Die Passion Jesu im Kirchenlied

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2.3.3.2 Zur liturgischen Herkunft und ihrer Bedeutung

Was bedeutet für das Verständnis des Liedes „Christus, der uns seligmacht“ die eingangs genannte enge Verwobenheit des zugrundeliegenden Hymnus mit den Tagzeiten, die er einerseits abbildet und deren Teil er andererseits war?

Der liturgische Ort des Hymnus „patris sapientia“ ist – wie die Gattung des Hymnus überhaupt – das monastische Stundengebet. In den verschiedenen Horen war dem Hymnus jeweils ein fester Ort gegeben1.

Der Hymnus „patris sapientia“ hat Gestalt und Inhalt aus der inhaltlichen Bestimmung der Tagzeitengebete empfangen: Jeweils eine Strophe gibt den Inhalt je eines Gebetes wieder; er stellt damit jeweils eine Situation aus der Erzählung vom Leiden und Sterben Christi dar. In der Praxis der Stundengebete war der Hymnus mit je einer Strophe auf die Horen aufgeteilt.

Auf eine Tradition des stetigen Gebetes findet man schon einige biblische Hinweise (Ps 119, 55.62; 1 Thess 5,17) und einen Hinweis auf eine Tageseinteilung nach Gebetszeiten: „Ich lobe dich des Tages siebenmal“ (Ps 119, 164). In der jüdischen und der frühen christlichen Tradition gab es regelmäßige, über den Tag verteilte Gebetszeiten. Inhaltlich hat man diese bald mit bestimmten Elementen der Heilsgeschichte verbunden. In den constitutiones apostolorum ist bezeugt, daß die Hauptmomente der Passion Christi auf die Tagzeiten bezogen wurden (constt. Apost. 7,34).

Hier wurde noch der Morgen mit Ostern verbunden; in der monastischen Tradition entwickelte es sich im Mittelalter dahin, daß man das Passionsgedenken in der Matutin mit der Verhaftung Jesu eröffnete und in der Komplet mit der Grablegung Jesu beschloß.

Dazu gab es einen verbreiteten und in vielfachen Varianten bezeugten Merkvers:

„Haec sunt septenis, propter quae psallimus horis;

matutina ligat Christum, qui crimina purgat,

prima replet sputis, causam dat tertia mortis,

sexta cruci nectit, latus eius nona bipertit,

vespera deponit, tumolo completa reponit.“2

Der Vers offenbart ein Verständnis der Horen als participatio conscia, die im „subjektiv-emotionalen Mitgehen“3 mit der Passion Jesu über den Tag hinweg besteht.

Dieses Mitgehen wurde in einem Traktat, dem „Büchlein über die Betrachtung der Passion Christi über die sieben Horen des Tages hin“ aus dem 12. Jh. intensiv geübt: „Es ist nämlich notwendig, daß du irgendwann einmal so in deiner Betrachtung gesinnt bist, als seiest du zu der Zeit anwesend, als er die Passion erlitt. Und du sollst dich im Mitleiden so verhalten, als hättest du deinen leidenden Herrn vor deinen Augen, und so wird der Herr selbst gegenwärtig sein und dein Gebet annehmen“4. Indem der Betende seinen Tagesablauf nach dem des letzten Tages Jesu gestaltet und ihn innerlich meditiert, geschieht eine innige Verschränkung des eigenen Lebens mit dem des sterbenden Jesus.

Dieses Verständnis läßt sich auch „patris sapientia“ zuschreiben. Indem der Singende Schritt für Schritt die Stationen des Leidens Jesu abschreitet, verinnerlicht er es, spürt dem emotionalen Gehalt des Ereignisses nach: Trauer um das Sterben Jesu, Mitleiden mit ihm, Staunen über sein Handeln angesichts der Gewißheit, daß dies um des Heils der Menschen geschehen ist.

Durch das Singen des Hymnus, durch das Entlangschreiten am Geschick Jesu geschieht also ein affektives Ergreifen des Ereignisses.

