Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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2.4.3 Inschriften als Quelle für Herrschaftsgeschichte: Frühmittelalterliche kroatische Inschriften
Tomislav Raukar, Zagreb

Frühe Herrschaftsbildung an der Adria

Quellenmangel hat die Mythenbildung auch zur frühmittelalterlichen Geschichte der Kroaten begünstigt. Die Gleichsetzung von Goten und Slawen in zwei lateinischen Chroniken aus dem 13. Jahrhundert hat sogar zu der heute allerdings kaum noch vertretenen These einer gotisch-kroatischen Kontinuität geführt.

Im Rahmen der Feldzüge der Awaren gelangten um 625 Slawen an die Adria. Ob die Kroaten, deren Namen wohl auf die iranischstämmige Bezeichnung für einen awarischen Würdenträger zurückgeht, als bereits slawisches Ethnos kamen oder einer weiteren, sekundär slawisierten Zuwandererschicht angehören, ist nicht zu klären. Mit byzantinischer Unterstützung lösten sich die Kroaten allmählich von der awarischen Herrschaft. Ihre Christianisierung erfolgte in der Zeit der Abhängigkeit vom fränkischen Reich um 800 von Aquileia und den dalmatinischen Städten aus.

Fürst Trpimir († 864) begründete die nach ihm benannte Dynastie; zu seiner Zeit wurde außerdem in Nin (nordwestlich von Zadar) ein Bistum für Kroatien errichtet, dessen Mittelpunkt im Dreieck Nin – Knin – Solin (dem alten Salona bei Split) lag. Den Höhepunkt erreichte die mittelalterliche kroatische Reichsbildung unter dem vom Papst als König angesprochenen Tomislav († 928). König Zvonimir schwor Papst Gregor VII. 1075 den Lehnseid. Nach dem Ende der Dynastie und in Verbindung mit dem durch Erbansprüche geförderten Bestreben der ungarischen Krone, einen Zugang an die Adria zu erhalten, wurde der ungarische König Koloman 1102 in Biograd zum kroatischen König gekrönt. 1105 erreichte er zudem die Anerkennung seiner Herrschaft durch die bis dahin nominell noch byzantinischen norddalmatischen Städte. Über alle nationalpolitisch bedingten staatsrechtlichen Debatten über die Natur des ungarisch-kroatischen Verhältnisses hinweg hatte die ungarisch-kroatische Personalunion bis 1918 Bestand.

Aus den Städten des byzantinischen Dalmatien und dem Raum des kroatischen Fürstentums bzw. später Königtums und seines Umlandes haben sich aus dem 9.‒11. Jahrhundert zahlreiche ep [<<120] igraphische Denkmäler erhalten. Dabei handelt es sich zumeist um Bruchstücke, unter diesen aber befinden sich auch einige vollständige Inschriften von herausragender Bedeutung für die frühe kroatische Geschichte. In den Inschriften der dalmatinischen Städte werden vor allem kirchliche Würdenträger, Erzbischöfe und Bischöfe, wie auch weltliche Amtsträger, darunter die Prioren, die weltlichen Stadtoberhäupter, erwähnt. In den Inschriften des kroatischen Fürstentums bzw. Königtums, d. h. hauptsächlich im Raum zwischen Solin, Knin und Nin sind kroatische Fürsten, Könige und deren župani (regionale Amtsträger) genannt.

Älteste Schriftträger

Das älteste und zugleich eines der wichtigsten erhaltenen epigraphischen Denkmäler des kroatischen Raumes ist das Baptisterium des Višeslav, ein sechseckiges steinernes Taufbecken, das aus der Kathedrale von Nin (nördlich von Zadar) stammt. Auf der Inschrift, die um die obere Kante des Beckens verläuft, heißt es, der Priester Johannes habe zur Zeit des Fürsten Višeslav das Taufbecken anfertigen lassen (SUB TEMPORE VUISSASCLAVO DUCI). In anderen Quellen wird dieser kroatische Fürst nicht erwähnt, aber das Taufbecken ist wohl ein Beleg für die Hauptwelle der Christianisierung der Kroaten zu Beginn des 9. Jahrhunderts; demnach kann die Herrschaftszeit des ansonsten unbekannten Fürsten Višeslav in die ersten Jahrzehnte des 9. Jahrhunderts datiert werden.

