Magdalene und die Saaleweiber

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Den Kleinen auf dem Arm, ging Magdalene durchs Haus. »Else«, rief sie laut.

»Wir können Else nicht finden«, plapperte Hans mit heller Stimme.

»Ja«, antwortete sie. »Weg ist sie.« Ein glücklicher Gedanke spiegelte Magdalene einen Moment lang vor, die Altmagd hätte sich in Luft aufgelöst.

»Hat Else sich versteckt?«, fragte er. Mit großen Augen sah er zu, wie seine Mutter nickte. Magdalene öffnete nacheinander die Türen im Obergeschoss. »Else hat keine Lust zum Arbeiten«, sagte sie.

»Ist faul«, rief Hans und stieß die kleinen Fäuste in die Luft.

»Else«, rief Magdalene.

Keine Antwort.

Im Erkerzimmer blieb sie am Fenster stehen. Es war weit geöffnet, Septemberwind strich herein. Sie sah hinaus, Hans auf dem Arm.

»Da ist Else!«, rief der Kleine und zeigte mit seinem Ärmchen in das Gewimmel vorm Haus. Else kam die Straße herab, besser gesagt, sie schritt. Sie bewegte sich gemessen, mit gereckter Brust und gehobenem Kinn. Die Leute drehten sich nach ihr um, weil sie von einem jungen Mann begleitet wurde, der sich einen halben Schritt hinter ihr hielt, mehrmals nickte, neben die Altmagd trat und ihr eine grazile Verbeugung samt Handkuss verehrte. Magdalene konnte ihren Mund vor Überraschung nicht schließen.

Der Mann war gut zu sehen, er stand mitten im Sonnenlicht. Er war mager wie ein alter Hund und überragte Else um eine Kopflänge. Sein Gesicht war glatt, mit großen, vorstehenden grauen Augen und vollen Lippen. Er lächelte warm und sah Else ins Gesicht. Gekleidet war er in modisches Wollzeug von dunkelgrüner Farbe, und das waren nicht die Kleider eines Mannes, der selbst arbeiten musste. Das Einzige, was ihn wie einen Simpel wirken ließ, war sein Haarschnitt, ein einziges Gewirr aus schiefen und krummen Fransen. Die Haarfarbe kam nahe an ihre eigene, ein kräftiges Kastanienbraun. Magdalene konnte sich nicht helfen, der Mann kam ihr auf eine gewisse Weise bekannt vor. Im Moment fiel ihr nicht ein, wo sie ihn schon einmal gesehen haben konnte. Es war, als ob die Erkenntnis in einem Winkel hinter ihrer Stirn hockte und jeden Moment daraus hervorspringen wollte, aber sie sprang nicht. Der Mann drehte sich um, als Else ins Haus ging, und stiefelte mit langen Schritten davon.

Das Geschehen war Magdalene unbegreiflich. Sie beschloss abzuwarten. Else kam ungestört herein, wandte sich zur Treppe und ging mit stolzem Blick an ihrer Herrin vorbei, als ob sie sie nicht gesehen hätte. Sie tappte die nächste Treppe hinauf, die Tür ihrer Kammer krachte. Stille kehrte ein. Magdalene wartete, dass Else zur Arbeit zurückkehrte, aber die Altmagd blieb verschwunden. Deshalb rückte Magdalene das Kind auf ihrem Arm zurecht und ging Else nach. Sie drückte die Klinke der Mägdekammertür ohne zu klopfen herunter.

Else stand reglos mitten in ihrer Kammer, die Küchenschürze hatte sie schon umgebunden. Sie ließ die Aufträge wie Hagelkörner über sich niedergehen, den Blick an ihrer Herrin vorbei in den Treppenaufgang gerichtet, und sagte keinen Ton. Statt ihrer krähte fröhlich Hänschen von seinem bequemen Sitz in Magdalenes Arm herab: »Else kann nicht faul sein, muss arbeiten!« Prompt färbte sich Elses Gesicht rot wie eine Kirsche.

Am Abend war Magdalene müde vom Heben und Tragen, Klopfen und Walken. Sie streckte ihren Rücken und ließ sich zum Essen auf die Küchenbank fallen. Die Sonne versank hinter den Dächern und schenkte der Stadt ein leuchtend orangerotes Dämmerlicht.

