Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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II. Als sie aber Christen wurden, versuchten sie die slawische Sprache mit römischen und griechischen Buchstaben niederzuschreiben, ohne einer [<<106] Ordnung zu folgen. Aber wie kann man mit griechischen Buchstaben „Bogъ“ (Gott) oder „životъ“ (Leben) oder „selo“ (Dorf) oder „crьkovь“ (Kirche) oder „čaanie“ (Hoffnung) oder „širota“ (Breite) oder „jadь“ (Gift) oder „ọdru“ (woher) oder „junostь“ (Jugend) oder „jazykъ“ (Sprache) und andere diesen ähnliche Wörter gut schreiben? Und so ging es viele Jahre.

III. Dann aber ließ Gott, der Menschenfreundliche, der alles lenkt und das menschliche Geschlecht nicht unwissend lässt, sondern alle zur Erkenntnis und Erlösung führt, seine Gnade über dem slawischen Volk walten, und schickte ihm den Heiligen Konstantin, den Philosophen, der (als Mönch) Kyrill genannt wurde, einen gerechten und wahrhaftigen Mann. Und er schuf 38 Buchstaben, einige nach griechischem Vorbild, die anderen aber der slawischen Sprache entsprechend.

Übersetzung hier: Marina Sharlaj/Holger Kuße, Der Mönch Chrabar, „Über die Buchstaben“: https://tu-dresden.de/die_tu_dresden/fakultaeten/fakultaet_sprach_literatur_und_kulturwissenschaften/slavistik/einblicke/slav_schriften/chrabr_uebersetzung-2.pdf, S. 2, Zugriff: 26. 05. 2016

Chrabar verortet also die Schaffung des Alphabets auf der Zeitachse und stellt der bücherlosen heidnischen Zeit die neue Epoche des Christentums gegenüber. Frühere Schriftsysteme sind ihm zwar bekannt, doch seien sie aus unterschiedlichen Gründen abzulehnen. Die vorchristlichen „Striche und Schnitze“ sind heidnisch, das griechische und lateinische Alphabet können die slawischen Wörter „Gott, Leben, Dorf, Kirche“ – dies sind nicht zufällig die ersten vier Begriffe, die er nennt – nicht wiedergeben. Dies stellt Chrabar als kulturelles Defizit dar; dass damit auch ein heilsgeschichtlicher Mangel verbunden war, zeigt er in Abschnitt III. Denn die Schaffung des neuen kyrillischen Alphabets wird der göttlichen Gnade zugeschrieben. Dies dient der Erhöhung der neuen Schrift, aber auch deren Rechtfertigung gegenüber Traditionalisten. Er folgt damit einer Deutung, die schon in der Vita des Konstantin/Kyrill entfaltet wird:

[…] bald offenbarte ihm Gott, der die Gebete seiner Diener erhört, die Schrift. Und dann setzte er die Buchstaben aneinander und begann den Wortlaut des Evangeliums aufzuschreiben.

Übersetzung hier: Joseph Bujnoch, Zwischen Rom und Byzanz. Leben und Wirken der Slavenapostel Kyrillos und Methodios nach den Pannonischen Legenden und der Klemensvita (Graz u. a. 1958), S. 67. [<<107]

Die Verfechter der neuen Liturgiesprache mussten sich auch vor jenen rechtfertigen, die nur das Lateinische, Griechische und Hebräische für heilige Sprachen hielten:

VI. Wieder andere sagen: Wozu brauchen wir slawische Bücher? Diese haben ja weder Gott noch die Engel geschaffen, und es gab sie nicht von jeher wie die hebräischen, römischen und griechischen, die seit alters her bestehen und gottgefällig sind. Noch andere glauben, dass Gott selbst uns die Buchstaben geschaffen hat. Doch sie, die Verfluchten, wissen selbst nicht was sie da sagen, (wenn sie vorbringen,) dass Gott befohlen habe, dass die Bücher nur in drei Sprachen geschrieben werden sollen, wie es im Evangelium steht: „Und so wurde die Aufschrift auf Hebräisch, Römisch und Griechisch geschrieben“, von Slawisch war aber keine Rede, deswegen seien die slawischen Bücher nicht von Gott.