In dieser Betrachtung steckt eine Verheißung: „Wenn wir so in Geduld an dem Leiden Christi Anteil haben, dann dürfen wir auch mit ihm sein Reich erben.“5 Wie auch im Hymnus Patris sapientia und im Lied Weisses ist demnach im Verständnis der Tagzeiten diese Hoffnung enthalten, daß auf dem Wege der Betrachtung von Jesu Passion die Teilhabe am durch sein Leiden erlangten Heilsgut zu erwarten ist.

Aber dem Stundengebet wohnt noch eine tiefere Bedeutung inne, die sich im Hymnus spiegelt: In den Horen ist nicht nur das Leiden Jesu, sondern darin das göttliche Heilswerk am Menschen repräsentiert, in dieser Vergegenwärtigung tritt der eschatologische Horizont des Stundengebetes vor Augen.6

Im Beten der Horen bildet sich die vollkommene Schöpfung Gottes ab. Das gilt für den Blick auf die Gesamtheit des Vollzuges: Im Ablauf eines Jahres wird die Schrift in ihrer Gesamtheit durchgelesen, im Ablauf einer Woche die Psalmen als Ganzes. Die Psalmen als Hauptbestandteil der Horen können – ebenso wie der Nachvollzug der Passion – als Hinweis auf die sich vollendende Schöpfung Gottes verstanden werden.7

Indem man das Stundengebet, eingebunden in den eigenen Lebensweg, vollzieht, wird man Teil in der darin sich verwirklichenden Heilsordnung Gottes.

Das Singen des ins Deutsche übertragenen Hymnus „patris sapientia“ setzt also gegenwärtig, was dem Stundengebet als solchem innewohnt: In der Gebetsordnung wird der Betende auf das Leiden Christi und das sich darin mit Christus als Herrscher vollziehende Heil am Menschen verwiesen. Im Singen wird also präsent, daß sich in der Passion Christi Gottes Schöpfung am Menschen vollendet hat. Der enge Bezug von Passion Christi und göttlicher Schöpfungsordnung wird sichtbar: Sie sind beide Teil der Heilsgeschichte; Passion und Schöpferlob begründen einander.

Eine weitere Bedeutung schwingt demzufolge in dem Lied „Christus, der uns selig macht“ mit: Indem es aus dem sich immer wiederholenden, ewig wiederkehrenden Gebetszirkel hervorgegangen ist, ist es der linear ablaufenden Zeit enthoben und zum Abbild der Ewigkeit Gottes geworden. Die Dimension des in der Geschichte geschehen Heils wird hier verbunden mit dem ewigen Ratschluß Gottes zum Heil der Menschen. Im Singen gewinnt der Mensch Anteil an der Ewigkeit Gottes.

Durch seine Herkunft aus der Tradition des Stundengebetes trägt das Lied „Christus, der uns seligmacht“ also eine vielfache Bedeutung.

Es erzählt nicht allein die Geschichte des sterbenden Jesus, dessen Weg der Singende affektiv nachempfindend abschreitet. Es gewährt Teilhabe an der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen, der in der Passion an ihm zu seinem Heil gehandelt hat und im Nachvollzug durch den gegenwärtig betenden Menschen auch ihm dieses Heil zueignet. Und es läßt ihn proleptisch an der Ewigkeit Gottes teilhaben, indem er sich einreiht in den ewigen Vollzug des Lobens Gottes, der durch sein geschichtliches Handeln am Menschen ihn zum Teil seiner ewigen Gottheit macht.

Von großer theologischer Bedeutung erscheint es, daß durch das Bedenken der Passion im Stundengebet das Gedächtnis des Leidens Jesu nicht auf eine bestimmte Zeit im Kirchenjahr konzentriert wurde, sondern daß es dem täglichen Gebet zugeordnet war. Dadurch wird ihr Ort im Zentrum des christlichen Lebensvollzuges sichtbar: Das Leiden Christi für den Menschen hat ihm die Zugehörigkeit zum ewigen Heil Gottes erworben.

Es ist ein Verdienst Weisses, daß er die spätmittelalterliche Passionsmeditiation in Form dieses Liedes in einen erneuerten Glauben hinübergezogen hat und so auch die Bedeutsamkeit der Passion Jesu für die christliche Frömmigkeit und ihre zentrale Bedeutung in der christlichen Theologie herausgestellt hat. Diese über eine Kirchenjahreszeit hinausweisende Stellung des Nachdenkens über die Passion kann Vorbild sein für den Umgang mit der Passion auch in der Gegenwart.