Georg Rehnikel kam an den Tisch und setzte sich, ohne seine Frau eines Blickes zu würdigen. Am Nachmittag hatte Magdalene Isabeaus Wahrheitsmilch gemischt, ein Löffel davon schwamm in Georgs Bier. Er schnitt sich ein Brot, nahm ein Stück vom Käse und biss ab. Endlich griff er nach dem Bierkrug. »Habt ihr heute gewaschen?«

»Ja«, antwortete Magdalene. »Es war viel zu tun.« Er zog den Krug näher an seine Brust und hob ihn an. Noch ehe er trank, setzte sie nach. »Else hat sich nicht beteiligt, sie hatte etwas Besseres vor.«

Er ließ den Krug sinken. »Willst du schon wieder gegen sie hetzen?«

Magdalenes Blick lag auf dem Krug. Er hatte noch keinen Schluck getrunken. Sie schwieg und wartete geduldig. Sie redete erst, nachdem er ihn anhob und einen langen Zug trank.

»Statt zu arbeiten, hat sie sich von einem jungen Mann hofieren lassen.«

Georg schob die Kinnlade vor. »Warum versuchst du, Else zu verleumden?«

»Das tue ich nicht. Ich habe es vom Fenster aus gesehen. Er hat ihr auf der Straße vorm Haus die Hand geküsst. Frag die Nachbarn, alle haben es gesehen, sogar Hänschen. Den hatte ich auf dem Arm.«

»Ach was«, murmelte Georg. »Wer weiß, was du gesehen hast. Die jungen Leute machen so was heutzutage überall. Der Mann war bloß höflich.«

Er runzelte die Stirn. Sein Blick lag im Krug, und für einen Moment durchfuhr Magdalene die Angst, er könnte die Wahrheitsmilch darin erkennen. Nichts passierte. Georg trank den Rest mit einem Zug aus, schob den leeren Krug quer über den Tisch, stand auf und ging im Raum hin und her. Er sagte kein Wort mehr.

Angesichts der Tatsache, dass er das Getränk vollständig seine Kehle hinabgestürzt hatte und ihr von nun an sein wahres Gesicht zeigen würde, war Magdalene unterm Strich zufrieden. Nur die Übelkeit, die ihr all die Zeit im Magen lag, wollte nicht vergehen. Im Einschlafen fiel ihr auf, wie wach Georg auf seiner Seite des Bettes lag. Er drehte sich unter seinem dicken Federbett hin und her, zerrte die Kissen nach links und rechts, schnaufte und seufzte. Vielleicht war es die Wahrheit, die durch das Getränk zutage trat und ihn am Schlafen hinderte.


5. KAPITEL


Magdalenes Unwohlsein wollte auch in den nächsten Tagen nicht vergehen. Es fühlte sich wie ein Unwetter an, dem man nicht ausweichen kann. Ihre mühsamen Anstrengungen wogen wie Federn gegen die dickbäuchigen dunklen Wolken am Horizont. Der Sommer war vorbei. Der Oktober würde in drei Tagen anbrechen, die Tage wurden kürzer. Noch lag die freundliche Wärme des Spätsommers in den Straßen, und zwischen den dicken Mauern des Spezereienlagers hielt sich der Rest jener satten Trockenheit bis in den Winter hinein. Das änderte nichts an den aufkommenden Stürmen. Bald würde es draußen unweigerlich kalt werden, bitterkalt.

Seit Georg die Wahrheitsmilch zu sich genommen hatte, wollte Magdalene jede Gelegenheit zu Gesprächen mit ihm nutzen. Es gab keinen Ort, der dazu besser geeignet war als das Lager. Dort geriet er in beste Stimmung und vergaß das Geldverdienen. Er beschäftigte sich mit Dingen, die ihm Spaß machten, und war darin nicht zu halten. Voller Hingabe kramte er in seinen Schachteln, betrachtete Pflanzenteile, murmelte bei ihrem Anblick vor sich hin, katalogisierte sie und notierte alles, was er entdeckte. Hier würde er seiner Frau nicht ausweichen, hier konnte sie jede Regung in seinem Gesicht beobachten.

