Polnisch mit Sahne

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Da ich absolut keine Ahnung hatte, wie ich mit der Vielzahl an Informationen für Ausländer umzugehen hatte, war ich auf die Hilfe von Dorothea und Paul angewiesen, die ja auch schon für einige Jahre in der Schweiz gelebt hatten. Papierkrieg und Behördenkram waren noch nie mein Hobby und ich beschloss, irgendwann zu gegebener Zeit einfach abzureisen und die Dinge auf mich zukommen zu lassen. Irgendwann würde mir schon irgendjemand zu gegebener Zeit sagen, wann ich was zu tun hätte oder wann ich mich wo anzumelden hätte.

Wenn ich heute daran zurückdenke, muss ich sagen, dass ich damals recht blauäugig und unschuldig in die unbekannte Zukunft gestürzt bin. So alles auf sich zukommen lassen; heute fast ein Unding. Aber so war ich damals.

So weit, so gut.

Mitten in meinen Vorbereitungen kam, was kommen musste. Wolfgang stand vor meiner Tür, meinen Brief in der Hand, übernächtigt und bleich, bemühte er sich, die Fassung zu wahren. Er sei eben erst aus einem Skiurlaub zurückgekommen, habe den Brief von mir vorgefunden, gelesen und sei umgehend zu mir gefahren.

Ob ich den Vertrag schon unterzeichnet hätte, war seine erste Frage. Die zweite, ob ich den Vertrag wieder rückgängig machen könne. Ich solle bei ihm bleiben, wir könnten uns zusammen eine Wohnung suchen, Mimi sei unwichtig.

Zu spät! Zu spät! Ich schien ins Bodenlose zu stürzen, ich hatte ja keine Ahnung, dass er in den Urlaub fahren wollte, es sei eine kurzfristige Entscheidung gewesen, deshalb habe er sich nicht mehr von mir verabschieden können. Und jetzt das! Warum hatte ich ihn nicht schon viel früher um eine Entscheidung gebeten, mit ihm geredet, ihm von meinen Gefühlen erzählt? Nun war es zu spät, der Stein war ins Rollen gekommen, Wohnung gekündigt und so weiter. Ich war nie ein Mensch, der auf einem einmal eingeschlagenen Weg stehen bleibt oder Entscheidungen rückgängig macht. Es war passiert, ich stand dazu, egal wie schwer es mir fiel. Es hat halt so sollen sein. Unsere Wege würden sich trennen müssen, Fernbeziehungen führte man damals noch nicht so wie heute.

Nur eine Woche bis zum 6. Mai blieb uns noch. Dann war meine Zeit an der Uniklinik in Mainz vorbei und mein Nachmieter sollte meine Wohnung übernehmen. Ein paar Tage wollte ich noch bei meiner Freundin Sissi und ihrem Mann Werner bleiben, bevor ich für weitere zehn Tage zu meinem Vater in die Eifel fahren wollte.

So hatte ich in dieser kurzen Zeit alle Hände voll zu tun, mein ganzes Hab und Gut, welches in einer kleinen 1-Zimmer-Wohnung untergebracht war, musste auf ein Minimum reduziert werden, sollte doch alles irgendwie in meinem VW-Käfer verstaut werden. Dieses Unterfangen stellte sich auch als äußerst schwierig dar. Am Schluss war das Auto so voll, das ich kaum noch hinter den Fahrersitz passte und durch das Rückfenster konnte man gar nichts mehr sehen. Ich glaube, ich fuhr den ersten tiefergelegten VW-Käfer überhaupt auf meinem Weg in die Schweiz.

Es gab viele Tränen beim Abschied. Sissi und Werner organisierten noch eine Abschiedsparty für mich und alle meine Freunde kamen. Ich hätte nie gedacht, dass mir der Abschied doch so schwer fallen würde. Am schlimmsten war es natürlich für Wolfgang. Eigentlich mussten wir uns wegen eines Missverständnisses trennen. Erich und er versprachen, mich so schnell wie möglich besuchen zu kommen. Es seien bald Semesterferien, da könne man kurzfristig in Urlaub fahren. Trotz allem war ich todtraurig. Doch sobald ich im Auto eingeklemmt hinter dem Steuer saß, nahm die Vorfreude auf das Neue und Unbekannte überhand.