Was sagen wir oder was entgegnen wir solchen Narren? Wir wollen aus der Heiligen Schrift antworten, so wie wir es gelernt haben, dass alles der Reihe nach von Gott kommt, nicht jedoch alles auf einmal. Gott schuf weder zuerst die hebräische noch die römische noch die griechische, sondern die syrische Sprache, die Adam gesprochen hat, und die dann von Adam bis zur Sintflut, und von der Sintflut bis zu der Zeit gesprochen wurde, als Gott die Sprachen verwirrte beim Turmbau zu Babel, wie es in der Heiligen Schrift geschrieben steht. Als die Sprachen getrennt wurden, wurden, so wie die Sprachen getrennt wurden, auch die Sitten und Gebräuche, Vorschriften und Gesetze wie auch das Wissen unter den Völkern aufgeteilt: die Ägypter erhielten den Ackerbau und die Perser, Chaldäer und Assyrier die Astrologie, die Magie, die Medizin, Zauberei und alles Wissen, das menschlich ist. Die Hebräer aber erhielten die Heiligen Schriften, in denen geschrieben steht, wie Gott Himmel und Erde schuf und alles auf Erden und den Menschen und alles der Ordnung nach, so wie es (in der Schrift) geschrieben steht. Die Griechen bekamen die Grammatik, die Rhetorik und die Philosophie.

Übersetzung hier: Marina Sharlaj/Holger Kuße, Der Mönch Chrabar, „Über die Buchstaben“ (s. o.).

Chrabar steht wiederum in der Tradition der Konstantins-Vita, die von der „Dreisprachenhäresie“ spricht, also den Vorwurf der Ketzerei gegen die Traditionalisten erhebt. Der Verfasser der Konstantins-Vita bemüht zum einen die eigensprachlichen Traditionen der armenischen, [<<108] koptischen, georgischen und anderer orientalischer Kirchen, zum anderen stützt er sich auf eine lange Reihe von Zitaten aus dem Alten Testament (Psalmen) und Neuen Testament (Evangelien, Paulus’ Briefe an die Korinther), welche die Vielfalt und Gleichrangigkeit der Sprachen besonders für die Mission hervorheben, etwa

Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium jeglichem Geschöpf […] Denen aber, die glauben, werden diese Zeichen folgen: in meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, in neuen Sprachen werden sie sprechen. (Mk 16,15–17)

Das Kirchenslawische setzte sich als neue Liturgiesprache durch. Dass Chrabars Text so oft abgeschrieben wurde, zeigt aber, dass das Bedürfnis nach Rechtfertigung nicht so rasch erlosch.

Von Bulgarien aus wurde die altbalkanische und schon unter Rom christianisierte romanisierte Gruppe der Rumänen kirchlich und kulturell überschichtet: Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein wirkte das Altkirchenslawische als Liturgie-, Verwaltungs- und Literatursprache der romanischsprachigen orthodoxen Rumänen. Bleibende Spuren hinterließ die byzantinische Kulturpolitik auch in Regionen, die sich der Westkirche zuwandten. Im Norden Dalmatiens (Kvarner-Bucht) hatte sich um 1000 eine zweisprachige (lateinische und kirchenslawische) katholische Kirchenkultur entwickelt. Nur hier hielt sich dauerhaft die Verbindung von glagolitischer Schrift und (katholischer) Messe in kirchenslawischer Sprache.

