarischen Patriarchen Visarion († 1246). (Cover-Abb und Abb 1)

1990 erschien eine Neufassung von Mušmovs Werk durch Jordanka Jurukova und Vladimir Penčev „Siegel und Münzen des mittelalterlichen Bulgarien“ mit mehr als 20 Beispielen; 2001 das „Corpus der Siegel des mittelalterlichen Bulgarien“ von Ivan Jordanov. Dieses Corpus umfasst 197 sigillographische Denkmäler, darunter 4 Goldbullen (Chrysobullen), 3 Silberbullen (Argyrobullen), 170 Bleibullen (Molybdobullen), sieben Matrizen und 13 Ringsiegel. Dieser sprunghafte Anstieg der dokumentierten Überlieferung hat auch mit heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen wie der Schatzgräberei, d. h. der Suche nach vor allem thrakischen Grabmälern, zu tun, die nach dem Ende des Kommunismus wegen nicht ausreichender staatlicher Kontrolle und starker Nachfrage auf dem internationalen Kunstmarkt überhandgenommen hat. Doch erschöpft sich damit die Zahl der bulgarischen Siegel nicht. 2003 wurde ein erster Ergänzungsband mit 20 neuen bulgarischen Siegeln gedruckt. Damals betrug ihre Zahl rund 350 Stück. Es ist sehr zu begrüßen, dass die neuen Funde der letzten Jahre unmittelbar im Rahmen archäologischer Grabungen erfolgt sind. Eine Neuausgabe des „Corpus“ ist in Vorbereitung.

Methoden der Auswertung

Die ersten aus dem mittelalterlichen Bulgarien überlieferten Siegel stammen im Zusammenhang mit der Christianisierung seit 864 vom ersten christlichen Herrscher Boris-Michail sowie vom ersten [<<130] bulgarischen Bischof Isaja. Die Überlieferung legt nahe, dass Siegel sehr wahrscheinlich als spezifisch christliche Form der Herrschaftsrepräsentation interpretiert werden können, da sie zeigten, dass die irdische Herrschaft vom christlichen Gott her stammte. Daher werden auf der Vorderseite (Avers) der Herrschersiegel Jesus Christus und auf der Rückseite (Revers) dessen irdischer Stellvertreter dargestellt.

Bischof Isaja bekleidete den Bischofsstuhl von 864 bis 866 und war von Konstantinopel ausgewählt worden, um die Bulgaren zu christianisieren. Die Siegel von Boris, der nach der Annahme des Christentums den Namen seines Taufpaten, des byzantinischen Kaisers Michael III. († 867) wählte, unterteilen sich in zwei Gruppen. In der ersten Gruppe ist er „Herrscher (gr. árchon) von Bulgarien“ (Abb 6.1), ein Titel, der ihm nach der Taufe zuerkannt worden war; in der zweiten Gruppe erscheint er als Mönch und von Gott eingesetzter Herrscher Bulgariens (Abb 6.2). Nach seiner Abdankung im Jahre 889 ging Boris-Michail in ein Kloster, doch erfahren wir aus dem Siegel, [<<131] dass er seine Funktion als Herrscher behielt: Als sein Sohn Vladimir-Rasate versuchte, wieder eine nicht-christliche Herrschaft zu errichten (→ Kap. 2.3.2), verließ er folgerichtig das Kloster und vertrieb seinen Sohn 893 aus der Hauptstadt.



Abb 6.1 und 6.2 Bulgarische Siegel, Boris-Michail. [Bildnachweis]

Der Höhepunkt des bulgarischen Mittelalters

Boris-Michails Nachfolger Simeon I. († 927) ist aus mehr als 80 Siegeln bekannt. Diese können in fünf Gruppen unterteilt werden und veranschaulichen seine Politik, die Souveränität des bulgarischen Reichs zu befestigen. Nach der byzantinischen Vorstellung kam dem byzantinischen Kaiser eine führende Stellung unter den Herrschern der bekannten Welt (Oikuméne) zu. Alle anderen Herrscher verwalteten nach dieser Vorstellung in seinem Namen ihre Reiche. Ihre Stellung hing von dem Titel ab, den ihnen der byzantinische Kaiser verlieh. Feinheiten der byzantinischen Kaisertitulatur sowie Abstufungen bei kaiserähnlichen Titeln, die Byzanz Bulgarien zugestand, drücken die byzantinisch-bulgarische Rivalität auf dem Balkan und dann auch um die Nachfolge Roms symbolisch aus: Zu Beginn seiner Herrschaft trug Simeon als Erbe seines Vaters den Titel Herrscher (árchon) von Bulgarien, wie die Siegel dieser Periode belegen (Abb 6.3). Er hatte demnach die Politik seines Vaters übernommen. Auf der Reichsversammlung in Preslav (893), zu der das „Chronicon“ des Regino von Prüm († 915) die Hauptquelle darstellt, eröffnete ihm sein Vater, dass er das Schicksal seines Bruders erleiden werde, wenn er vom vorgegebenen Wege abwiche: und Vladimir-Rasate war nicht nur entthront, sondern auch geblendet worden. [<<132]