Auf geht’s in die Eifel zum nächsten Abschied!

Mein Vater freute sich einerseits riesig, mich mal länger als ein Wochenende bei sich zu haben. Andererseits war er auch traurig, denn die Schweiz war ja so weit. Er sagte, ich müsse seine Angst und seine Sorgen verstehen, schließlich wäre ich ja mutterseelenallein in diesem fremden Land. Ich musste hoch und heilig versprechen, mich regelmäßig zu melden und mir ein Telefon anzuschaffen, nachdem er so oft vor Sorge fast umgekommen sei, weil ich in Mainz keines gehabt hatte und mich nur sporadisch gemeldet hatte.

Somit war die Zeit bei meinem Vater zwar schön, aber auch äußerst anstrengend. Gott sei Dank konnte ihn seine Frau Hera, mit der ich mich hervorragend verstand, allmählich beruhigen. Schließlich sei ich alt genug und stark mit eisernem Willen, außerdem hätte ich ein großes Mundwerk, ich würde meinen Weg schon gehen. Mich könne man nicht unterkriegen. Oh, wie Recht sie hatte! Mein Sturkopf bestand zu 99% aus Stahlbeton, ich nahm mir immer, was ich wollte und konnte auch meinen Willen zu fast 100% durchsetzen. Und niemals, noch nie in meinem Leben habe ich eine einmal getroffene Entscheidung bereut, ich stand und stehe noch heute immer dazu. Es war damals richtig, dass ich ins Ausland gegangen bin. Abgesehen davon, man macht im Leben niemals Fehler, nur positive und negative Erfahrungen. Auch heute sage ich: „Was mich nicht umbringt, macht mich nur noch härter“. Nimm das Leben, wie es ist, und mach aus jeder Situation das Beste.

Auch die Tage bei meinem Herrn Papa neigten sich langsam aber sicher dem Ende zu. Natürlich gab es auch hier wieder Tränen, die meinerseits schnell wieder trockneten, denn mit einem Tränennebel vor den Augen fährt es sich relativ schlecht Auto. Ich musste schließlich jetzt zu meiner letzten Abschiedsstation noch eine ordentliche Strecke fahren. Es ging nach Stuttgart, wo meine Freundin Cora derzeit bei ihrem Freund Marcus Urlaub machte und das eventuelle Zusammenleben übte.

Es war der 28. April und schon am 30. sollte ich in dem kleinen Ort in der Nähe von Basel eintreffen. So kurz davor wurde mir jetzt doch langsam etwas mulmig und meine Gedanken fingen an, Achterbahn zu fahren. War alles wirklich richtig, was ich tat? Konnte, wollte ich zurück? Nee, bloß nicht! Diese Blöße würde ich mir nie und nimmer geben. Nein, die Würfel waren gefallen!

Auf nach Stuttgart.

Außerdem freute ich mich auch, Cora wiederzusehen. Bei der Abschiedsparty in Mainz hatte sie nicht dabei sein können, da sie zu diesem Zeitpunkt bereits bei Marcus war.

Und es wurden noch zwei wunderschöne Tage. Wir lachten viel, tranken und weinten. Waren wir schließlich doch für ein paar Jahre richtig dicke Freundinnen gewesen, die sehr viel Spaß miteinander hatten. Aber was noch viel interessanter war, sie hatte Marcus eigentlich mir zu verdanken, denn ich hatte ihn seinerzeit quasi beim Knobeln an sie verloren. Wir hatten ihn bei einem gemeinsamen Urlaub in Südfrankreich auf einem Campingplatz kennengelernt. Leider hatten Cora und ich ihn gleichermaßen äußerst niedlich gefunden, und weil beste Freundinnen sich niemals um einen Mann prügeln, hatten wir um ihn geknobelt. Ich hatte verloren, sie gewonnen. Heute sind Cora und Marcus verheiratet und haben vier Söhne. Was aus einer Urlaubsliebe so alles werden kann!

Und dann war es so weit. Der nächste, schlimmste Abschied stand vor der Tür. Und dieser fiel mir auch am schwersten. Von nun an gab es wirklich kein Zurück mehr. Nur noch ein paar Stunden trennten mich von meinem neuen Leben. Wenn ich damals gewusst hätte, was mich erwartete, doch, ich glaube, ich wäre wieder den gleichen Weg gegangen.