Aus Solin bei Split, dem anderen Mittelpunkt des kroatischen Fürstentums bzw. Königtums, sind einige wichtige lateinische Inschriften erhalten. Aus Rižinice, einem Ort zwischen Solin und Klis, wo sich ein Benediktinerkloster und eine Kirche befanden, haben sich Reste der Altarschranke erhalten. Auf der Inschrift eines Giebelfragments wird der Fürst Trpimir erwähnt (PRO DVCE TREPIM[ERO]), der 852 eine Schenkungsurkunde, die älteste erhaltene kroatische Herrscherurkunde, ausstellte. Ihn erwähnt auch Gottschalk aus Orbais in seiner Schrift Tractatus de trina deitate, in der er berichtet, dass Trpimir gegen das „Volk der Griechen und deren patrikioi“, d. h. die dalmatinischen Städte, erfolgreich Krieg geführt habe. So ist das Fragment aus Rižinice in die Mitte des 9. Jahrhunderts zu datieren.

Grabinschrift für Königin Helena/Jelena

Bedeutsam ist auch die Grabinschrift für die Königin Helena/Jelena aus Solin, aus der Kirche Sveti Stjepan na Otoku/St. Stefan auf der Insel. Sie enthält im Text selbst das Datum 976. Als die Grabplatte [<<121] entdeckt wurde, war sie in zahllose Teile zerbrochen, doch konnte der Text in Grundzügen rekonstruiert werden. Der Grabinschrift zufolge war Helena die UXOR MIHAELI REGI MATERQ(UE) STEFANI R[EGIS], d. h. die Frau von König Mihajlo Krešimir II. und Mutter von König Stjepan Držislav. Dies sind wichtige Angaben zur Bestätigung der Herrschergenealogie der Dynastie der Trpimiriden. Die Inschrift bietet auch ein topisches Beispiel der Darstellung von Herrschertugenden, wenn Helena als „Mutter des Königreichs und Beschützerin der Waisen und Witwen“ gefeiert wird (ISTAQ[ue v]IVENS FU[it] REGN[i]MATER FIT PUPILLOR(UM) TUTO[rque] VIDUAR(UM)).

Kroatische Fürsten und Könige

Aus Uzdolje na Kosovu bei Knin stammen Bruchstücke einer Altarschranke mit einer Inschrift, die den Fürsten Muncimir erwähnt. Die Inschrift verläuft entlang der Unterkante der Altarschranke und nennt das Jahr 895. Sie lautet: [H]IC BENE CO(M)P(O)S(U)IT OPVS PRINCEPS NA(M)Q(UE) MUNCIMYR, was zeigt, dass Fürst Muncimir mit dem Titel princeps die Kirche oder zumindest deren Altar hatte errichten lassen.

In Kapitul bei Knin wurden zwei Steinplatten gefunden, die mit Flechtornamentik verziert sind und wohl Teile einer Altarschranke oder eines Ambo bildeten. Auf ihrer oberen Kante befindet sich eine Inschrift, in der zwei kroatische Herrscher erwähnt sind: […]CLV DVX XROATORUM IN TE(M)PVS DIRZISCLV DVCE(M) MAGNV(M). Der erste Name ist nur unvollständig erhalten, man glaubt aber „Svetoslav“ lesen zu dürfen; Svetoslav trug den Titel dux, d. h. „Fürst (kroat. knez) der Kroaten“. Er ist der Sohn Stjepan Držislavs, der den Titel magnus dux, d. h. „Großfürst“, führte. Die Inschrift ist über die Namen implizit auf die 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts zu datieren.