Abb 6.3 Bulgarische Siegel, Simeon I., Frühphase. [Bildnachweis]

Simeon trug den árchon-Titel bis zum Jahre 913. Dann aber wurde dieser Titel weder seinen Ambitionen noch den politischen Gegebenheiten mehr gerecht: Das bulgarische Reich war gefestigt und befand sich kulturell und wirtschaftlich im Aufschwung, während Byzanz unter einer langwährenden Krise litt. Auf dem Thron saß der minderjährige Konstantin VII. Porphyrogénnetos († 959), und an seiner Stelle führte eine Regentschaft die Staatsgeschäfte. Ein Anlass zum Krieg wurde gefunden, und bald erschien das bulgarische Heer vor Konstantinopel. Verhandlungen führten zu einem Abkommen, das die Heirat von Simeons Tochter mit dem minderjährigen Kaiser vorsah und Simeon den Titel „Kaiservater“ (basileopátor) verlieh, was mit der Herrschaft über das Byzantinische Reich verbunden war. Von Simeons Siegeln erfahren wir die ansonsten unbekannte Tatsache, dass er 913 den Titel basileús (Kaiser) trug. Auf diesen Siegeln steht zu lesen „Simeon, dem friedenschaffenden Kaiser, viele Jahre“ (Abb 6.4). Der Titel des byzantinischen Kaisers hingegen lautete „Kaiser und Selbstherrscher der Römer“. Simeons Titel, der also nur einen Teil des byzantinischen Kaisertitels umfasste, stellte aus byzantinischer Sicht den äußersten Kompromiss dar; denn so war das Reich ein Jahrhundert zuvor auch in der Frage der Anerkennung des Kaisertitels Karls des Großen († 814) verfahren.

 


Abb 6.4 Bulgarische Siegel, Simeon I. als basileús. [Bildnachweis]

Nach Simeons Abzug wurde in Konstantinopel die Regentschaft gestürzt. Die neue Regierung kündigte den Friedensvertrag mit Bulgarien auf, was einen neuen Krieg auslöste. In der Schlacht bei [<<133] Anchíalos (heute: Pomorie, Schwarzmeerküste) schlug Simeon das byzantinische Heer und marschierte kurz darauf wieder vor Konstantinopel auf. Aus der nächsten Siegelgruppe erfahren wir, dass er sich selbst zum „Basileús der Römer“, also zum Oberhaupt der Familie der christlichen Könige, ausrief. Auf dem Avers dieser Gruppe wird Christus Pantokrátor (der Allbeherrscher) und die Akklamation „Dem siegreichen Basileús viele Jahre“ dargestellt. Auf dem Revers erscheint der siegbringende Herrscher mit der Aufschrift „Simeon in Christo Basileús der Römer“ (Abb 6.5). Dieser Anspruch auf die Herrschaft über Byzanz wäre freilich nur Wirklichkeit geworden, wenn Simeon als Sieger in Konstantinopel eingezogen und in der Hagia Sophia gekrönt worden wäre.


Abb 6.5 Bulgarische Siegel, Simeon I. als „Basileús der Römer“. [Bildnachweis]