Ciao Cora! Ciao Marcus!

See you later!

Dann war ich weg, die letzte Etappe. Ich musste jetzt zuerst nach Basel. Die grenzsanitäre Untersuchung stand an. Alle Ausländer, die zum Arbeiten neu in die Schweiz einreisten, mussten sich dieser Prozedur unterziehen. Es ging eigentlich nur darum, den Nachweis zu erbringen, dass man nicht an Tuberkulose oder an einer anderen ansteckenden Krankheit litt. Leider genügte selbst bei Pflegepersonal eine Bescheinigung des Haus- oder Amtsarztes vom Wohnort nicht.

Doch bevor es so weit war, musste ich zuerst mit meinem hoffnungslos überladenen Auto die Schweizer Grenze passieren. Die Überraschung des Zöllners stand ihm im Gesicht geschrieben. Da kam doch so ein junges Mädchen, immer noch total verheult, im durch die Last tiefergelegten VW-Käfer, das noch zuletzt reingequetschte Bügelbrett im Nacken, an seinem Grenzposten an. Fassungslos fragte er, ob ich Ware anzumelden oder etwas zu verzollen hätte. Meine Güte, er will doch jetzt nicht etwa, dass ich mein Auto auspacke? Ich hielt ihm Ausweis und Arbeitspapiere unter die Nase und nach eingehender Aufklärung über mein überladenes Fahrzeug ließ er mich endlich doch weiterfahren.

Nach einigem Suchen und vielem Nachfragen traf ich dann auch noch rechtzeitig vor der Mittagspause bei der grenzsanitären Untersuchung ein. Nach erfolgreicher Anmeldung hieß es erst einmal, sich in Geduld zu üben, ich war ja nicht die Einzige, die an diesem Tag eingereist war.

Aber auch die längste Wartezeit ging irgendwann vorüber und so konnte ich mich denn auch am frühen Nachmittag auf den Weg zu meinem neuen Arbeitsort machen. Meinen Abschiedsschmerz hatte ich mit dem Grenzübertritt in Deutschland zurückgelassen. Jetzt war es geschafft, ich konnte mich in eine neue, ungewisse Zukunft stürzen. Ich fühlte mich stolz, dass ich diesen Schritt gemacht hatte, und gleichzeitig war ich ein leeres Blatt, das nur darauf wartete, endlich beschrieben zu werden.

Der Sprung ins Ungewisse war getan, ein neues, mein zweites Leben sollte beginnen!

2. Der Sprung ins Ungewisse – Beginn des zweiten Lebens

Nach meiner Ankunft im Spital meldete ich mich gleich bei der Pflegedienstleitung, welche mich sehr herzlich begrüßte. Ich bekam im naheliegenden Wohnheim für Angestellte ein kleines 1-Zimmer-Appartement zugewiesen und auch die ersten Informationen bezüglich Dienstplan, Arbeitsantritt für den nächsten Tag. Dann war ich erst einmal entlassen.

Zu tun hatte ich für diesen Tag noch genug, Auto auspacken, meinen Kram einräumen und auch noch ein bisschen was zu essen kaufen. Gesagt, getan. Und schon war es Abend. Ach ja, nicht vergessen, Zeit umstellen, damit ich am nächsten Morgen pünktlich zur Arbeit erscheinen konnte. Damals hatte die Schweiz noch nicht die Sommerzeit eingeführt. Langsam wurde ich auch müde, es war ein langer, anstrengender Tag mit vielen neuen Eindrücken. Aber ich war auch nervös, was würde mich morgen erwarten?

 

Der erste Tag.

Wie sich herausstellte, war ich nicht die einzige Neue, die am 1. Juni diesen Jahres hier zu arbeiten anfangen sollte. Aber ich war die einzige Deutsche! Demzufolge wurde der Einführungsvortrag natürlich nicht auf Hochdeutsch, sondern im Schweizer Dialekt gehalten. Also, ich verstand kein einziges Wort. Diese Sprache, obwohl nur ein Dialekt, schien mir einfach nur lustig, etwas für Leute, die permanent unter einer Halsentzündung litten. Es war schon komisch, in einem fremden Land zu sein, niemanden zu kennen und dann die Sprache nicht zu verstehen. Aber ich war guter Dinge, dass sich das schnell ändern würde.