Im Lager waren entlang der Wände alle Materialien für Laden und Handel gestapelt. In der Mitte der Stube stand ein langer Tisch für Hantierungen, darauf eine mächtige Schalenwaage und Gewichte, Löffelchen und anderes Gerät zum Messen und Abteilen der Spezereien, dazu der Destillierapparat. Es roch nach Staub und allen Kontinenten der Welt gleichzeitig, würzig, scharf, blumig und fremd. Schlichte hölzerne Gestelle nahmen einen Teil der Gefäße auf, die großen und schweren unten, die kleinen leichten oben. Da standen Kisten aus ungehobelten Brettern und aus geschliffenem Holz, Körbe und Körbchen aus grober Weide oder feinstem Hanfgarn, als Behältnis und als Hülle für Flaschen und Krüge.

Die meisten Spezereien lagerten in kleinen, dicht geflochtenen Körben, diejenigen, die trocken waren und nicht in Gefahr, die Feuchtigkeit der Luft an sich zu ziehen. Es gab eine Reihe von Tontöpfen und Krügen, deren Korkverschlüsse den Duft ihres Inhalts verbargen. Die wertvollen Waren steckten in Holzkisten jeder Größe und Form, einige wenige, weil es ihre Beschaffenheit erforderte, in dünnwandigen Metallkästen. In den Regalen weiter oben standen braune Tonflaschen, kleine und solche, die lang waren wie ein Ellenbogen, mit dicken Stöpseln aus Korkeichenrinde. Es gab verschnürte Pakete, in getrocknete Blätter eingewickelt. Auf einem hölzernen Tablett lagen Spezereien ohne Hülle, seltsam geformte Wurzeln, Knollen und Holzstücke.

Wegen der Düsternis war ständig Licht nötig. Sie nutzten billige Unschlittlichte, kleine Tonnäpfchen mit schlechtem Fett. Die beleuchteten das Lager schwach und flackernd, erweckten Körbe und Kisten zu vorübergehendem Leben, das sie verloren, wenn das Licht hinauswanderte.

»Kannst du mir dieses Rezept machen, das Melotenpflaster?«, fragte Magdalene. Sie streckte ihrem Mann Isabeaus Zettel entgegen.

Er brummte unwillig. »Wozu soll das gut sein?«

»Es ist zur Stärkung. Soll der Fruchtbarkeit dienen.«

»Ich habe keine Zeit«, antwortete er, und sein Blick hing verträumt an seinen Kisten und Kästen.

»Georg«, fasste sie bittend seinen Ärmel. »Wenn du keine Zeit hast, dann könnte ich es auch selber machen, was meinst du?«

»Ich will nicht, dass du meine Spezereien berührst. Sie sind zu wertvoll für Stümperei.« Er warf einen Blick auf das Rezept und fuhr milder fort: »Du könntest die Ordnung durcheinanderbringen. Fass nichts an, hörst du? Die Zutaten für das Pflaster habe ich hier, ich mache es dir später. Meloten sind gepulverte Stängel und Blätter von Steinklee, in Ziegenfett und Terpentin gemischt. Das Pflaster ist nichts Besonderes, es besteht bloß aus gelbem Wachs.«

 

Magdalene bekam einen von Georgs langen Vorträgen über Pflanzen zu hören. In diesem Fall kam er vom Steinklee auf das Siebengezeit und das Barbarakraut, und so redete er endlos weiter, sah ab und zu auf und sah sich nach seiner Frau um. Seine Leidenschaft riss ihn mit, er merkte nicht, wie er ins Dozieren kam. Wie ein Lehrer stolzierte er in seinem Lager hin und her und stellte Fragen, die er selbst beantwortete. Am Ende hielt er inne und fragte: »Nicht wahr?« Georg hatte einen zufriedenen Ausdruck im Gesicht, als hätte Magdalene ihm Beifall geklatscht. Er drehte sich weg und begann, wieder in seinen Körben zu kramen.

»Was suchst du?«, fragte sie, um mit ihm im Gespräch zu bleiben.

»Sadebaum«, antwortete er. »Das sind blauschwarze Beeren, eine Wacholderart. Letzte Woche ist ein Korb davon mit der neuen Lieferung gekommen.« Georg schob die Dosen und Schachteln hin und her und murmelte etwas von einem falschen Regal. Magdalene gab sich große Mühe, jedes Schächtelchen, das ihr Georg bezeichnet hatte, im Geist aufzubewahren. Beschriftungen gab es nicht. Sie hatte noch keine Ordnung entdeckt, die ihr sagte, nach welchen Zeichen Georg suchte. Von Sadebaum hatte sie noch nie gehört.

Sie folgte ihm und sah so lange zu, bis er fragte: »Warum wartest du? Fehlt noch etwas?«

»Ich versuche das Prinzip zu verstehen«, antwortete sie ihm.