Von Simeons Nachfolger Petăr I. († 969) liegen 20 Siegel vor. Sie veranschaulichen die schwierige Herrschaftszeit dieses Zaren. Hervorzuheben ist, dass die bislang griechischen Aufschriften und die bislang byzantinischen Titel durch die kyrillische Schrift und die slawische Sprache ersetzt werden: „Zar der Bulgaren“ (Abb 6.6). Die Zahl der Siegel – über 250 Stück – aus dem Zeitraum 893–969 ist beeindruckend. Sie übertrifft um ein Vielfaches die bekannten byzantinischen Herrschersiegel aus derselben Zeit (886–969). Einzig aus Siegeln wissen wir, welchen Titel der Thronfolger trug; er führte einen turksprachigen Titel – bagatur und kana irči tjuni („Prinz des morgigen Tages“). Nur durch Siegel belegt ist eine Reihe von ansonsten unbekannten Würdenträgern des Ersten Bulgarischen Reichs, wie der [<<134] Magister des bulgarischen Herrschers oder der Groß-Kurator des Herrschers (árchon) von Bulgarien (Abb 6.7). Einzig auf Siegeln bezeugt ist auch der sýnkellos der bulgarischen Patriarchen (mit kyrillischer Aufschrift; Abb 6.8) – ein weiterer Beleg für den herausragenden Quellenwert von Siegeln für die frühe bulgarische Geschichte.




Abb 6.6, Abb 6.7 und Abb 6.8 Bulgarische Siegel in slawischer Sprache und kyrillischer Schrift. [Bildnachweis] [<<135]

2.5 Ordnung ins Chaos? Das Handbuch De Administrando Imperio (948–952) des Konstantin Porphyrogénnetos

Über die Entwicklungen im inneren Balkan und an der Nordküste des Schwarzen Meeres ist selbst zu Beginn des Hochmittelalters aus Schriftquellen nur wenig bekannt. Wie die frühe Geschichte von Kroaten und Bulgaren aus Inschriften und Siegeln, die Geschichte der Albaner aus der albanischen Sprache rekonstruiert werden kann, wurde in den voran gegangenen Kapiteln beschrieben. Wenn nun eine Schrift vorliegt, die von Konstantinopel, der byzantinischen Reichshauptstadt, aus einen Überblick über jene ethnischen Gruppen und neuen Herrschaften versucht, die von der Adria bis in die heutige ukrainische Steppe zwischen dem 7. und dem 10. Jahrhundert entstanden sind, dann ist ihr die Aufmerksamkeit der Forschung gewiss. De Administrando Imperio (DAI) ist, wie so häufig in der Geschichte mittelalterlicher Überlieferung, ein Kunstname, den ein Gelehrter – in diesem Fall Johannes van Meurs (1579–1639) – einer Abhandlung gab, die im griechischen Original als Schrift des Kaisers Konstantínos VII. an seinen Sohn Romanós (II.) bezeichnet wird. Meurs (Meursius) veröffentlichte 1611 die erste Ausgabe, die auf einer damals in Heidelberg liegenden (nun im Vatikan aufbewahrten) Handschrift beruhte. Weitere, kaum veränderte Editionen (bzw. Nachdrucke) folgten 1617, 1711, 1729 (venezianische Ausgabe byzantinischer Historiker) und 1864.

Entstanden ist das DAI um die Mitte des 10. Jahrhunderts (ca.948‒ca.952). Unter Konstantínos VII. erreichte das Byzantinische Reich einen Höhepunkt kultureller Blüte. Der tiefen Krise, welche die Angriffe der Araber im Osten (seit dem zweiten Drittel des 7. Jahrhunderts) sowie im Mittelmeer (678 und 717 belagerten die Araber Konstantinopel) und der weitgehende Verlust der Balkanprovinzen im Westen ausgelöst hatten, wurde durch militärische Offensiven in Ostanatolien und zunehmend auch in Syrien sowie auf dem Balkan begegnet.

Wissen ordnen

Konstantínos VII. erlebte zwar die militärischen Triumphe des späten 10. Jahrhunderts selbst nicht mehr, doch trug er wesentlich zu einem Aufschwung des kulturellen Lebens in der Hauptstadt bei. Mit seinem Namen verbunden sind Abhandlungen, die Wissen zu verschiedenen Sachbereichen ordnen sollten, so etwa: De ceremoniis, ein [<<136] Zeremonienhandbuch des byzantinischen Hofes, und De thematibus („Von den Provinzen“), ein weitgehend auf antike Geographen gestützter Überblick über das Byzantinische Reich. In diesen Zusammenhang gehört auch das DAI. Es handelt sich um eine „geheime“, d. h. nicht für ein größeres Publikum, sondern im Sinn eines Fürstenspiegels (→ Kap. 3.3.1) für den Unterricht des Kronprinzen gedachte Schrift, worauf die geringe Zahl der Handschriften (vier) hindeutet. Die bedeutendste Handschrift ist der Codex Parisinus graecus N. 2009, der zwischen 1057 und 1081 abgeschrieben wurde. Das Werk behandelt

