Die Passion Jesu im Kirchenlied

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1.3 Begriffsklärungen
1.3.1 Kirchenlied

Als Bezeichnung der im Gottesdienst gesungenen Lieder hat sich im Sprachgebrauch der Begriff des Kirchenliedes eingebürgert. Die Literatur spricht von der „Geschichte des Kirchenliedes“.

Der Begriff des Kirchenliedes taucht als Bezeichnung für das im Gottesdienst der Kirche gesungene Lied zuerst bei Herder auf und manifestiert sich in den Anthologien des 19. Jh. und beginnenden 20. Jh.1

Zuvor gab es mannigfaltige Bezeichnungen; es tauchte auch schon im 16. Jh. der Begriff „kirchenlidlin“2 auf, wurde aber neben anderen verwendet, ohne daß eine Begriffshierarchie oder allgemeine Systematik bestanden hätte. So taucht auch der Begriff „Geystliche Lieder“ schon auf dem Deckblatt zum Babstschen Gesangbuch von 1545 auf; dieser Begriff wird in der Vorrede zum Kap. 2 definiert werden.

Dabei postuliert der Begriff scheinbar die Existenz einer Gattung, d.h. einer musikalischen Form mit einheitlichen Stilmerkmalen. Aber Form, Melodik, Harmonik waren im Laufe der Zeit vielen Veränderungen und wechselnden Einflüssen ausgesetzt und es spielen viele unterschiedliche Traditionen in die Entwicklung des Liedes hinein. In diesem Sinne ist es kaum möglich, von einer Gattung zu sprechen, weil Kirchenlieder durch die jahrhundertelange Spanne, über die sich ihre Entstehung erstreckt, formal sehr wenig übereinstimmende Faktoren aufzuweisen haben.

Was von der „Gattung“ Kirchenlied sprechen läßt, ist eine Übereinstimmung in der Funktion, die nach C. Dahlhaus3 musikalische Gattungen bis ins 18. Jh. bestimmt, bevor andere Merkmale gattungsprägend wurden.

Darum ist es sinnvoll, angesichts dessen, daß die in heutigen Gesangbüchern befindlichen Liedern im Gottesdienst gesungen werden, von ihnen als Kirchenliedern zu sprechen, mit dem Wissen im Hintergrund darüber, daß man von deren Entstehung her kaum von einer übereinstimmenden Funktion sprechen kann, da die Unterschiede in Entstehungskontext und erster Bestimmung unterschiedlich sind: Die heute im Gesangbuch versammelten Lieder können für ein Erbauungsbuch, als nicht zum Gesang bestimmtes Gedicht, als Lied für die häusliche Erbauung, als Lied zum Zwecke der Ausbreitung des reformatorischen Gedankengutes, als Lehrmittel für die Schule oder gar wirklich für den liturgischen Gebrauch im Gottesdienst entstanden sein.

1.3.2 Frömmigkeit

Der Begriff der „Frömmigkeit“ gehört gegenwärtig nicht zum allgemeinen Sprachgebrauch, auch gibt es keine selbstverständliche Übereinkunft über seine Definiton1. In dieser Arbeit aber kommt er als ein Aspekt der Untersuchung von Passionsliedern vor als Frage nach der „Passionsfrömmigkeit“, die in ihnen Ausdruck findet.

Innerhalb der Kulturwissenschaften versteht man gegenwärtig unter „Frömmigkeit“ eine „spezifische und irreduzible Form kultureller Rezeptivität und Produktivität“, eine „in einer individuellen, doch stets in Wechselbeziehung mit sozialer und kollektiver Praxis sich ausbildende und verändernde Lebensgestalt“.2

Evangelischen Liedern sind zwei Bewegungsrichtungen zueigen: Einerseits prägen sie das christliche Leben an verschiedenen Orten der individuellen und der kollektiven Glaubenspraxis und üben so auf den Glauben und die Glaubensweise eine Wirkung aus. Andererseits erwachsen sie in ihrem Entstehungsprozeß aus der Glaubenshaltung des Dichters und können somit ein Ausdruck einer bestimmten, u.a. durch die jeweilige Gegenwart bedingten Haltung sein. Deshalb haben diese Lieder in ihrer „Rezeptivität und Produktivität“ einen wesentlichen Anteil an der Frömmigkeit ihrer Zeit.