Diese glagolitische Schriftkultur in Teilen Dalmatiens entwickelte sich im Spätmittelalter zu einem regionalen Sonderphänomen, das im kroatischen Nationsdenken der Neuzeit mit besonderem Stolz hervorgehoben wurde. Tatsächlich wurde die komplizierte glagolitische Schrift ab dem 10. Jahrhundert von der kyrillischen Schrift abgelöst, die sich im Wesentlichen an der griechischen Unziale ausrichtet und Sonderzeichen nur für Laute aufweist, die im Griechischen nicht bestehen. Das kyrillische Alphabet prägt die Schriftkultur von Bulgaren, Makedoniern, Serben und Ostslawen bis heute. Einzig die Rumänen wechselten um die Mitte des 19. Jahrhunderts zum lateinischen Alphabet, um damit – den zeitspezifischen nationalen Abgrenzungsbestrebungen entsprechend – ihren Charakter als romanisches Volk und eine politische Abkehr vom byzantinischen Osten zum lateinischen Westen sichtbar zu machen. Einen Sonderfall in [<<109] der europäischen Geschichte stellt die kroatische Kultur mit ihrer Dreischriftlichkeit dar: Im Mittelalter wurden die glagolitische, die kyrillische und die lateinische Schrift – diese als zeitlich letzte – nebeneinander für slawische Texte des katholischen Kulturmilieus verwendet und am Ende des 15. Jahrhunderts auch in das neue Medium des Buchdrucks überführt. Ausschließlich die lateinische Schrift kam für lateinische und italienische Texte im venezianischen Dialekt zum Einsatz.

2.4 Die Materialität der Quellen: Archäologie und Architektur, dingliche und bildliche Überlieferung

Neben den spärlichen schriftlichen Quellen und den Befunden der Sprachwissenschaft sind – durch das gesamte Mittelalter – materielle Denkmäler von besonderer Bedeutung. Ist die Mittelalterarchäologie im Vergleich zur klassischen Archäologie schon im westlichen Europa ein verhältnismäßig junges Fach, gilt dies erst recht für Südosteuropa. Dort diente und dient teilweise bis in die Gegenwart die antike Geschichte als Grundlage und Rechtfertigung moderner Staats- und Nationsbildung. Entsprechend wurde in Griechenland in die Archäologie des antiken Makedonien, in Bulgarien in die Thrakerforschung, in Rumänien in die Dakerarchäologie und in Albanien in die Erschließung der materiellen Kultur, die den Illyrern zugeschrieben wurde, investiert.

In den kommunistischen Diktaturen mobilisierten die Regime erhebliche Mittel für diese Forschungen, die entsprechend hoch ideologisiert waren und die jeweiligen Dogmen von Alteingesessenheit und Siedlungskontinuität absichern sollten. Das Mittelalter stand ganz im Schatten der Konzentration auf die Antike – denn nur diese gewährleistete ein möglichst hohes Alter des jeweiligen Nationskonstrukts. Etwas anders gelagert sind jene Fälle, in denen frühmittelalterliche Zuwanderung ganz (im Falle Ungarns oder Kroatiens) oder teilweise (im Falle Bulgariens) Teil der nationalgeschichtlichen Meistererzählung ist. Hier erhielten entsprechende Funde geradezu nationalen Symbolcharakter wie etwa der sogenannte Reiter von Madara in Bulgarien (Abb 3) (→ Kap. 2.4.4). [<<110]

 

Abb 3 Reiter von Madara, Bulgarien, lebensgroßes Felsrelief. [Bildnachweis]

Neuere Ergebnisse archäologischer Grabungen stellen viele vermeintliche Gewissheiten der nationalkommunistischen Forschungen infrage. Die Beiträge von Etleva Nallbani und Miklós Takács erläutern, welche neuen Fragen und Interpretationsschemata für die Auswertung archäologischer Befunde verwendet werden und welche neuen Deutungen sich daraus für die frühmittelalterliche Geschichte des Donau-Balkan-Raumes ergeben.