• die Beziehung der sogenannten éthne („Völkerschaften“, d. h. ethnische Gruppen wie Petschenegen, Chazaren, Kiewer Rus’, Bulgaren, Magyaren) zu Byzanz und die Möglichkeiten, wie die byzantinische Außenpolitik diese Gruppen gegeneinander ausspielen könnte;

• die Wünsche der éthne nach Geschenken, die von Byzanz als außenpolitisches Mittel eingesetzt wurden;

• eine Schilderung der geographischen Lage, der politischen Entwicklung und „Sitten“ der Nachbarn von Byzanz.

Die Forschung hat sich intensiv mit dem Aufbau des Werks beschäftigt und mit der Frage, ob es sich um ein einheitliches Werk oder um eine Zusammenfügung verschiedener Schriften handele. Sie hat drei Teile herausgearbeitet: als Kern der Schrift werden die Kapitel 14–42 angesehen, die als Abhandlung über die éthne zu bezeichnen sind; Kapitel 1–13 geben didaktische Anweisungen zur Außenpolitik, Kapitel 43–46 zu der zum Zeitpunkt der Abfassung aktuellen außenpolitischen Lage.

Eine Frühgeschichte der Serben

Das DAI ist von den Nationalhistoriographien der südosteuropäischen Länder und Russlands äußerst intensiv erforscht worden. Am Beispiel des Kapitels zur Frühgeschichte der Serben sollen methodische Aspekte der Deutung einer solchen Schrift veranschaulicht werden. Die Forschung geht davon aus, dass sich die slawische Gruppe der Serben im frühen 7. Jahrhundert auf dem Balkan ansiedelte, wobei dieser Vorgang in Schriftquellen mit Ausnahme des DAI kaum dokumentiert ist, was dessen Interpretation so wichtig und gleichzeitig auch so schwierig macht. Um 900 lag das Serbien (griech. Serblía) genannte Gebiet zwischen Kroatien und Bulgarien, wobei die Grenzpunkte Livno (heute in der Herzegowina, nahe der [<<137] bosnisch-kroatischen Grenze) und Raška (heute: Region Novi Pazar, Südwestserbien) waren. Serbien befand sich im Spannungsfeld dieser beiden südosteuropäischen Nachbarn, die zu Beginn des 10. Jahrhunderts auch militärisch aufeinanderprallten (924 Sieg des kroatischen Herrschers Tomislav über ein Heer des bulgarischen Zaren Simeon), sowie von Byzanz und dessen Militärprovinzen (Thémata) Dalmatien (um Iadera/Zadar) und Dyrrháchion (heute: Durrës, Albanien). Die Christianisierung wird in die Zeit um 870 gesetzt (→ Kap. 2.3), verlief aber als langsamer Prozess.

Kapitel 32 des DAI erzählt zunächst von der Ansiedlung der Serben auf dem Balkan unter Kaiser Herákleios († 641): Geführt worden seien sie von zwei Brüdern, von denen dem einen bei Thessalonike, dem anderen im nordgriechischen Ort Sérvia Wohnorte zugewiesen worden seien. Der Kaiser erklärt die Herkunft des Namens „Serbe“ aus dem Wort für Diener und Begriffen für einfaches Schuhwerk (griech. sérbyla, tzerbulianoí als Träger von einfachen Schuhen). Nachdem die romanische Bevölkerung (unter dem Druck von Awaren und Slawen) von der mittleren Donau an die Adria geflohen war, ließen sich die Serben mit Erlaubnis des Kaisers weiter im Norden nieder, wurden von Rom aus getauft und blieben Untertanen des Kaisers. An diese Frühgeschichte schließt sich eine Genealogie der serbischen Herrscher, die bis in das frühe 10. Jahrhundert immer ausführlicher wird. Großen Wert legt die Schrift auf die Stellung der serbischen Herrschaft zwischen Kroaten und Bulgaren, wobei letztere als Rivalen von Byzanz auf dem Balkan besonders interessieren. Wiederholt flohen serbische Fürsten nach Byzanz oder Kroatien, um Hilfe gegen das übermächtige Bulgarien (vor allem zur Zeit von Zar Simeon, † 927) zu suchen. Das Kapitel endet mit der Bemerkung, die Serben seien immer Untertanen von Byzanz gewesen.