Im gegenwärtigen Sprachgebrauch wird der Begriff der „Frömmigkeit“ uneindeutig verwendet. In der Umgangssprache sind oft Vorbehalte mit ihm verbunden, die darunter „ein überständig gewordenes Verhalten (verstehen), das sich auf lebensweltlich unerhebliche, privatistische Innerlichkeit beschränkt oder sich an bloß konventionelle Formen der Religionspraxis hält“ und religiöse Überzeugungen unter Illusionsverdacht stellt3.

In der theologischen Literatur wird der Begriff – ohne eine Entwertung – in verschiedenen Zusammenhängen verwendet, seien es kirchengeschichtliche oder exegetische, seien es praktisch-theologische, soziologische oder religionspsychologische Zusammenhänge4, hier ist festzustellen, daß kein übereinstimmendes Verständnis oder eine allgemeingültige Definition vorliegt. Die Tendenz geht allerdings auch hier dahin, die besonders durch eine etwas einseitige Rezeption von Schleiermacher in seinem Verständnis vom „frommen Selbstbewußtsein“ des Menschen geförderte Eingrenzung der Frömmigkeit auf das Innere des Menschen und die daraus erwachsene psychologische Deutung dominieren zu lassen und dem Begriff seine theologische Relevanz zu entziehen.

In dieser Arbeit soll die Frömmigkeit über die funktionale Beschreibung der Kulturwissenschaften hinaus theologisch verstanden werden als die Beschreibung des erfahrenen Verhältnisses zwischen Gott und Mensch aufgrund des rechtfertigenden Handelns Gottes am Menschen in Christus.

„Frömmigkeit“ ist in seiner theologischen Bestimmung ein ureigen evangelischer Begriff, von Martin Luther aus seinem ursprünglich profanen Zusammenhang in den christlichen übertragen. In seinem profanen Verständnis ist er von ahd „fruma“ (Vorteil, Nutzen) hergeleitet, mhd „vrum“ (nützlich, tüchtig, rechtschaffen) und so bezeichnet „vrumkeit“ eine ehrenhafte, rechtschaffene Lebensweise.

Bezeichnend für Luthers Verständnis ist seine Übersetzung des δίκαιος in Lk 23,47: „Wahrlich, dieser ist ein frommer Mensch gewesen“5.

Besonders in seiner Freiheitsschrift verwendet er bestimmte, häufig wiederkehrende Formeln synonym, die die inhaltliche Bedeutung des Begriffes „fromm“ deutlich machen: „gerecht und fromm“, „fromm und wahrhaftig“, „fromm und selig“.

Frömmigkeit erwächst nicht aus einer bestimmten Handlungsweise: Kein „eußerlich ding“ macht den Menschen „frey noch frum“6, sondern „das man von hertzen glaubt, das macht eynen gerecht und frum“7.

Nicht gute Werke sind die Quelle der Frömmigkeit, sondern wo die Seele „das wort gottis, von Christo geprediget“ hat, ist sie „frum“ und „frei“8. Das Wort bleibt nicht außerhalb der Seele, sondern schon in den Formulierungen Luthers klingt eine erste Stufe zu einer innigen Verschmelzung der Seele mit dem Geglaubten an; er kann davon sprechen, daß es für die Seele das Evangelium ist, „darynen sie lebe“9. „Das ist nimant dan der glaub des hertzen, der ist das haubt und gantzis weßens der frumkeyt“10

In der Erkenntnis Gottes als „Wahrheit und Frömmigkeit“ liegt der Ursprung der menschlichen Frömmigkeit: „wenn die seele gottis wort festiglich glaubt, ßo helt sie yhn fur warhafftig, frum und gerecht“, dann hält Gott sie auch für „frum und warhafftig durch solchen glauben“.11