Materielle Überlieferung ist oft auch Trägerin der spärlichen Schriftlichkeit in der Region. Daniel Ziemann für Bulgarien und Tomislav Raukar für Kroatien legen dar, wie sehr die Forschung von den wenigen inschriftlichen Befunden abhängig ist. Unterstützt wird dieser Befund durch die Behandlung von Siegeln als Quelle für die wichtigste Reichsbildung im frühmittelalterlichen Balkan, das Erste Bulgarische Reich. Neben den Inschriften sind Siegel die Hauptquelle etwa für Herrschaftsrepräsentationen des frisch christianisierten Reichs. Dass noch im 13. Jahrhundert ein Patriarch der bulgarischen Kirche im Wesentlichen nur durch einen einzigen sigillographischen Beleg bekannt ist, macht den gewaltigen Unterschied in der Quellenüberlieferung zwischen dem westlichen und südöstlichen Europa deutlich. Wer eine mittelalterliche Geschichte Europas schreibt, die nicht die Mitte oder den Westen des Kontinents zur Norm erhebt, hat sich mit dieser methodischen Konstellation eingehend auseinander zu setzen. [<<111]

2.4.1 Stratigraphie eines Burghügels – das Beispiel von Alessio/Lissus/Lezha
Etleva Nallbani, Paris

An der südwestlichen Adriaküste, im Gebiet des heutigen Nordalbanien, überlappten sich die Einflüsse aus dem westlichen und dem östlichen Teil des spätantiken Römischen Reichs in besonderer Weise, hier begegneten sich das Lateinische und das Griechische als Amts- und daher Inschriftensprache (→ Kap. 2.2.2), hier wirkte sich das Ringen der Kirchen von Rom und Konstantinopel um kirchenrechtlichen und kulturellen Einfluss auf dem Balkan in enger Nachbarschaft und schwankenden konfessionellen Loyalitäten aus (→ Kap. 2.3.2). Die Erforschung des Siedlungswesens dieser Grenzregion ist daher von besonderem Interesse. Dabei kommt angesichts des Mangels schriftlicher Quellen gerade für das Früh- und Hochmittelalter der Archäologie besondere Bedeutung zu. Ausgrabungen zweier großer Stätten sollen Licht in dieses Dunkel bringen. Seit 2008 gräbt ein albanisch-französisches Team im alten Lissus (heute Lezha, nahe der Adriaküste) und in Dalmace (heute Koman), im nahen gebirgigen Hinterland. Es interessiert sich dabei für die Organisation des Siedlungsraumes, die Bevölkerungsentwicklung und den regionalen Austausch von Waren [<<112] im Tal des Drin, eines der wichtigsten in die Adria entwässernden Flüsse des Balkans, im heutigen Nordwestalbanien. Dalmace ist seit 1989 wegen seiner besonders reichen Nekropole (Gräberfeld) bekannt und wurde zu einem mythischen Ort der albanischen Archäologie. Die sog. Kultur von Koman sollte das fehlende Glied in der Theorie der nationalistischen albanischen Geschichtsschreibung von einer ungebrochenen albanischen Siedlungskontinuität von den antiken Illyrern über die mittelalterlichen sog. Arbër bis zu den modernen Albanern bilden (→ Kap. 2.2.3).

Durch Grabungen zu einer Neudeutung der frühmittelalterlichen Geschichte

Die seit 2008 laufenden neuen Grabungen versuchen, sich von diesem politisch motivierten Schema zu lösen.



Abb 4 und 5 Grabung Nekropole Lezha, Albanien. [Bildnachweis]