»Mein Prinzip, wie ich hier lagere?«, er lachte mit einem Zischen zwischen den Vorderzähnen. »Es gibt keins. Ich habe alles im Kopf. Ich weiß, wie die Körbe aussehen, das genügt.«

Magdalene musterte die Behältnisse, von denen viele gleich aussahen. Es waren weit über hundert, schätzte sie. Georgs Blick lag weich auf seinen Schätzen.

»Wozu brauchen die Leute Sadebaum?«, fragte sie, um ihn aus der träumerischen Versenkung zu holen.

»Das ist hilfreich zur Beförderung der Nachgeburt, wenn es mit Zimt in Poleiwasser gemischt wird.«

Georg sah Magdalenes Lippen zu einer dünnen Linie werden und griff nach ihrer Hand. Er zog sie an sich und legte einen Arm um ihre Schulter, nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger seiner Rechten und sagte leise: »Du denkst an deinen Kummer, nicht wahr? Du brauchst nicht traurig sein, niemand kann uns Kinderlosigkeit vorwerfen. Wir haben immerhin Hans.«

»Ich hätte so gern noch mehr Kinder.«

»Ich würde es dir nicht vorwerfen, wenn du keine mehr bekommen würdest.«

»Immer ich! Warum fragst du dich nicht, ob du selbst gesunde Kinder zeugen kannst?«

»Warum sollte ich das bezweifeln?«, fragte er drohend mit gerunzelter Stirn.

»Eben! Du zweifelst nicht, weil du weißt, dass du es kannst.«

Auf seiner Stirn stand eine senkrechte Falte, seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihr Kinn. »Wieso? Wie kommst du darauf?«

Mutlos geworden, schüttelte sie den Kopf. Ihr war, als stünde sie vor einem Berg und könne den steilen Weg hinauf nicht erklettern.

»Das ist das letzte Mal«, sagte Georg laut und schneidend, »dass ich mir solche Unterstellungen von dir anhöre.« Er ließ sie los, und seine Finger hinterließen einen schmerzenden Abdruck an ihrem Kinn. Er schüttelte sich wie ein Pudel, der aus dem Wasser kommt, griff nach einem Korb, öffnete den Deckel und sagte: »Wusste ich’s doch, da ist der Sadebaum.«

Magdalene drehte sich um, verließ das Lager und ging durch den Laden zur Treppe. Das Misstrauen zwischen ihnen wuchs wie eine Pflanze. Eine Pflanze verkümmert in dürrem Boden. Bekommt sie Nahrung, gedeiht sie und wird größer, bis alles andere nicht mehr genug Licht hat und verdorrt. Die Pflanze Misstrauen wuchs und raubte dem Vertrauen den Platz. Magdalene kam es vor, als hätten die Ranken sie schon vollständig umschlungen.

Ein willkommener Handel, das war sie für Georg mit ihrem kleinen Hans gewesen, weil er selbst etwas auf dem Kerbholz hatte, für das er eine Sünderin wie Magdalene als Frau gebrauchen konnte, die sich nicht über ihn stellte. Aber da befand er sich im Irrtum. Sie war keine Sünderin. Sie nicht.


6. KAPITEL


Else wartete, bis die Meisterin hinaufgegangen war, dann flüsterte sie, über den Suppentopf gebeugt:

»Habt ihr das gesehen?«

»Was?«, fragte Gertrud arglos.

»Das, was sie gemischt hat«, antwortete Else. »Sie hat etwas zusammengebraut, das tut sie dem Meister ins Bier.«

Rosina zuckte die Schultern. Sie palte einen Berg Erbsenschoten, in der Schüssel vor ihr klang nach jeder Schote, die sie öffnete, das Pling, Pling der Erbsen. »Na und? Was ist schlimm daran?«

»Das ist irgendeine Zauberei. Das Weib ist eine Zaubersche!«

Rosina lachte. »Das glaubst du nicht ernsthaft, Else.«

Gertrud an ihrer Seite stieß sie an. »Es könnte doch sein. Wenn sie ein Saaleweib ist, kann sie auch zaubern.«

Rosina verdrehte die Augen und sagte nichts mehr.