Michael Weisse hat dem Lied „Christus, der uns selig macht“ seine eigene, neue Gestalt gegeben, hat ihm aber dennoch in Form und Inhalt die Nähe zu seiner Herkunft nicht genommen. So kann die Tradition in diesem Lied weiterwirken. Auch wenn die Böhmischen Brüder keine monastische Lebensform pflegten, konnte auf diese Weise der Gedanke des Bedenkens der Passion über den Tag hinweg auch in ihre Frömmigkeit einwandern.

Das Lied konnte bei seiner Veröffentlichung durch Weisse anknüpfen an seine Zugehörigkeit zur Laienfrömmigkeit: der Hymnus war auch schon als Teil des Stundenbuches, also schon vor der Verdeutschung Weisses, in die Frömmigkeit des Volkes, d.h. der gebildeten Laien, eingegangen. Es mußte sich daher vermutlich sich nicht erst seinen Platz im Kanon gesungener Lieder erkämpfen, sondern konnte an die Stelle eines schon bekannten Gesanges treten.

2.3.4 Ergebnis
Das Abschreiten des Passionsweges

Das Lied ermöglicht dem, der es singt, dem Leidensweg Christi Schritt für Schritt nachzugehen. Indem er sich vor Augen führt, was dieser alles ertragen hat, kann er ins Staunen geraten darüber, daß dies alles, wie von Weisse mehrfach betont, um seinetwillen geschehen sein soll. Das „subjektiv-emotionale Mitgehen“ mit der Passion Jesu erhält die Möglichkeit, sich zu entfalten. Es ermöglicht dem Meditierenden, anhand der Schwere des Leidens Christi seine große Liebe zum Menschen zu begreifen. Damit kann dieses Lied einen Sinn haben, wie ihn Luther in seinem Sermon beschrieben hat: Anhand der Betrachtung des Leidenden zur Erkenntnis der Liebe Gottes zu gelangen.

Durch inneren Gehalt und musikalische Gestalt ist dem Mitgehen mit dem Leidenden eine Fassung gegeben, die von Ruhe und Gewißheit getragen ist. Sie kann bedeuten, daß man durch das Mitleiden nicht in haltlosen Schmerz ausbricht – auch dieses beschreibt Luther zu Beginn seines Sermons als fehlgeleiteten Umgang mit der Passion. Sondern das Mitgehen mündet in eine Bitte um Anteilhabe an den Tugenden Christi. Diese ist in der Gewißheit ausgesprochen, daß eben darum das Passionsgeschehen sich ereignet hat: Dankopfer sind die Antwort auf das Handeln Christi am Kreuz.

Die Form, in der das Mitgehen erfolgt, ermöglicht ein in die Zeit ausgedehntes Nachdenken über die Passion. Anders als im Sermon Luthers ist hier ein Erkenntnisweg nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich beschritten. Das kommt der Tiefe des zu erkennenden Inhaltes entgegen: Menschliche Erkenntnis muß reifen und bekommt im Singen des Liedes einen Raum dazu.

 

Mit diesem Weg sind vorreformatorische Frömmigkeitspraxis und reformatorische Erkenntnis eine fruchtbare Symbiose eingegangen.

Die Gewißheit über das Herrschen Christi auch im Leiden

Durch Form und Inhalt wird dem Singenden eine dialektische Verbindung offenbar: Das wirkliche Leiden Christi am Kreuz als wehrloses Ausgeliefertsein an menschliches Handeln bedeutet wahrhaftes Herrschen Gottes in der Situation der Ohnmacht.

Dies wird in der ordnungshaft strukturierten und schreitenden Musik deutlich, ebenso wie die in den Worten deutliche Geordnetheit des Geschehens. Das Ziel, die Seligkeit des singenden Menschen, ist dem Lied vorangestellt, so daß auch während des Bedenkens der Leiden Christi für den Meditierenden kein Zweifel an der Richtung des Geschehens bestehen kann. Am Ende ist dies wiederaufgenommen und explizit gemacht: Nicht das Nachahmen des Leidens Christi ist Aufgabe des Menschen, sondern die Zueignung der Tugend Christi, die sich hier erwiesen hat. Nicht Mitleiden, sondern Dank ist es, was der Mensch Christus entgegenbringen kann.