Bisher haben sie ergeben, dass Dalmace nicht nur aus einer Nekropole bestand, sondern sich auf mehreren steil abfallenden Höhenbereichen auf einer Fläche von rund 35 Hektar ausdehnte. Die Siedlung beherrschte das rechte Ufer des Drin zwischen der Siedlung Sarda im Osten und der Festung Scodra (heute Shkodra, die wichtigste Stadt Nordalbaniens) im Nordwesten. Die Siedlung Dalmace geht im Wesentlichen auf die römische Epoche zurück, auch wenn es Siedlungsspuren aus hellenistischer Zeit (den drei letzten vorchristlichen Jahrhunderten) gibt. Im Mittelalter wies der Ort eine sehr dichte Siedlungsgeschichte auf, besonders vom ca. 6.‒10. Jahrhundert, als sich Dalmace [<<113] zu einem richtigen städtischen Zentrum entwickelte. Die Siedlung war in mehrere Viertel gegliedert, darunter eines mit hochgelegenen Wohnhäusern aus Stein sowie Kirchen und Produktionsstätten. Bisher sind eine große Nekropole und fünf Kirchen freigelegt worden, die die verschiedenen Siedlungsstufen kennzeichnen. Die Dichte der Kirchenbauten ist ein besonderes Merkmal der Topographie von Dalmace zwischen dem 8. und dem 12. Jahrhundert und prägt auch sonst die städtische Kultur Nordwestalbaniens (Lezha, Sarda, Danja, alle am Drin gelegen). Die Kirchen waren ursprünglich hochwertig geschmückt und bemalt und mit liturgischen Geräten ausgestattet, was auf die außergewöhnliche Investitionstätigkeit der Geistlichkeit hindeutet. Der Klerus wurde so zum Mittelpunkt von Wirtschaft und Produktion in Dalmace. Auf der St. Georgs-Insel bestand auch eine Metallerzeugung, was für die Bestattungsbräuche zwischen dem 7. Jahrhundert und dem Ende des Mittelalters durchaus unüblich war. Eine 2012 entdeckte Schmiede überlagerte am Kopfende der Kirche einen Gräberbereich (9.‒10. Jh.).

Diese ersten Befunde zur Produktion und die außergewöhnliche Fülle und Reichhaltigkeit der freigelegten Objekte in der Siedlung und vor allem der Nekropole erlauben es, verschiedene Gegenstände aus Keramik, Glas und Metall und deren Verteilung durch den regionalen Handel genauer zu untersuchen. Die Nekropole dehnt sich über eine Fläche von vier Hektar aus und war seit der spätrömischen Zeit (4./5. Jh.) bis mindestens zum 13. Jahrhundert in Gebrauch – an ihrem Beispiel lässt sich die tausendjährige Siedlungsgeschichte auch in regional vergleichender Sicht darstellen. Die Erdbestattung, ein allgemeiner Brauch seit dem Ende der römischen Epoche, erlaubt durch die Untersuchung der menschlichen Überreste wie auch der Grabbeigaben in einer großen Zahl von Gräbern – vor allem Kleidungsstücke im weitesten Sinn (Waffen, Schmuck, Objekte zur Reparatur von Kleidungsstücken, religiöse Artefakte) – umfassende Rückschlüsse auf Gesundheitszustand, Entwicklung von demographischen Strukturen und fortschreitender Christianisierung, Kleidungscodes und gesellschaftlicher Stellung der Bestatteten nach chronologischen Phasen und gesellschaftlichen Gruppen.

Eine Stadt an der Schnittstelle zwischen Mittelmeer und innerem Balkan

Im Gegensatz zu Dalmace, einer im Mittelalter neuformierten Siedlung par excellence, lag Lezha (das antike Lissos) auf den Ruinen [<<114] einer Siedlung aus dem klassischen Altertum, von der es eine prachtvolle 2500m lange und 8m hohe Stadtmauer aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. gleichsam geerbt hatte; diese Mauer umspannte drei Viertel des Burghügels. An der Mündung des Drin und an der Römerstraße gelegen, die in nordwestlicher Richtung nach Naissus (heute Niš, Serbien) und die Donauprovinzen führte, beherrschte Lezha den Nordteil der albanischen Küstenebene zwischen Dyrrachium (heute der mittelalbanische Hafen Durrës) und Scodra/Shkodra und riegelte den Übergang vom gebirgigen Hinterland an die Küste ab (Abb 4 und 5).