Die Frömmigkeit des Menschen ist christologisch begründet. Luther sagt über Christus: „seine frumkeyt (ist) unübirwindlich, ewig und almechtig“12. Dabei ist Frömmigkeit hier eine direkte Übersetzung der Gerechtigkeit: „Eiusque iustitia, vita, salus insuperabilis, aeterna, omnipotens est“13. Der Glaube des Christenmenschen ist „sein leben, frumkeyt und seligkeyt“14. Dies beruht auf dem Kreuzesgeschehen, aufgrunddessen das Herz glaubt, „Christus frumkeit sey sein, und sein sund sein nymmer sein, sondern Christi“15. Die enge Verbindung von Kreuzesgeschehen, Glaube und Frömmigkeit schlägt sich in einem forensischen Verständnis auch der Frömmigkeit nieder, die in der häufig wiederkehrenden Formel „Frömmigkeit vor Gott“ sichtbar wird und deren Analogie zur Gerechtigkeit deutlich macht: Der Glaube allein ist die „frumkeyt fur gott“16. Christus ist der Mittler der von Gott geschenkten Frömmigkeit: Gott gibt durch Christus aus Barmherzigkeit „vollen reychtumb aller frumkeyt und selickeyt“17.

In der Freiheitsschrift findet sich häufig auch das Gegensatzpaar „fromm oder böse“, das Luther auf die Handlungsebene bezieht: Frömmigkeit findet auch nach seinem Verständnis ihren Ausdruck in guten Werken, die aber nicht die Frömmigkeit konstituieren, sondern Konsequenz aus ihr sind.18 Mit noch weiter gefaßter Bedeutung verwendet Luther „Frömmigkeit“ auch in der Weise, daß sie die gesamte Erscheinungsweise des christlichen Lebensvollzuges benennt.

Dieser Aspekt der Frömmigkeit war von Karl Barth als Ansatzpunkt für seine Ablehnung und Entwertung der Frömmigkeit als Sünde genommen worden. Darin erfaßt er aber nicht ihr ganzes Wesen, sondern nur eine Verkehrung der Frömmigkeit durch ihre Verselbständigung und Ablösung von ihrem Geber, die sie als menschliches Verhalten begreifen läßt. Diese Gefahr war schon von Martin Luther gesehen worden, der auch sagen konnte, „menschliche Frömmigkeit“ sei „eitel Gotteslästerung“19.

Für ein Verständnis von Frömmigkeit im Sinne des evangelischen Glaubens ist entscheidend, daß Frömmigkeit nicht zuerst als ein menschliches Verhalten oder seine innere Disposition zu begreifen ist, sondern daß Gottes Frömmigkeit, anders: Gottes Gerechtigkeit, am Beginn des Heilsgeschehens am Menschen steht. Christi Frömmigkeit wird dem Menschen mitgeteilt über das Geschehen am Kreuz. Sie macht den, der daran glaubt, „fromm und gerecht“. Der fromme Mensch ist der vor Gott gerechtfertigte Sünder.

Gott selber als Urgrund und Geber der Frömmigkeit wird ca. 100 Jahre nach Luther im Lied „O Gott, du frommer Gott“ von Johann Heermann benannt. Auch bei ihm wird deutlich, daß in Gottes Frömmigkeit seine Eigenschaft als „Brunnquell guter Gaben“ begründet liegt. Auch Heermann bestimmt diese „beneficia“ (Melanchthon) als „unverletzte Seel und rein Gewissen“, also in einer Umschreibung des gerechtfertigten Menschen.

 

Auf der etymologischen Grundlage der profanen Bedeutung des Begriffes „fromm“ als das, „was mir nützlich ist“ und ausgehend von der Bedeutung, die durch die Einführung in den theologischen Sprachgebrauch durch Martin Luther der „Frömmigkeit“ innewohnt, soll in dieser Arbeit der Begriff verstanden werden: Die Frömmigkeit des einzelnen Menschen besteht in dem Status, in den er durch Gottes heilsgeschichtliches Handeln versetzt worden ist. Im Kreuz Christi kommt Gottes Frömmigkeit, die in Christus personbildend war und ihm so diese Eigenschaft durch die communicatio idiomatum mitgeteilt hat, auf den Menschen, der im Glauben das Leiden und Sterben Christi pro nobis ergreift und als seine Gerechtigkeit vor Gott annimmt.