Weiters erhalten haben sich Inschriften mit dem Namen des kroatischen Fürsten Branimir († 892), von denen die wichtigste aus Gornji Muć und Šopot bei Benkovac stammten. Die Inschrift aus Gornji Muć, ein Teil einer Altarschranke, ist wegen ihrer expliziten Datierung auf das Jahr 888 wertvoll und ragt wegen ihrer epigraphischen Qualität heraus. Die Inschrift aus Šopot bei Benkovac, im Hinterland des byzantinischen Zadar, erwähnt Branimir als „Fürsten der Kroaten“ [<<122] (DVX CRVATORVM) und ist besonders wichtig, weil hier zum ersten Mal der Name der Kroaten inschriftlich belegt ist.

Aus den dalmatinischen Städten kennen wir keine einzige lateinische Inschrift mit dem Namen eines kroatischen Herrschers aus dem 10. und 11. Jahrhundert. Das im Baptisterium der Spliter Kathedrale befindliche Taufbecken, das im 11. Jahrhundert entstand und sehr wahrscheinlich aus dem kroatischen Solin stammt, zeigt allerdings die Abbildung eines kroatischen Königs mit seinen Höflingen, vor dem eine Gestalt in der Proskynese (fußfällige Verehrung) liegt. Auf der Oberkante gab es wohl eine Inschrift, doch ist diese nicht erhalten.

Der erste König, dessen Name in lateinischen Inschriften der dalmatinischen Städte zu Beginn des Hochmittelalters aufscheint, ist der ungarische König Koloman aus dem Geschlecht der Árpáden, der 1102 in Biograd zugleich zum kroatischen König gekrönt worden war und 1105 die Anerkennung seiner Herrschaft durch die norddalmatinischen Städte erlangt hatte. Die wichtigste Inschrift läuft um drei Seiten des Glockenturmes des damals von der Äbtissin Vekenega geleiteten Marienklosters in Zadar. Sie ist auf das Jahr 1105 datiert und verkündet im zweiten Teil, dass „König Koloman von Ungarn, Dalmatien und Kroatien befohlen hat, auf eigene Kosten diesen Turm der heiligen Maria zu bauen und aufzurichten“ (PROPRIO SVMPTV HANC TVRRIM SANCTAE MARIAE VNGARIAE DALMATIAE CHROATIAE CONSTRVI ET ERIGI IVSSIT REX COLLOMANNVS).

Aus etwa derselben Zeit stammt die berühmte Tafel von Baška, die in glagolitischer Schrift geschrieben ist (→ Kap. 2.3.2). Sie ist nicht datiert, wird aber wohl um 1100 entstanden sein. Die Tafel von Baška war Teil einer Altarschranke der Kirche Sveta Lucija in Jurandvor bei Baška auf der Insel Krk. Im ersten Teil der Inschrift in kroatischer Sprache und glagolitischer Schrift wird erwähnt, dass der „kroatische König Zvonimir“ (ZЪVЪNIMIRЪ KRALЪ HRЪVATЪSKЪЇ) der Kirche Sveta Lucija ein Anwesen schenkte. Die Inschrift ist aus zwei Gründen bedeutsam, erstens weil sie darauf hinweist, dass die Herrschaft König Zvonimirs bis auf die Insel Krk, eigentlich Teil des byzantinischen Dalmatien, reichte; und zweitens, weil hier zum ersten Mal die Intitulatio eines kroatischen Herrschers in kroatischer Sprache und glagolitischer Schrift belegt ist: kralj hrvatski d. h. „kroatischer König“. [<<123]