Die Forschung hat das Kapitel des DAI zur serbischen mit jenen zur kroatischen Frühgeschichte verglichen und dabei festgestellt, dass in beiden Fällen die Ansiedlung durch Kaiser Herákleios als Motiv betont wird. Angenommen wird, dass beide Teile aus einer Quelle stammen, die die byzantinische Souveränität über den gesamten Balkan unterstreichen möchte. Der Einleitungsteil zur Einwanderung wurde in der Analyse getrennt von dem Kern des Kapitels 32, den die Forschung als „Chronik der serbischen Herrscher“ bezeichnet. [<<138] Hier wird angenommen, dass der Verfasser des DAI eine eigene, den politischen Verhältnissen Serbiens gewidmete Schrift heranzog und in das Werk integrierte.

Die Chronik der serbischen Herrscher

Nach einiger Zeit wurde von diesen (abstammend) Višeslav (griech. Voisesthlabos) geboren, und von diesem (abstammend) Rodoslav (griech. Rodosthalbos), und von diesem Prosigoj (Prosegoes), und von diesem Vlastimir (Vlastmires); und bis zu Vlastimir lebten die Bulgaren in Frieden mit den Serben; als Nachbarn und Grenzgenossen brachten sie sich gegenseitig Zuneigung entgegen, wobei sie den Kaisern der Römern als Diener untertan waren und von ihnen Wohltaten erhielten. Unter der Herrschaft Vlastimirs überzog Presiam, der Herrscher Bulgariens, die Serben, die er unterwerfen wollte, mit Krieg; nach dreijährigem Krieg hatte er nicht nur nichts vollbracht, sondern auch viel Volk verloren. Nach dem Tod des Herrschers Vlastimir übernahmen die Herrschaft über Serbien seine drei Söhne, Mutimir (griech. Muntimeros), Strojimir (griech. Stroimeros) und Gojnik (griech. Goinikos), die das Land aufteilten. Gegen diese zog der Herrscher Bulgariens, Michael/Boris, der die Niederlage seines Vaters Presiam rächen wollte; gegen diesen eilten die Serben und nahmen schliesslich dessen Sohn Vladimir (griech. Vladimeros) zusammen mit zwölf großen Bojaren gefangen. Da schloss Boris in Trauer um seinen Sohn und unwillig Frieden mit den Serben. Er wollte nach Bulgarien zurückkehren, fürchtete aber einen Hinterhalt der Serben auf dem Weg, weswegen er als Sicherheit die Söhne Mutimirs verlangte, Bran (griech. Borenas) und Stefan, die ihn sicher bis zur Grenze bei Rase (Raška) brachten. Und für diesen Gunsterweis machte ihnen Michael/Boris große Geschenke, und sie schenkten ihm als Gegengabe zwei Sklaven, zwei Falken, zwei Hunde und achtzig Pelze, was die Bulgaren als Abkommen (griech. Pakton, von lat. Pactum) ansahen.

 

Constantine Porphyrogenitus, De administrando imperio, ed. Gyula Moravcsik/Romilly Jenkins (Washington D. C. 1967), S. 154, dt. Übersetzung Oliver Schmitt.

Der Text gibt den Anfang der Chronik wieder. Dieser zerfällt erkennbar in zwei Teile: eine knappe Herrschergenealogie, die erst in der Zeit von Mutimirs Söhnen mit erzählenden Elementen ergänzt wird. Der Text beschreibt die Serben in ihrem Verhältnis zu ihren [<<139] östlichen Nachbarn, den Bulgaren, und dem Byzantinischen Reich. Hervorgehoben werden die Abhängigkeit von Serben wie Bulgaren sowie der serbisch-bulgarische Gegensatz, der sich durch die erfolglose Expansionspolitik des bulgarischen Herrscher Presiam (in anderen Quellen: Persian) ergab. Schon hier kann gezeigt werden, auf welche Schwierigkeiten die Quellenkritik stößt: Denn Presiam kann selbst mit Hilfe von heute im nordgriechischen Philippi aufbewahrten Inschriften nur mit Mühe identifiziert werden. Einige Forscher setzen ihn mit dem Chan Malamir gleich, andere sehen zwei getrennte Personen, wobei Persian zwischen 836/37 bis 852 geherrscht habe. Dessen Sohn Boris-Michail scheiterte bei einem Rachefeldzug gegen Serbien. Doch auch dessen Herrscher lassen sich nur mit Mühe auf der Zeitachse verorten, denn Hauptbezugspunkt sind die bulgarischen Herrscher, von denen nur Boris-Michails Regierungszeit sicher bekannt ist. So verlegt die Forschung Vlastimir in die Mitte, Mutimir und seine Brüder in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts. Unter Mutimir, der seine Brüder verdrängte, nahmen die Serben, so die überwiegende Forschungsmeinung, das Christentum an. 890/91 folgte ihm sein Sohn Pribislav.