Es sind somit in dem Lied nicht nur spätmittelalterliche compassio und reformatorische Erkenntnis miteinander verschmolzen, sondern auch das altkirchliche Christusbild vom „christus victor“. Am Ende des Mitgehens und der Erkenntnis dessen, daß er in seiner Passion immer noch Gott ist, steht der Zugang, der den Menschen durch das Geschehen eröffnet ist: Anteilgabe an der Tugend, d.h. dem Anerkanntsein vor Gott durch Christi Handeln und Dank.

Das theologische Konzept

Es scheint, daß Michael Weisse, als er den Hymnus dem deutschsprachigen Gesang zugänglich machte, zuvörderst das Anliegen hatte, ihn mit seinem Gehalt weiterzutragen, d.h. mit der darin gegebenen Möglichkeit, im Abschreiten der Passion sich dem Leiden Christi zu nähern und darin zu erkennen, daß hier der Weg in ein Gottesverhältnis liegt, das durch den Gehorsam gegenüber Christus und die Zueignung der durch ihn erworbenen Rettung bestimmt ist.

Darin sind Aspekte einer Christologie erkennbar, die die Gottessohnschaft Christi voraussetzt, ihn als Messias begreift, die sein stellvertretendes Leiden für uns benennt. Aufgrunddessen versteht er die Passion als Handeln Gottes am Menschen, in dem Christus in seiner Ohnmacht dennoch im Leiden Herrscher bleibt.

Eine Sündenlehre entfaltet Weisse nicht, aber er spricht unter umgekehrtem Vorzeichen von der Sünde, indem er in seinen Einschüben die Schuldlosigkeit Christi betont, ihn in seinem Gehorsam als Vorbild in der Tugend versteht. Am Ende steht die Bitte an Christus, den Singenden zu befähigen, mit dem Tod Christi auch die „Ursach“ seines Todes, d.h. die eigene Sünde, fruchtbar zu bedenken.

Weisse thematisiert also die Sünde, aber er tut es aus der Perspektive heraus, daß Christus durch sein Leiden die Menschen aus ihrer Schuldverhaftetheit befreit hat.

Darum ist der Dank die Haltung, mit der er dem Geschehen um das Leiden und Sterben Jesu Christi begegnet. Darum ist auch dem Mitleiden zwar Raum gegeben, aber es ist doch umfangen von der Gewißheit dessen, daß sich hier Gottes Heilsordnung verwirklicht hat.

In diesem theologischen Konzept ist in Grundlinien die in Luthers Sermon anempfohlene Haltung gegenüber der Passion wiederzuerkennen:

Die Grundhaltung des Dankens gegenüber dem Leiden Christi, der Weg über die Betrachtung, wenn sie auch hier noch in ihrer zeitlichen Entfaltung geschieht und nicht nur auf den Anblick des Gekreuzigten konzentriert ist, die Konsequenz von Gehorsam und Nachfolge.

Diese allerdings ist bei Luther anders begründet: dort ist es die Gottesliebe, die geweckt wird durch die Betrachtung des Leidenden und die Erkenntnis seiner Liebe als Bild der Liebe Gottes zum Menschen. Der Weg zum Gehorsam beruht also nach Luther deutlicher allein auf dem Wirken Gottes am Menschen.

Allerdings kann man in der Bitte um fruchtbares Bedenken des Todes Christi und seiner Ursache die seelsorgliche Anrede des Lesenden im Sermon wiederfinden, in der er das innere Erleben seines Lesers aufnimmt, der die Erfahrung macht, daß sein Betrachten keine Frucht zu bringen scheint. Luther fordert seinen Leser auf, in diesem Falle nicht davon abzulassen, Christus zu bitten, ihm das fruchtbare Bedenken der Passion zu gewähren. So ist hier wie dort deutlich, daß es Christus ist, der im Bedenken am Betrachter handelt, der die Zueignung der im Leiden erworbenen Gottesgemeinschaft wirkt. So ist auch bei Weisse das wesentliche gegeben: Im rechten Bedenken der Passion wird eine Beziehung gestiftet zwischen Gott und dem Menschen, in der dieser in Willenseinheit mit Gott leben und ihm in Dankbarkeit zugetan sein kann.