Weil diese über das Kreuzesgeschehen dem Glaubenden vermittelt wird, haben alle Äußerungsformen der Frömmigkeit ihren Anfang in der Passionsfrömmigkeit. Im Singen von Passionsliedern bekennt sich der Singende zu diesem Verhältnis von Christus und Glaubendem, in dem sein Handeln allein in der dankbaren Antwort auf das Heilsgeschehen am Kreuz besteht.

Das Singen zum Lobe Gottes als Übung der Frömmigkeit wird auch von Melanchthon in seiner Vorrede zu den Symphoniae iucundae in diesen christologischen Kontext gestellt:

„Wie also Christi Worte, Taten oder Wohltaten in Gesang zu feiern nützlich ist, so sollte in besonderer Weise die Musik mit der Geschichte seines Todes verbunden werden. Die Betrachtung über den Tod Christi sollte in der Kirche am meisten gelobt werden: es gibt nämlich nichts Nützlicheres … zum Üben der Frömmigkeit als die Betrachtung jener bewunderungswürdigen Werke. Wir erkennen nämlich in diesem Bild, daß die Barmherzigkeit Gottes unendlich gegen uns ist, dadurch, daß er seinen Sohn für uns zum Sühnopfer machen wollte.“20

Der Vorbehalt gegen die Frömmigkeit als auf das Innere des Menschen begrenzte Haltung hat in diesem Verständnis keinen Raum; der hier begründete organische Zusammenhang von Glauben und Lebensvollzug führt zur Definition von Frömmigkeit bei Karl-Heinz Ratschow als „Lebensgestalt des Glaubens aus und vor Gott“21.

2 Das 16. Jh. – Passionslieddichtung im Wirkungsfeld Martin Luthers
2.1 Grundlegung
2.1.1 Die Passionsauffassung Luthers
2.1.1.1 „Eyn Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi“ von 15191
Darstellung des Sermons

Zunächst grenzt sich Luther ab von einer Art und Weise, das Kreuz zu betrachten, die er für nicht fruchtbar hält: nach dem Schuldigen am Tod Jesu zu suchen oder es als magisches Instrument zur Abwehr von Gefahren zu benutzen oder den Wert des eigenen Betrachtens an seiner Zeitdauer oder an dem Grad der Ausgestaltung der einzelnen Episoden aus dem Bericht der Evangelien und der Tradition zu messen.

Als grundlegende Voraussetzung für eine fruchtbare Betrachtung der Passion gilt ihm das Inbeziehungsetzen des Geschehens am Kreuz durch den Betrachter auf sich selber, i.e. das Wissen, daß dieses um des Betrachters willen geschehen ist. Es hat keinen Nutzen, Gott für Gott zu halten, wenn „er dier nit eyn got ist“1.

Am Beginn der Betrachtung steht das Erschrecken vor dem Leiden Christi. Der Betrachter erkennt sich selber als den, der dieses Leiden durch seine Sünde verursacht hat. Die Schwere des Leidens, das Gott dem geliebten Sohn abverlangt, und die Tatsache, daß es diese „große unmesliche Person“, die „ewige weyßheyt des vatters“2 ist, die selbst das Leiden erträgt, ist Hinweis auf den Ernst der Situation des Sünders vor Gott. Das Erschrecken wird auch durch das Wissen um die viel größere Strafe, die ihn selber in dieser Situation aufgrund seiner Sünde erwarten würde, genährt. Das erste Teilziel der Betrachtung ist erreicht, wenn „der mensch zu seyns selb erkentniß kumme und fur yhm selbs erschrecke und zurschlagenn werde“3. Hier liegt der „nutz“ der Betrachtung: Indem der Betrachter im Gewissen gemartert wird wie Jesus an Leib und Seele, erfährt er dessen Leiden an sich selber und wird ihm darin gleichförmig.