Else wandte sich vom Suppentopf weg und schob auf dem Tellerbord einen Krug zur Seite. Dahinter stand eine braune Flasche. »Das ist es«, flüsterte sie. »Da drin bewahrt sie ihre Mixtur auf. Wenn sie nun dem Meister etwas antun will?«

»Warum sollte sie das tun?«, fragte Rosina. »Sie hat ihn gern.«

»Pah! Sie kann ihn gar nicht gernhaben, so, wie sie mit ihm umgeht.« Else stemmte die Hände in die Seiten. Vom Rührlöffel, den sie in der Hand behielt, tropfte ein Klecks Suppe auf den Boden. »Sie kommt und geht, wie es ihr passt. Habt ihr nicht gesehen, dass sie letztens einfach fortgeritten ist? Sie hat ihren Mann nicht einmal um Erlaubnis gefragt. Wo gibt’s denn so was? Stundenlang weggehen, wer weiß, wohin, und dir hat sie ihr Kind dagelassen, als wenn’s ihr egal wäre.«

»Ich bin Kindermagd«, antwortete Rosina, »es ist meine Aufgabe, mich um Hans zu kümmern, wenn sie keine Zeit dafür hat.« Sie sah in die Schüssel mit den Erbsen und hob den Kopf nicht mehr.

Else wollte ihre Hetzreden fortsetzten, aber sie verstummte. Die Meisterin kam die Treppe hinab. Sie legte im Korridor, keine drei Schritte von den Mägden in der Küche entfernt, das Mantelet um die Schultern und nahm den Korb in den Arm. Die Tür klappte hinter ihr.

Else beugte sich in das Küchenfenster, das auf die Straße ging.

»Da spaziert die feine Dame fort«, sagte sie lauter, denn sie musste jetzt nicht mehr flüstern. »Als ob sie auf den Markt ginge. Glaubt sie, dass sie uns für dumm verkaufen kann? Heute ist überhaupt kein Markt. Weh dir, Georg Rehnikel, du wirst Hörner tragen, ehe du dich versiehst!«


7. KAPITEL


Das dumme Gerücht ließ Magdalene keine Ruhe. Es war Mägdeklatsch, sie musste also Mägde fragen. Eigentlich hielten die Mägde ihr Geschwätz vor den Bürgerinnen verborgen, aber Magdalene fand immer einen Weg. Sie wusste, wo sie welche treffen konnte, die Ohr und Mundwerk vor ihr nicht verschlossen. Mit hastigen Schritten verließ sie das Haus in Richtung Süden.

Am Alten Markt trafen sich die Mägde aus dem Ulrichsviertel und dem Trödel, weil sie zum Schwatzen unauffällig bei der Wasserkunst stehen und tun konnten, als würden sie warten, bis sie mit ihren Krügen an die Reihe kamen. Der erste trübe Herbsttag umarmte die Stadt. Die Luft war schwer und feucht, wie eine Last lag der Dunst in der Schlucht zwischen den Häuserfronten. Maria und Sybille, zwei Mägde in Magdalenes Alter, standen zusammen. Sie gingen ohne Mantel, eine Koketterie, für die es um diese Jahreszeit zu kühl wurde. Sybille war Magdalenes Duzfreundin, sie hatten jahrelang nahe beieinander die gleiche Arbeit tun müssen, sie in der Ritterakademie, Magdalene bei ihrem Onkel Conrad.

Die Vertraulichkeit mit einer Magd störte Magdalene nicht, obwohl der Standesunterschied zwischen ihnen groß war. Ihr Onkel hatte sie oft genug ermahnt, sich nicht mit der Dienerschaft gemeinzumachen, aber gerade das hatte ihren Widerstand erregt. Warum sollte sie nicht mit Sybille Spaß haben? Mit ihr war es tausendmal lustiger gewesen als im strengen Haushalt ihres Onkels, auch lustiger als mit der alten Anna, ihrer Amme, lustiger als mit ihren plärrenden kleinen Nichten. Sybille war ein fröhliches Geschöpf. Sie lachte und kicherte bei jeder Gelegenheit, nahm kein Blatt vor den Mund und redete am liebsten über alles, was in der Stadt passierte oder jemals passiert war.