Zueignung im Singen

Die Idee des Liedes kann man, wie oben geschehen, so beschreiben, daß im Abschreiten der Passion ein Zugang zu ihr und darin in eine geheilte Gottesbeziehung geschaffen wird, auf der emotionalen Ebene wie auf der Ebene der Erkenntnis.

Dieser Weg kann umso intensiver erfahren werden, als es sich um ein Lied handelt. Der Weg wird also singend abgeschritten. Im Singen wird die allein schon in der Dichtung in die Zeit hinein ausgedehnte Betrachtung wiederum in einen zeitlichen Ablauf eingebettet, der ein gemessenes Abschreiten erfordert und geschehen läßt. Indem der Mensch Strophe für Strophe singt, bildet sich vor seinem inneren Auge das Passionsgeschehen ab. Indem er selber die Ereignisse formuliert, erfährt er sie intensiver als wenn er sie nur mit den Augen läse, ohne sie hörbar erklingen zu lassen. Indem er sie zum Klingen bringt, wird dem Singenden zu jedem Zeitpunkt nur je ein Anblick zu Bewußtsein gebracht, anders als es bei einem flüchtigen Lesen passieren könnte, das Bilder auch zeitgleich nebeneinander erstehen lassen kann.

So wird im Singen das Abschreiten des Leidensweges Christi noch weiter intensiviert und es geschieht in gemessener Ruhe.

In diesem intensiven Nacherleben der Passion liegt in diesem Lied der Schlüssel zu ihrer Bedeutung für den Menschen: Indem er mit Christus den Weg geht, kommt er ihm nahe und kann an seinem Leiden Anteil nehmen und so auch sich das „für uns“ zusprechen lassen.

Es ist so ein Verstehen von innen heraus möglich.

Das Mitgehen des Singenden führt ihn in die Dankbarkeit. Er kann für das Geschehen danken, das um seinetwillen geschah, und darüber hinaus auch für die gewährte Gottesgemeinschaft, die sich hier ausdrückt in der Gewißheit, daß der Mensch, indem er die Bitte darum an Christus richtet, durch sein von Christus gewährtes „Untertan“-Sein in die Gehorsams- und Willensgemeinschaft von Gott Vater und Gott Sohn eingebunden ist. Die Willenseinheit des Sohnes mit dem Vater ist Ausdruck von deren Gemeinschaft; die Gemeinschaft mit Christus ist auch dem Singenden geschenkt.

So mündet das Singen von der Passion Christi in eine Haltung der Hoffnung, die auf der Möglichkeit eines Lebens in Gemeinschaft mit Christus ruht.

2.4 O wir armen Sünder

HERMANN BONNUS 1560/ 1542

1. O wir armen Sünder unser Missethat/1

Darin wir empfangen und geboren sind/

Hat gebracht uns alle in solche grosse Noth/

Daß wir unterworffen sind dem ewgen Tod/

Kyrie eleison / Christe eleison / Kyrie eleison.

2. Aus dem Todt wir konten / Durch unser eigen Werck/

Nimmer werdn errettet / Die Sünde war zu starck/

Daß wir würdn erlöset / So konts nicht anders seyn/

Denn Gottes Sohn must leiden Des Todes bittre Pein/

Kyrie eleison / Christe eleison / Kyrie eleison.

3. So nicht wär gekommen / Christus in die Welt/

Und an sich genommen / Unser arm Gestalt/

Und für unser Sünde / Gestorben williglich/

So hätten wir müssen / Verdammt seyn ewiglich/

Kyrie eleison / Christe eleison / Kyrie eleison.

4. Solche große Gnad Und väterliche Gunst/

Hat uns Gott erzeiget / Lauter gar umbsonst/

Jn Christo, seinem Sohne / Der sich gegeben hat/

Jn den Todt des Creutzes / Zu unser Seligkeit/

Kyrie eleison / Christe eleison / Kyrie eleison.