Das Bedenken von Gottes Leiden wandelt den Menschen „weßenlich“, i.e. in seinem Wesen, in seiner existentiellen Beschaffenheit. Es bewirkt den Tod des alten Adam, den Verlust der Zuversicht auf selbst geschaffene und als Heilmittel eigenen Verdienstes ersonnene Wege. Der Mensch erlebt wie Christus am Kreuz das Verlassensein von allem, auch von Gott. Das Werk des Leidens Christi erfüllt sich in dieser Erfahrung: die Wandlung, die es bewirkt, kommt der Neugeburt durch die Taufe nahe4.

Hat die Betrachtung des Leidens Christi diesen Nutzen von Selbsterkennntis und Gleichförmig-Werden erfüllt, soll der Mensch die Sünde nicht in seinem Gewissen lassen. Sie würde im Herzen nur „fressen und beißen“ oder den Menschen dazu bringen, Zuversicht aus falschen Mitteln zu gewinnen zu suchen; aus guten Werken, Genugtuungswerken und Ablaß. Sie würde also wieder zu auf eigenem Handeln beruhenden Werken führen, mit denen er sich von ihr befreien wollte. Sie wären stärker als der Mensch und würden „leben ewiglich“.

Der Mensch soll sie aber auf Christus schütten, von dem her ihre Erkenntnis auch gekommen ist. Dies soll geschehen im Vertrauen darauf, daß Christus sie mit seinen Wunden und Leiden trägt und bezahlt. Wenn sie auf ihn geworfen sind, soll sich der Betrachter darauf verlassen, daß sie nun überwunden und tot sind.

Luther führt an dieser Stelle den Begriff der iustitia ein: Nachdem aus dem Leiden Christi die Sündenerkenntnis kam, bewirkt seine Auferstehung unsere Gerechtigkeit.

Luther sieht hier nun die Möglichkeit, daß der Glaube des Betrachters nicht zur Gewißheit ausreicht, daß die Sünde nun überwunden ist. Für diesen Fall rät er zu einer Möglichkeit, sich zu diesem Vertrauen zu „reizen“. Der Mensch soll nicht mehr auf das Leiden sehen, das ja sein Werk nun getan hat, ihn zu erschrecken. Sondern er soll „durch yhn dringen und ansehen seyn fruntlich hertz“5, das voller Liebe gegen ihn ist, aus der heraus er die Sünde auf sich genommen hat. Diese Erkenntnis bewirkt, daß das Herz des Betrachters Jesus gegenüber „süß“ wird. Indem der Betrachter aber nun weitersteigt zu Gottes Herz, erkennt er die Quelle der Liebe Christi: die ewige Liebe Gottes, die den Sohn aus Gehorsam zu seinem Liebeserweis gebracht hat.

Am Ende des Erkenntnisvorganges steht nun die Gotteserkenntnis. Hier tut der Mensch recht daran, wenn er Gott nicht bei seinen Eigenschaften der Gewalt oder Weisheit ergreift, sondern bei seiner Güte und Liebe.

Diesen Erkenntnisvorgang bringt Luther mit der johanneischen Formel „durch Christus zum Vater gezogen“ in Verbindung: Auch dieses Erkennen ist von Gott gewirkt.

An dieser wie an anderen Stellen des Sermons betont Luther die Alleinwirksamkeit Gottes in der Betrachtung des Leidens Christi. Das rechte Betrachten will erbeten sein und ist Gabe Gottes: das Fruchtbar-werden des Betrachtens, die conformatio, der Glaube, der mit „ganzem Wag“ die Sünde auf Christus schüttet. Es besteht auch die Möglichkeit, daß wir nicht erkennen, wenn Gott so an uns handelt. Auch dieses Nicht-Erkennen unterstreicht wiederum das autonome Handeln Gottes in dem Geschehen.