Diese Offenheit konnte Magdalene nützlich sein. Sie stellte sich neben die beiden an den Brunnen und setzte ein freundliches Gesicht auf. Sybille begrüßte sie, als würde sie jeden Tag mit einer Bürgerlichen plaudern, schüttelte ihre Lockenmähne und band sich die Haube neu. Sie besaß dunkelblonde Haare mit einem Hauch ins Rote und die dichtesten und krausesten Locken der Stadt. Darauf war sie stolz und knotete die Haube oft auf, damit sie ihre Haare schütteln konnte, als ob sie auf diese Weise alle Blicke auf sich ziehen könnte. Magdalene nickte freundlich und erkundigte sich nach der Familie, der Gesundheit und dem Liebsten, und alle Antworten hörten sich gewöhnlich an. Nach einer Weile geriet das Gespräch unverfänglich auf eine Bahn, die sie nutzen konnte.

»Jonas, mein Schatz«, gestand Sybille, »ist jetzt schon den dritten Monat fort.« Sie seufzte. »Es wird Zeit, dass er wiederkommt, er wollte im August zurück sein. Wir werden heiraten, weißt du?«

Magdalene riss die Augen auf. »Eilt es? Du bist doch nicht schwanger?«

Sybille blies die Backen auf. »Ach wo. Jonas ist ein braver Kerl, der bedrängt mich nicht. Und selbst wenn, ich wüsste mir zu helfen.«

»Wie denn?«, fragte Magdalene.

Maria prustete spöttisch, und Sybille fragte: »Das weißt du nicht?«

Magdalene musste den Kopf schütteln. Die beiden anderen sahen sich an. Jetzt, wo Magdalene von dem Gerücht wusste, fiel ihr das Zögern auf.

»Du willst uns weismachen, du hättest keine Ahnung von solchen Dingen? Ausgerechnet du?« Sybille sah Magdalene mit ärgerlich zusammengekniffenen Augen an. »Wo du seit drei Jahren kein Kind mehr bekommst – warum wohl?«

Beruhigend legte Magdalene ihr eine Hand auf die Schulter. »Meinst du, ich wollte keins und mein Mann hätte ein Mittel gegen Schwangerschaft unter seinen Spezereien?«

Sybille stemmte die Hände in die Seiten. »Das nicht! Sonst hätte er es dir gegeben, als er dir aus Versehen den Hans gemacht hat, dir und auch dem Mädchen damals.«

Magdalene beugte sich ein Stück näher und sah ihr in die Augen. Sybille offenbarte einen schuldbewusst flackernden Blick. Sie fing sich schnell, hob trotzig das Kinn und fuhr fort. »Du hast Glück, dass er dich geheiratet hat. Als es das erste Mal passiert ist, hat seine Frau noch gelebt. Da musste sich dein Mann etwas einfallen lassen.«

Die Mägde schienen nicht in Zweifel zu ziehen, dass Georg einer anderen Frau als seiner eigenen ein Kind gemacht hatte. »Was«, fragte Magdalene, »hat er sich einfallen lassen?«

»Du weißt es nicht?« Erstaunt zog Sybille ihre Stirn kraus. Leiser antwortete sie: »Er hat das Neugeborene gleich, nachdem es zur Welt gekommen ist, in der Küche erstochen und das Blut in einer Schale aufgefangen. Man sagt, er hätte es für eine Rezeptur gebraucht. Das tote Kind hätte er draußen vergraben. Das war vor zehn Jahren, ich vergesse das nie, weil mir meine Mutter die Geschichte kurz vor ihrem Tod erzählt hat.«

»War deine Mutter dabei?« Magdalene war wütend, dass nicht einmal ihre Freundin auf den Gedanken kam, solchen Blödsinn für sich zu behalten.

Sybille merkte Magdalene die Wut an. Sie sprach leiser und gab ein erstes Eingeständnis ab. »Mag sein, dass es sich nicht exakt so zugetragen hat, aber irgendwas haben sie mit dem Kind angestellt und es verschwinden lassen. Mutter hat sich furchtbar aufgeregt, weil niemand der Sache nachgegangen ist. Es war kurz nach der Pest, die Leute hatten andere Sorgen.« Sie blies sich eine lockige Strähne aus dem Gesicht.