Die mittelalterliche Siedlung folgte nicht der antiken Anlage. Sie ist in kleinen Siedlungsinseln organisiert, die auf verschiedenen Plateaus des Hügels liegen. Die Siedlung ist so in eine Unterstadt, eine Mittel- und eine Oberstadt geteilt. In der Oberstadt mit der Burg und dem östlichen Friedhof lässt sich eine Siedlungsgeschichte von der Spätantike bis in die osmanische Zeit nachvollziehen. Fast an allen Stellen der Stadt ist die Bedeutung des Christentums feststellbar. In der Burg lag die 2013 teilweise ausgegrabene Kirche, die der Heiligen Maria Schnee/S. Maria ad nives zugeschrieben wird, die auf älteren spätantiken Elementen errichtet worden war. Die Dichte hochwertiger Gräber im Inneren der Kirche und die zahlreichen Umbauten lassen die Marienkirche als eines der wichtigsten Zeugnisse der sehr komplexen Geschichte Lezhas im Mittelalter erscheinen, bis sie im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts zu einem Munitionslager des osmanischen Heeres umgewandelt wurde. Seit dem 8. Jahrhundert verwaltete die Geistlichkeit auch den Gräberbereich: zwei Kirchen, eine davon mit einer sehr schönen Ikonostase in Steinmetzarbeit des 8.‒9. Jahrhunderts, dazu auch eine Zisterne und eine kleine Kapelle, liegen nördlich des Grabbereichs. Zwei Friedhöfe befinden sich nördlich und südlich außerhalb des hellenistischen Walls, während der Friedhof in der Burg die größte Ausdehnung besitzt. Eine archäologisch-anthropologische Untersuchung von 150 freigelegten Gräbern weist auf eine große Vielfalt von Grabtypen hin, was durch das lange Bestehen des Grabfelds und durch die Vielzahl von Bevölkerungsgruppen erklärt wird, die im Mittelalter in Lezha siedelten. Nach den Kleidungsarten zu schließen, kleideten sich die Einwohner Lezhas zu Beginn des Mittelalters sowohl in typisch mittelmeerisch-byzantinischer Weise als auch nach jener Art, die für die in Klan-Strukturen organisierten Bewohner des [<<115] Binnenlands charakteristisch war. Die Analyse von Grabbeigaben und Grabarchitektur ermöglicht es so, materielle Kultur und gesellschaftliche Organisation über viele Jahrhunderte nachzuverfolgen.

2.4.2 Die Fundinterpretationen in der Mittelalterarchäologie der Provinz Vojvodina
Miklós Takács, Budapest

Die Vojvodina (heute Nordserbien), am Südwestrand der Karpaten gelegen, stellte ein ideales Feld für Forschungen zu politisch motivierten Deutungen archäologischer Funde aus dem Mittelalter dar. Seit der Wende zum 18. Jahrhundert erlebte das Gebiet mehrfache Herrschaftswechsel. Die ebenfalls wechselnden Eliten versuchten, ihre Macht mit historischen Argumenten zu untermauern. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts verdrängte die Habsburgermonarchie die osmanische Herrschaft aus dem Karpatenbecken (Friedensverträge von Karlowitz/Sremski Karlovci 1699 und Passarowitz/Požarevac 1718) und nahm Gebiete in Besitz, die im Mittelalter Teile der Länder der ungarischen Stephanskrone gewesen waren. Bereits im Zuge des Landesausbaus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden alte Siedlungen mehrmals mit Geländebegehungen, d. h. sozusagen mit archäologischen Methoden, bestimmt, da das mittelalterliche Urkundenmaterial überwiegend verloren gegangen war. In diesem Zusammenhang legte Graf Luigi Ferdinando Marsigli (1658–1730) die erste zusammenfassende Darstellung des römischen und mittelalterlichen materiellen Erbes der Region vor, wobei er historische Erkenntnisse für die Deutung der von ihm beschriebenen archäologischen Objekte heranzog. Die Interpretation archäologischer Funde bzw. Befunde war also bereits von Beginn an historischen Postulaten untergeordnet.

Mittelalterforschung im ungarisch-serbischen Spannungsfeld der Donaumonarchie

Seit der Gründung des Ungarischen Nationalmuseums im Jahre 1802 entwickelte die politische Elite des Königreichs Ungarn ein verstärktes Interesse an historischen Fragen, besonders am mittelalterlichen Erbe (→ Kap. 1.1). Freilich wurden im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Überreste der mittelalterlichen materiellen Kultur im südlichen Teil des Karpatenbeckens noch nicht in Aufsätzen zur mittelalterlichen Geschichte behandelt. Sogar in der Revolution und dem ungarischen „Freiheitskampf“ von 1848/49, der in der Region als [<<116] erbittert geführter ungarisch-serbischer und ungarisch-rumänischer Konflikt ausgetragen wurde, berief sich die ungarische Regierung mit Blick auf den Südteil des Karpatenbeckens nur selten auf historische Argumente. Demgegenüber aber formulierte die serbische Nationalversammlung im Mai 1848 ihre Forderungen mit Verweis auf eine angebliche serbische Woiwodschaft im Karpatenbecken des 9. Jahrhunderts.