5. Deß sollen wir uns trösten / Gegen Sünd und Todt/

Und ja nicht verzagen Für der Höllen Glut/

Denn wir sind errettet aus aller Fährligkeit/

Durch Christum unsern Herren / Gebenedeyt in Ewigkeit/

Kyrie eleison / Christe eleison / Kyrie eleison.

6. Darumb wolln wir loben / Und danckn allezeit/

Dem Vater und Sohne / Und dem Heiligen Geist/

Und bitten / daß er wolle Behüten uns für Gfahr/

Und daß wir stets bleiben / Bey seinem heilgen Wort/

Kyrie eleison / Christe eleison / Kyrie eleison.

7. Ehre sei dir Christe, der du littest Not,

an dem Stamm des Kreuzes für uns bittern Tod,

herrschest mit dem Vater in der Ewigkeit:

hilf uns armen Sündern zu der Seligkeit.

Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison.

Zur Strophe 7: Bis in Gesangbücher des 19. Jh. hinein ist das Lied ohne die siebente Strophe abgedruckt worden2. Erst im EKG wurde ihm die Strophe, aus der die Strophenreihe von Hermann Bonnus mittelbar hervorgegangen ist, angefügt.

2.4.1 Einführung

Das im EG unter dem Titel „Ehre sei dir, Christe“ vorfindliche Lied ist eine verkürzte und in der Reihenfolge der Strophen umgestellte Version des Liedes „O wir armen Sünder“, das Hermann Bonnus, ausgehend von der schon vorher existierenden Einzelstrophe „Ehre sei dir, Christe“, gedichtet hat. Im EKG war es noch vollständig abgedruckt; erst für das EG ist es in der jetzt vorliegenden Weise bearbeitet worden. Es soll in der ungekürzten Fassung von 1542 untersucht werden.

Der Dichter Hermann Bonnus

Hermann Bonnus, geboren 1504 in Quakenbrück, dessen Vater dort Ratsherr war, lebte bis 1548 und starb in Lübeck.1 Unlatinisiert lautet sein Name Hermann von Bunnen, nach dem Ort Bunnen bei Löningen, dem Herkunftsort des Vaters. Nach einer humanistischen Schulausbildung studierte er von 1523 bis 1525 in Wittenberg und war 1525–27 Lehrer in Greifswald. Weil Herzog Georg von Pommern gegen den evangelischen Glauben eingestellt war, ging er nach Stralsund, war 1528 Prinzenerzieher in Kopenhagen und Gottorf, das zu dem Zeitpunkt dänisch war.

Als Lehrer an der Stadtschule in Treptow an der Rega lernte er Johannes Bugenhagen kennen. Als 1531 in Lübeck die Reformation eingeführt wurde und Bugenhagen eine Kirchenordnung für Lübeck ausgearbeitet hatte, wurde Bonnus erster Rektor der neu gegründeten Lateinschule, des Katharineum, das nach den Räumen des Franziskanerklosters St. Katharinen benannt war, in dem sie angesiedelt worden war.

Als Superattendent in Lübeck führte er die Zusammenarbeit der geistlichen Ministerien von Lübeck, Hamburg und Lüneburg ein (Ministerium Tripolitanum), was zu der Entwicklung des lutherisch-konfessionellen Kirchenwesens in den norddeutschen Städten beitrug.

1543 berief ihn Graf Franz von Waldeck (Bischof von Osnabrück und Münster, Administrator des Bistums Minden) nach Osnabrück zur Ausarbeitung einer Kirchenordnung, um in Stadt und Land (Hochstift Osnabrück, Ämter Cloppenburg und Vechta, auch Grafschaft Delmenhorst) die Reformation einzuführen. Bis 1613 ist die Region schließlich evangelisch geblieben.

Bonnus hat ein lateinisch-niederdeutsche Grammatik verfaßt, eine Übertragung der Bibelübersetzung ins Niederdeutsche (32/33) und einen Katechismus, außerdem hielt er exegetische Vorlesungen. Er bearbeitete das Rostocker Gesangbuch, das ab 1545 zum Gesangbuch der Lübecker Kirche wurde. Hier taucht auch sein niederdeutsches Lied „Och wy armen sünder“ auf.2