 

»Wer weiß, woran das arme Kind gestorben ist«, erwiderte Magdalene. »Wer soll überhaupt die Mutter dieses Kleinen gewesen sein?«

Maria, die andere Magd, antwortete mit leiser Stimme. »Was wissen wir, welches unglückliche Weib es getroffen hat? Wir waren zu der Zeit selbst noch Kinder. Lasst es in seinem kalten Grab ruhen, das Balg. Das Reden erweckt niemanden zum Leben. Wenn Euer Mann das Kind totgemacht hat, muss er sich eines Tages vor dem Allmächtigen im Himmel dafür verantworten.«

»Warum hat mir niemand davon erzählt? Warum habe ich nicht früher davon erfahren, als ich mit ihm verlobt war?«

Die Mädchen kicherten. Maria antwortete: »Das ist immer so, Rehnikelin. Der, über den geredet wird, erfährt es zuletzt.«

»In Wirklichkeit hatten wir es vergessen«, gestand Sybille, »ich habe auch nicht mehr daran gedacht, sonst hätte ich es dir doch erzählt. Irgendjemand hat sich daran erinnert, als wir gehört haben, dass du einen Bankert hast. Es hat erst einen Sinn ergeben, nachdem der Rehnikel zugegeben hat, dass es sein Kind ist. Du warst gezwungen, das Kind woanders zu kriegen, sonst hätte er es mit deinem Kind genauso gemacht. Das ist klug von dir gewesen. Jetzt muss er für ein Kind, das er macht, auch geradestehen.«

Ein Blick in ihre stolz glänzenden Gesichter sagte Magdalene, dass sie keinerlei Scheu hatten, schlecht von einem angesehenen Händler zu reden. Selbst wenn sie einen gewissen Respekt empfanden, hinderte der sie nicht an dummem Geschwätz.

»Schäm dich, Sybille, über meinen Mann herzuziehen. Er sorgt für mich und den Hans und ist ein guter Christ.

Die beiden Mägde sahen Magdalene mit geschlossenen Mündern an. Als sie ihrem Blick standhielt, senkte Sybille den Kopf und nahm den Krug von einer Hand in die andere, Maria malte mit ihrem Holzschuh im Sand.

»Ein schlechtes Gewissen ist der Grund für manche gute Tat«, sagte Sybille, und Maria ergänzte: »Gerade, weil er sich gut um Euch kümmert, würdet Ihr es niemandem sagen, wenn Ihr von seinen Untaten wüsstet. Wenn Ihr ihn verratet, kommt er ins Gefängnis, und Euch wird keiner mehr versorgen. Ihr müsstet zu Eurem Onkel zurück.«

Der Schreck ließ Magdalene verstummen. In ihrer Kehle stieg das Brennen auf, heftiger als in den Tagen zuvor. Maria flüsterte weiter: »Und überhaupt! Jemand, der einen Stoff in einen anderen verwandeln kann, wenn er das Richtige in den Topf tut, der kann auch Kinderblut gebrauchen.«

»So ein Unsinn«, stemmte Magdalene die Hände in die Seiten, »was sollte man mit so einer Zutat anfangen?«

Die Mägde sahen sie kopfschüttelnd an und sagten nichts. In ihren Augen standen hundert Antworten. Es war nicht notwendig, dass sie eine davon aussprachen.

Am Nachmittag besuchte Georg Rehnikel wie jeden Dienstag seine Erbauungsstunde. Auf solchen Versammlungen trafen sich Männer und lasen gemeinsam aus der Bibel. Studenten, die mit Magister Thomasius aus Leipzig gekommen waren, hatten mit dieser Sitte begonnen. Inzwischen waren die Zirkel nicht mehr geheim wie früher und die Leute sprachen offen darüber. Das bedeutete nicht gleich, dass man mit der Einstellung Beifall erntete. Viele redeten wie Magdalenes Onkel: »Wie kann es richtig sein, dass jeder Dummkopf meint, die Heilige Schrift persönlich auslegen zu müssen!«

Unstimmigkeiten dieser Art zwischen Magdalenes Mann und ihrem Onkel waren in den vergangenen zwei Jahren deutlicher geworden, bis der Onkel keine Einladungen mehr aussprach. Das tat ihr leid, weil Onkel Conrad, Tante Dorothea und ihre Familie Magdalenes einzige Verwandte waren. Aber eine Frau muss ihrem Mann folgen. Seitdem hatte Magdalene die Pflichtbesuche bei der Tante eingestellt, die ihr erlaubten, ihre alte Amme in der Küche aufzusuchen und ein Stündchen zu plaudern.

Was die Lehren des Pietismus anging, stimmten Magdalenes eigene Ansicht und Georgs begeisterte Überzeugung überein. Sie mochte es, wenn er abends die lederbezogene Bibel aufschlug und ihr erklärte, welche Erkenntnisse er in seinem Zirkel gewonnen hatte. Sie sah seinen Finger über die gedruckten Buchstaben gleiten und hörte, wie seine Stimme vor Eifer vibrierte. Er ermunterte seine Frau, gute Werke zu tun, denn das sei, sagte er, der tätige Beweis für Gottes Liebe.