 

Aufgenommen wurde die archäologische Forschung in diesem Raum nach dem österreichisch-ungarischen bzw. dem ungarisch-kroatischen Ausgleich (1867 bzw. 1868) sowie nach der Aufhebung der Militärgrenze (1869–1873). Damals wurden zwei Drittel des Raumes der ungarischen, ein Drittel der kroatischen Krone unterstellt. Die kroatischen Archäologen der Bodendenkmalpflege in Syrmien (östliche Hälfte: Srem, Serbien, westliche Hälfte: Zapadni Srijem, Kroatien) organisierten ein Netzwerk sog. Vertrauensmänner (örtliche Lehrer, Notare, Beamte), was maßgeblich zur Erschließung der römischen Großstadt Sirmium (kr. Srijemska Mitrovica, srb. Sremska Mitrovica) beitrug. Lokalen Initiativen sind wesentliche Funde und Befunde in den Regionen Batschka und Banat in der Zeit des Dualismus (1867–1918) zu verdanken. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden mehrere Regional- bzw. Komitatsmuseen in den südlichen Teilen des damaligen Ungarn eingerichtet.

Zumeist waren die archäologischen Forschungen Ergebnis nicht der Förderung durch das Ungarische Nationalmuseum in Budapest, sondern durch kleinere Museen. Im Dualismus blieb die Zahl der Fragestellungen der Mittelalterarchäologie beschränkt. Zumeist wurden Gräberfelder der Völkerwanderungszeit freigelegt und Grabungen zu Reihengräberfeldern des 10./11. Jahrhundert durchgeführt. Alte Bauten wie Kirchen- oder Burgruinen wurden nur ausnahmsweise erschlossen, und wenn überhaupt, dann auf Betreiben des Landesdenkmalamts in Budapest. Die Gründe für die Zurückhaltung der serbischen Eliten bei der Förderung archäologischer Forschungen lassen sich nur erahnen. Wahrscheinlich war der Widerspruch zwischen der eigenen Meistererzählung und den Befunden aus der entstehenden archäologischen Forschung zu stark. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde im Fundmaterial von Reihengräberfeldern die älteste archäologische Hinterlassenschaft von Slawen in diesem Raum festgestellt. Dies stand [<<117] in deutlichem Widerspruch zur serbischen These, wonach die sog. „Altserben“ bereits seit der späten Sarmatenzeit (3./4. Jahrhundert n. Chr.) im südlichen Teil des Karpatenbeckens die Mehrheit gebildet hätten.

Mittelalterarchäologie und Staatspolitik in den beiden Jugoslawien

Der politische Umbruch von 1918, d. h. die Eingliederung der Region in das „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ (ab 1929: Jugoslawien) brachte einen völligen Umbruch auch in der archäologischen Forschung. Nun befanden sich viele der unter dem Dualismus eingerichteten Museen außerhalb der ungarischen Staatsgrenzen (Vertrag von Trianon 1920). In der Zwischenkriegszeit war nur das Nationalmuseum in Belgrad für die Erfassung und Sammlung archäologischer Funde zuständig. Die wenigen Grabungen bezogen sich nur zu einem geringen Teil auf die Völkerwanderungszeit bzw. das Mittelalter. So wurde in Südost-Syrmien eine kleine Notgrabung in einem Gräberfeld der Awarenzeit (8. Jahrhundert n. Ch.) durchgeführt. Die kurze Auswertung durch Djordje Mano-Zissi (srb. auch Mano-Zisi, 1901–1995) stützte sich auf Arbeiten des tschechischen Archäologen Lubor Niederle (1865–1944) und betrachtete das Gräberfeld von Batajnica (nahe Belgrad) als Hinterlassenschaft nicht nur von Awaren, sondern vielmehr von Slawen.