In seinem letzten Gliederungspunkt geht Luther auf die Folgen der Betrachtung des Leidens Christi ein: Das Betrachten selber ist ein mehrfacher Erkenntnisvorgang: Die Selbsterkenntnis und Sündenerkenntnis, das Erkennen der Liebe Christi und des Vaters.

Aus diesem Erkennen folgt, daß nun das Leiden Christi zum Exempel für das ganze Leben wird.

Hier deutet er den Betrachtungsvorgang nach der augustinischen Unterscheidung von sacramentum und exemplum. Die durch das rechte Betrachten des Kreuzes sich vollziehende Neugeburt des Menschen ist von Gott gewirkt, das Leiden ist also „sacramentum“, „das in uns wirkt und wir leiden“. Darauf folgt nun die Bedeutung des Leidens als „exemplum“, „das wir wirken“:

Den Anfechtungen des Lebens wie Leiden, Unterworfenheit unter fremden Willen, Anfechtung durch Hoffart, Rachsucht oder Trübsal, können wir begegnen, indem wir uns vor Augen halten, daß unsere Anfechtungen im Vergleich zu denen, denen Christus standgehalten hat, gering sind, oder wir können aus dem Verhalten Christi für das eigene Verhalten lernen und ihn nachahmen.

Auf diese Weise können wir „Christi Leben in das eigene Leben ziehen“. Implizit wird eine Veränderung im Verständnis des „exemplum“ deutlich: Diese imitatio des Handelns Christi ist nicht selbstgezeugt, sondern sie entspringt der Wandlung, die durch die Erkenntnis der Liebe Gottes sich in uns vollzogen hat: Aus der erkannten Liebe Gottes heraus, die unsere Liebe zu Gott weckt, werden wir zu Sündenfeinden. So ist das Leiden Christi uns zum Exempel geworden. Unser Handeln in seiner Nachfolge ist aber kein Tun aus eigener Kraft, sondern es ist von Gott selbst hervorgerufen.

Die Hauptlinien der Argumentation Luthers

cognitio sui

Die Bewegungsrichtung auf ein Ziel gerichtet, die cognitio sui. Ihr Wert und Sinn ist die Selbsterkenntnis.

Die Betrachtung dient dazu, am Gegenüber sich selbst zu erkennen. Die eigene Sünde vor Gott erkennen, die eigene Verlorenheit ist erkennbar an dem Ausmaß des Zornes Gottes, der sich hier zeigt. Es wird offenbar zum Einen an der Schwere des Leidens Christi. Zum anderen an der Tatsache, daß der geliebte Sohn dies tragen muß. Der Gedanke folgt dem Prinzip der Überhöhung: Wenn schon der geliebte Sohn und dazu noch einer, der ohne Sünde ist, solche Strafe zugemessen bekommt, wieviel mehr müßte ich vor Gott schuldiger Mensch an Strafe entgegennehmen. Das Schicksal Christi dient also als Sündenspiegel.

Dabei geht es, wenn man der Argumentation Luthers folgt, nicht um ein neu erworbenes Wissen „Ich bin ein Sünder“, sondern darum, daß den Betrachter die Erkenntnis trifft, daß „Ich“ es bin, um den es hier geht; der Betrachter stellt einen Bezug zwischen sich und dem betrachteten Geschehen her. Er sieht sich selbst in den Vorgang hineingenommen.

Darin entspricht dieses Erkennen dem vorausgegangenen Wort „… was hilfft dichs, das gott got ist, wan er dier nit eyn got ist?“ Was hilft es dir, dich als Sünder zu wissen, wenn du die Sünde nicht auf dein Gottesverhältnis beziehst?

Cognitio sui bedeutet also strenggenommen: Das Ich erkennt sich in seinem Verhältnis zu Gott und zu dem Leiden Christi. Die Beschaffenheit des Gottesverhältnisses wird am Leiden offenbar. Es handelt sich also um keine absolute Selbsterkenntnis, sondern eine relative. Sie bedeutet den Beginn einer Begegnung mit dem Gekreuzigten.