In Georgs ausgleichendem Wesen gab es, von den Spezereien abgesehen, nur die eine Leidenschaft, der pietistischen Lehre zu folgen. Frieden und Einigkeit waren seine Maximen. Sein Charakter, soweit sie ihn kannte, und die Wahrheitsmilch würden Magdalene helfen, dass sie von Georg etwas über das Kind erfuhr. Sie schüttete an diesem Abend wieder einen Löffel der Wahrheitsmilch in sein Bier. Mit aller Macht zwang sie sich zur Freundlichkeit, obwohl schwarzes Misstrauen in ihr loderte.

Sie würden im Erkerzimmer essen, und das traf sich für Magdalenes Zwecke gut. Dann lauschte keine der Mägde, sie würde ruhig mit ihrem Mann zusammensitzen und ihm zuhören. Gertrud trug das Brot und den Käse nach oben. Magdalene brachte die Kanne mit dem Bier und setzte sich zu Georg, der auf sie wartete.

Seine Stimme klang freundlich. Er wollte wissen, wem von den Armen sie an diesem Nachmittag Brot gebracht hatte, und erzählte von der gerade hereingekommenen Lieferung, einem kleinen Paket Quecksilber, aus dem er am folgenden Tag Calomel herstellen wollte, ein Präparat, nach dem die Apotheken verlangten. Er schnitt eine dritte Scheibe vom Brot und zog den Käse zu sich herüber. »Die Erbauungsstunde war heute gut besucht. Wir haben aus dem Matthäusevangelium gelesen«, fuhr er fort zu erzählen. »Lasset die Kinder, und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen, denn solchen gehört das Reich der Himmel.«

»Über Kinder habt ihr gesprochen?«, fragte sie erstaunt.

»Ja, über Kinder«, nickte er, biss in sein Brot und kaute gierig.

»Du …«, begann Magdalene zögernd und sah ihn an. Seufzend legte er das Messer aus der Hand. »Was ist«, fragte er mit der Ergebenheit eines Mannes, der weiß, dass er seinem Schicksal nicht entkommen kann.

»Es ist ein Zeichen, dass ihr über Kinder gesprochen habt. Ich muss mit dir reden, über ein Kind. Ein Gerücht«, begann sie vorsichtig.

»Mein Gott«, er verdrehte die Augen, die Adern an seinen Schläfen begannen zu schwellen, »fang nicht schon wieder mit so etwas an.« Er griff nach seinem Messer.

Sie legte ihre Hand auf seine. »Wenn ein Gerücht über die Gassen läuft, das dich betrifft, müssen wir das nicht ernst nehmen?«

»Das wäre etwas anderes«, er kaute missmutig, »es darf dem Geschäft nicht schaden.«

Sie zögerte, der Mut drohte sie zu verlassen. Die Spannung siegte. »Die Leute sagen, hier im Haus wäre ein Kind getötet worden.«

»Was?« Er sah sie mit großen Augen an. Sein Blick versprach völlige Unschuld. »Getötet?«

»Mit einem Messer erstochen«, sagte sie, »umgebracht.«

Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Das Grinsen wuchs bis an die Ohren, sein Mund öffnete sich, bis er »Haha!« sagte. Für ein Lachen klang es nicht echt genug. Es kam ihr vor, als ob er Zeit für eine unverfängliche Antwort schinden wollte. Er zog seine Hand aus ihrer und legte sie auf ihre Schulter. »Du glaubst den Unsinn doch nicht etwa? Du lebst drei Jahre mit mir zusammen und gehst solch einem dummen Gerücht auf den Leim? Lenchen, du solltest mich besser kennen. Hol den Hans, damit er uns Gute Nacht sagt.«

Er wandte sich dem Käse zu. Die Sache schien so lächerlich zu sein, dass er noch grinste, als er mit seinem Messer ein weiteres dickes Stück Brot abschnitt.

Immerhin hatte er gelacht.

Magdalene war nicht danach zumute, mit ihm zu lachen. Sein Bierkrug stand unberührt auf dem Tisch. Er hatte während des Abendessens nicht einen einzigen Schluck davon getrunken.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?

Weitere Bücher von diesem Autor