Die Jahreswende 1944/45 brachte dem südlichen Karpatenbecken nicht nur die Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft durch die Rote Armee, sondern für Jugoslawien auch die Machtübernahme der kommunistischen Partisanen unter Josip Broz, genannt Tito (1892–1980). Damit verbunden war die Rückgliederung der Vojvodina in das nunmehr kommunistische Jugoslawien, und zwar als Autonome Provinz der Teilrepublik Serbien. Es setzte auch der Aufbau eines neuen Macht- und Gesellschaftssystems nach bolschewistischem Muster ein. Bis zum Bruch Titos mit dem Führer der Sowjetunion, Josef Stalin, im Jahre 1948 kopierte die kommunistische jugoslawische Archäologie am treuesten sowjetische Muster, was gleichbedeutend war mit einer panslawistischen Deutung der Funde und Befunde. Bis Mitte der 1960er Jahre koexistierten in Jugoslawien diese panslawistische Idee und die aus dem 19. Jahrhundert stammende „altserbische“ Interpretationsvariante.

Erst ab Mitte der 1960er Jahre verschwanden beide stark ideologisierten Denkmuster aus den Deutungen, die nicht mehr zwanghaft ethnischen Kriterien folgen und die Siedlungskontinuität der „Al [<<118] tserben“ belegen mussten. (Die ersten, aber entscheidenden Schritte haben in dieser Richtung Danica Dimitrijević sowie Jovan Kovačević gemacht.) In einer Atmosphäre relativer Freiheit und Toleranz wurden neue Vorhaben der Mittelalterarchäologie in Angriff genommen, so die Klostergrabungen in Aracs (srb. Arača) und Dombó (srb. Novi Rakovac). Die awarenzeitlichen Gräberfelder der nördlichen Batschka wurden systematisch erforscht und die mittelalterliche Siedlungstopographie derselben Region unter Verwendung des archäologischen Quellenmaterials rekonstruiert. Sándor Nagy (1912–1995) sowie László Szekeres (1931–1997) haben sich größte Verdienste bei dieser Arbeit erworben.

Als Slobodan Milošević 1987 in Serbien an die Macht gelangte, bedeutete dies auch eine erhebliche Umstrukturierung der Mittelalterarchäologie in der Vojvodina. Ziel des neuen Regimes war die Mobilisierung der öffentlichen Meinung, die für bevorstehende interethnische Kriege indoktriniert werden sollte. In der Vojvodina wurde eine Pressekampagne mit der Behauptung geführt, das serbische Kulturerbe werde absichtlich vernichtet (1991). Der radikale Abgeordnete Milan Paroški, damals Leiter des Denkmalamtes der Vojvodina, brachte sogar eine entsprechende Interpellation im serbischen Parlament ein. Die Pressekampagne zielte auf die angebliche Zerstörung der Grundmauern einer Kirche beim Bau der Autobahn E75. Dieses Denkmal wurde als altserbische Kathedralkirche des 9. Jahrhunderts und als Massengrab der „altserbischen“ Opfer der ungarischen Landnahme an der Wende zum 10. Jahrhundert interpretiert, und dies, obwohl alle Funde und Befunde in das 13.‒16. Jahrhundert zu datieren sind. Wiederbelebt wurde auch die Vorstellung einer seit dem 3./4. Jahrhundert n. Chr. dauerhaft ansässigen „altserbischen“ Bevölkerung. Seit dem Sturz des Milošević-Regimes teilen sich die Mittelalterarchäologen in jene, die – wie in Ostmitteleuropa nunmehr üblich – ethnische Deutungskategorien archäologischer Funde mit Zurückhaltung anwenden (Nebojša Stanojev, Ivan Bugarski), und jene, die weiterhin die Theorie einer „altserbischen“ Kontinuität vertreten (Djordje Janković, Stanko Trifunović). [<<119]