Regionale Amtsträger

Wie das Inschriftenmaterial belegt, traten auch kroatische regionale Amtsträger (župani) als Stifter auf. So ist auf der Unterseite des Türsturzes der Heiligkreuzkirche (Sveti Križ) in Nin zu lesen: GODEZAI IVPPANO QUI ISTO DOMO CO(STRUXIT), was bedeutet, dass der župan Godečaj die Kirche hatte erbauen lassen. Grabinschriften von Würdenträgern in dalmatinischen Städten können konkrete biographische Angaben wie auch topische Formeln der Frömmigkeit enthalten. So heißt es auf dem Sarkophag des Spliter Priors Petrus vom Ende des 11. Jahrhunderts: EGO PETRUS DO(MINUS) ET PRIOR NATUS NUTRITUS ET ERUDIT(US) IN SPALATO, d. h. „Ich Petrus, Herr und Prior, geboren, aufgezogen und ausgebildet in Split“. Auf dem Sarkophag des Spliter Erzbischofs Johannes steht: HIC REQUIESCIT FRAGELIS ET INUTELIS JOHANNIS PECCATOR HARCHIEPISCOPUS, also „Hier ruht Johannes, der schwache und unnütze Sünder und Erzbischof“.

 

Die Überlieferung frühmittelalterlicher Inschriften im Raum der Adriaostküste, sowohl in den dalmatinischen Städten als auch auf kroatischem Herrschaftsgebiet, ist zum einen so dicht, da die Baustiftungspraxis blühte, zum anderen weil man in Stein baute, wodurch sich die Erhaltungswahrscheinlichkeit erhöhte. Der Inschriftenbestand übertrifft die Überlieferungsdichte in vielen anderen europäischen Regionen. Er hat wegen der spärlichen Überlieferung an Urkunden und erzählenden Quellen aus der Region zur selben Zeit einen hohen Informationswert auch für die „Ereignisgeschichte“. Die durchgängig lateinische Epigraphik auf kroatischem Territorium entspricht der lateinischen Urkundenpraxis der kroatischen Herrscher und dem Gebrauch der lateinischen Liturgie.

Die frühesten Zeugnisse glagolitischer Epigraphik befinden sich ganz an der Peripherie des kroatischen Herrschaftsgebietes, auf Krk und in Ostistrien, also dort, wo auch die kirchenslawisch-glagolitische Liturgie seit dem 10. Jahrhundert neben der lateinischen zu Hause war. [<<124]

2.4.4 Ein Steppenvolk erobert den östlichen Balkan: Bildkultur und Schriftlichkeit in proto-bulgarischen Inschriften
Daniel Ziemann, Budapest

Bei den als „proto-bulgarische Inschriften“ bezeichneten epigraphischen Zeugnissen handelt es sich um überwiegend in griechischen Buchstaben eingemeißelte oder eingravierte, meist fragmentarisch erhaltene Inschriften unterschiedlichen Inhalts aus der von der Forschung als „heidnische Periode“ des Ersten Bulgarischen Reichs bezeichneten Zeit des 7. bis 9. Jahrhunderts. Neben in Stein gemeisselten werden auch einige in Siegel, Ringe oder Becher eingravierte Inschriften hinzugezählt. Der überwiegende Teil der bisher entdeckten Inschriften ist nicht nur in griechischen Buchstaben, sondern auch in griechischer Sprache verfasst. Jedoch werden bisweilen auch Inschriften in altbulgarischer/altkirchenslawischer Sprache und kyrillischen Buchstaben aus späterer Zeit in die Inschriftensammlungen aufgenommen. Einige wenige Inschriften verwenden zwar griechische Buchstaben, sind aber in „proto-bulgarischer“ Sprache verfasst, also einer nicht mehr vollständig zu rekonstruierenden Sprache, die von der Mehrheit der Forschung den Turksprachen zugeordnet wird. Es handelt sich dabei um die Sprache der wohl aus dem asiatischen Raum eingewanderten Gruppen, die ab Ende des 7. Jahrhunderts die politisch-militärische Führungsschicht des Ersten Bulgarischen Reichs bildeten und im Gegensatz zur übrigen Bevölkerung des Ersten Bulgarischen Reichs weder der slawischen noch einer romanisierten oder gräzisierten Sprachgemeinschaft zuzuordnen sind.