Das DAI bietet nicht nur Angaben zu der schwer rekonstruierbaren bulgarischen Herrscherliste des früheren 9. Jahrhunderts, zu bulgarischen Adeligen (Bojaren) sowie einen freilich vagen Hinweis zur Grenzzone zwischen dem Bulgarenreich und dem als Serbien bezeichneten Gebiet, sondern gibt auch Hinweise auf Geschenk- und Jagdkultur der serbischen Anführer. Die genaue Datierung des Feldzugs (860 oder 863/64) ist umstritten. Letztere Datierung steht in Zusammenhang mit der Bekehrung der Bulgaren unter Boris-Michail, die unter dem Eindruck militärischer Misserfolge der Bulgaren gegen Byzanz beschlossen wurde. Die Schwierigkeiten der Deutung dieser Textstelle sind nicht zuletzt durch das weitgehende Fehlen von Parallelquellen für die serbische Frühgeschichte (auch die Archäologie hilft mangels umfangreicher Grabungen kaum weiter) und selbst für die Geschichte des bekannteren bulgarischen Reichs zu erklären.

Eine kurze, nicht dieser Chronik zugehörige Bemerkung rundet das Kapitel ab: Der Herrscher von Serbien ist von Anfang an, das heißt von der Kaiserherrschaft des Kaisers Herakleios, dem Kaiserreich der Römer als Diener untertan und war nie dem Herrscher Bulgariens unterworfen. [<<140] In dem getauften Serbien gibt es sechs bewohnte Burgen: Destinikon, Tzernabuskei, Megyretus, Dresneik, Lesnik, Salines und im Lande Boson Katera und Desnik (ebd. S. 160).

Keine dieser Ortschaften konnte bisher zweifelsfrei lokalisiert werden; am wahrscheinlichsten ist die Gleichsetzung von Salines mit Tuzla (heute in Bosnien-Herzegowina), dessen Name ebenfalls mit Salz zu tun hat (türk. Tuz, Salz; der mittelalterliche Name Tuzlas vor der osmanischen Eroberung war Soli).

Kapitel 32 des DAI unterscheidet sich in seinem Kompilations-, d. h. Zusammenstellungscharakter nicht von anderen Kapiteln. Brüche in ein und demselben Kapitel und die Verwendung unterschiedlicher Quellen sind mehrfach erkennbar. Da es sich um ein didaktisches Werk handelte, das nicht zur Verbreitung durch Abschriften gedacht war, fehlt eine literarische Abrundung, die für byzantinische Geschichtsschreiber, die gezielt für eine breitere höfische Öffentlichkeit schrieben, zur gleichen Zeit in hohem Maße charakteristisch war. Datiert werden kann das Serbenkapitel auf die Zeit vor 944, da die Chronik nicht über die Regierungszeit des byzantinischen Kaisers Romanós I. Lakapenós († 944) hinausgeht.

Der Quellenwert des DAI wurde lange kontrovers diskutiert, zumal es widersprüchliche Angaben und legendenhaft wirkende Erzählungen enthält. Kapitel 32 ist die einzige zeitnah entstandene Textquelle zur serbischen Herrschaft im inneren Balkan (sog. Raška, heute Gebiet von Novi Pazar). Im Gegensatz zur kroatischen Frühgeschichte, zu der zahlreiche epigraphische Quellen vorliegen (→ Kap. 2.4.3), können die Angaben des DAI kaum mit anderen Schriftquellen abgeglichen werden, und archäologische Befunde liegen für die frühe Geschichte der Serben kaum vor.

Die überragende Bedeutung des Textes für die ansonsten dunklen Anfänge der serbischen Geschichte geht auch aus der Tatsache hervor, dass selbst für das Jahrhundert, das nach der in Kapitel 32 beschriebenen Zeit liegt, keine Schriftquellen vorliegen. [<<141]