Die meisten Inschriften stammen aus der Zeit zwischen dem Ende des 8. und der Mitte des 9. Jahrhunderts, jedoch sind auch Inschriften aus späterer Zeit bekannt. Die zahlreichen altbulgarischen/altkirchenslawischen Inschriften aus dem 10./11. Jahrhundert in kyrillischen oder glagolitischen Buchstaben stehen, auch wenn sie in einen christlichen Kontext eingebettet sind, in der Tradition der proto-bulgarischen Inschriften; die von der Forschung jeweils gezogenen Grenzen sind daher fließend.

Im Hinblick auf Vorbilder und Traditionsstränge wird von Teilen der Forschung im Zusammenhang mit Überlegungen zur Herkunft der „Proto-Bulgaren“ auf die alttürkischen Inschriften Zentralasiens [<<125] verwiesen, jedoch sind für Bulgarien als ehemals zum Römischen Reich gehörendes Gebiet auch die zahlreich vorhandenen antiken lateinischen und griechischen Inschriften in Betracht zu ziehen (→ Kap. 2.2.2).

Die meisten bisher gefundenen Inschriften stammen aus dem heutigen Nordostbulgarien, also dem Herrschaftszentrum des Ersten Bulgarischen Reichs, hier vor allem aus der als Herrscherresidenz des Ersten Bulgarischen Reichs bezeichneten Stadt Pliska (s. dazu unten) und ihrer Umgebung in der Nähe der heutigen Stadt Šumen. Das Verbreitungsspektrum ist jedoch weit größer; so wurden Inschriften auch in Südbulgarien, im griechischen Philippi bei Kavala oder in der Umgebung von Thessaloniki gefunden. Teile der Forschung tendieren dazu, weitere Inschriften aus anderen Gegenden oder auch die häufig zu findenden Runenzeichen in die Überlegungen einzubeziehen.

Forschungsgeschichte

Obwohl die erste proto-bulgarische Inschrift aus den Ruinen der großen Basilika von Philippi schon Anfang des 18. Jahrhunderts abgeschrieben wurde, sind die bedeutendsten Entdeckungen und die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema erst in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu datieren. Nach vereinzelten Veröffentlichungen von Inschriften aus Šumen und Veliko Tărnovo 1831 und 1859 wurden Stück für Stück weitere Exemplare der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht, so beispielsweise durch den österreichisch-ungarischen Gelehrten Felix Kanitz (1829–1904), der zudem die berühmten Inschriften am Reiter von Madara (Abb 3) entdeckte.

Es waren jedoch vor allem die Gelehrten des späten 19. und beginnenden 20 Jahrhunderts, wie Konstantin Jireček (1854–1918), Karel (1859–1944) und Hermengild Škorpil (1858–1923), Fjodor Uspenskij (1845–1928) sowie Vasil Zlatarski (1866–1935), die neu entdeckte Inschriften in die wissenschaftliche Diskussion anhand von kritischen Editionen einführten und für Fragen der bulgarischen Geschichte nutzbar machten. Ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts stand die vertiefende Erforschung der bereits bekannten Inschriften im Vordergrund, aus der sich bisweilen eine rege Diskussion entwickelte.

Die eingehendste wissenschaftliche Bearbeitung und Edition der proto-bulgarischen Inschriften besorgte Veselin Beševliev (1900–1992) in deutscher Sprache im Jahr 1963. Die Gesamtedition wurde unter Ergänzung neu entdeckter Inschriften im Rahmen der 1992 erschienenen [<<126] zweiten Auflage der bulgarischen Ausgabe von 1979 aktualisiert und stellt damit den Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema dar.

Inschriften als Quellen für die bulgarische Geschichte

Die proto-bulgarischen Inschriften besitzen einen außerordentlichen Wert für die Geschichte des Ersten Bulgarischen Reichs, das sich ab 680/681 am Unterlauf der Donau etablierte. Durch sie verfügt die Forschung über einzigartige Zeugnisse, die den Ereignisverlauf aus Sicht der Bulgaren, also meist der ihrer Herrscher, bieten. Ansonsten stellen die von außen über das frühmittelalterliche Bulgarien berichtenden byzantinischen oder in geringerem Maße dem lateinischen Westen oder der islamischen Welt entstammenden Quellen die einzige Überlieferungsgrundlage dar. Die Inschriften gehören nicht nur zu den wichtigsten Quellen für die bulgarische Geschichte, sie stellen aufgrund des linguistischen Materials in Form von Namen und Titeln eine entscheidende Grundlage für Beobachtungen zur Sprache der „Proto-Bulgaren“ dar. Zugleich erlauben sie einen Blick auf deren Sozialstrukturen, Machtverhältnisse, Kult und Religion. So werden in verschiedenen Inschriften Titel wie Boilas, Bagainos, Kana, Tarkanos sowie unterschiedliche Zusammensetzungen von Titeln genannt, die sich Ämtern bzw. Positionen zuordnen lassen. In einer Inschrift werden beispielsweise Boilen, Bagainen und Bulgaren unterschieden, worin vermutlich soziale Schichten innerhalb des bulgarischen Reichs zu erkennen sind.

Veselin Beševliev teilte die Inschriften in seiner Edition in die Themenbereiche „Res gestae“ (d. h. „Ereignisse“), „Siegessäulen“, „Friedensverträge“, „Militärinschriften“, „Bauinschriften“, „Grabinschriften“ sowie „Unbestimmte Fragmente“ und schließlich „Varia und Dubia“ ein. Damit sind die zentralen inhaltlichen Aspekte erfasst. In den meisten komplett lesbaren Inschriften verkündet ein bulgarischer Herrscher ein Ereignis oder eine Maßnahme, sei es einen militärischen Sieg, den Bau eines Palastes oder den Abschluss eines Vertrages. Allerdings sind zahlreiche Inschriften nur als Fragmente erhalten und bieten oft nicht mehr als bloße Namen oder Wortfetzen.

Die meisten Diskussionen wurden um mehrere, teilweise schwer zu entziffernde Inschriften am Reiterrelief von Madara in der Nähe von Šumen geführt, an deren Zustandekommen vielleicht mehrere bulgarische Chane beteiligt waren. Folgt man der Lesung Veselin [<<127] Beševlievs, so würden wir dort mit einer Chan Tervel († ca. 717/721) zugeschriebenen Inschrift auch die früheste der heute bekannten proto-bulgarischen Inschriften erkennen können, doch bleiben bei der vorgeschlagenen Lesung gewisse Zweifel.

Ein interessantes Beispiel stellt eine Bauinschrift Chan Omurtags († ca.830) dar, die im Jahre 1905 auf einer nahe der Ortschaft „Khan Krum“ gefundenen Marmorsäule entdeckt wurde und von der Errichtung eines Palastes am Fluß Tiča in Nordostbulgarien berichtet. Den Palast glaubt man durch archäologische Grabungen in der Nähe des Fundortes identifiziert zu haben. In dieser Inschrift wird auch zum ersten Mal der Name Pliska erwähnt, und zwar zusammen mit dem griechischen Wort „kampos“, das meist im Sinne von „Feld“ gebraucht wird. Jenes Pliska wird dort als momentaner Aufenthaltsort des Chans bezeichnet. Dieser Fund begründete die Identifikation Pliskas als Hauptstadt des Ersten Bulgarischen Reichs. Eine weitere Bauinschrift des gleichen Chans erwähnt den Bau eines Hauses an der Donau, welches aufgrund jüngerer Forschungen vielleicht in Silistra gefunden wurde. Aus anderen Inschriften lassen sich hingegen beispielsweise in den übrigen Quellen nicht erwähnte Kriegszüge oder Details von Friedensverträgen erschließen.

Die proto-bulgarischen Inschriften stellen somit ein äußerst wichtiges Zeugnis für die Geschichte des Ersten Bulgarischen Reichs dar, die das Bild jener Zeit entscheidend bereichern können. Viele Fragen bleiben jedoch Gegenstand der Diskussion und Interpretation. Vor allem von den fortdauernden archäologischen Forschungen in Pliska und an anderen Orten lassen sich in Zukunft weitere Inschriftenfunde erhoffen.