Wir bekamen das Spital gezeigt, vom Dach bis zum Keller und unsere Dienstausweise ausgehändigt, mit denen wir auch billig an der spitaleigenen Tankstelle tanken durften.

Die Personalumkleiden, die Cafeteria, die OP-Räume, alles in einem exklusiven Zustand, so etwas hatte ich in Deutschland noch nie gesehen. Das ganze Spital wirkte tatsächlich mehr wie ein Hotel denn ein Krankenhaus.

Im Laufe dieses Tages hatte ich mich ein wenig mit einer anderen neuen Krankenschwester angefreundet, sie gab sich Mühe, mit mir Deutsch zu sprechen, und wir beschlossen, nach diesem Einführungstag gemeinsam noch etwas zu unternehmen.

Da sie auch fremd hier war, sie kam aus Bern, wollten wir uns in der Stadt ein wenig umschauen und dann gemütlich essen gehen.

Ich erfuhr, dass sie für den nächsten Tag auf der Chirurgischen Abteilung zum Frühdienst eingeteilt war, während ich auf der Wöchnerinnenstation meinem Einsatz entgegenfieberte.

Wir hatten einen amüsanten Abend, ich schüttelte mich häufig vor Lachen, weil ich mit dieser Sprache meine liebe Not hatte. Woher sollte ich wissen, dass „go poschte“ nichts mit der „Post“ zu tun hatte, sondern einfach nur „einkaufen“ hieß? Aber auch nur hier im Kanton Aargau. Ein paar Kilometer weiter, im Kanton Basel, sagte man „kommisione mache“.

Am nächsten Morgen stand ich pünktlich um 7.00 Uhr auf Station. Wie auch die nächsten Tage bemühte ich mich, mir alles rund um den Tagesablauf zu merken. Das war für mich nicht immer einfach, da ich mit der Sprache Probleme hatte, die Medikamente nicht kannte, kurz, ich kam mir völlig hilflos und dumm vor.

Zu allem Übel machte ich auch gleich am zweiten Tag die Erfahrung, dass man als Deutscher in der Schweiz nur ein „cheibe Düütsche“ war. Ich wollte einer Patientin beim Aufstehen behilflich sein und wurde gleich mit „von ener cheibe Düütsche lan ich mich nöt pflege!“ zurechtgestutzt.

Paff ...das war meine erste verbale Ohrfeige und ich bekam eine ganz kleine Vorahnung von dem, was mich hier in Zukunft als Ausländer erwarten würde. Und was lernte ich daraus? Richtig! Schwyzer Düütsch! So sog ich denn begierig die neue Sprache in mich rein.

Ich lernte, dass ein „Buschi“ ein Baby ist. Dass man dem Buschi einen Schoppen gibt – Schoppen? Also dort, wo ich herkam, war das ein Viertel Wein; nein, hier war das eine Flasche Milch. Ha, ha. Und „de Hafe go hole“ heißt auf Deutsch „den Topf holen“. Ein „Iklemmts“ oder „Chanape“ stellte sich als belegtes Brötchen heraus. Und „znüni“ ist die Frühstückspause. Eine „Stange“ ist ein Glas Bier. Ich weiß nicht mehr, wie oft mir in der Anfangszeit vor Lachen das Make-up verflossen ist, aber ich habe diese Sprache gelernt! Zwar mit Akzent, aber ich konnte perfekt auch ohne Halsweh „Chäsküechli“ und „Chuchichäschtli“ sagen.

Ansonsten waren eigentlich alle Schwestern und Ärzte auf der Station sehr nett. Das Arbeiten machte richtig viel Spaß, es war tatsächlich nicht so hektisch wie in Deutschland, nein, hier gab es genug Personal und man arbeitete langsamer und in Ruhe. So wie Schweizer eben sind.

Nur mit dem „neue Freunde finden“ hatte ich ein Problem. Als echtes „Määnzer Mädche“ war ich sehr aufgeschlossen und kontaktfreudig. Diese Eigenschaften teilten die Schweizer nicht unbedingt mit mir. Alle waren nett, aber auch nicht mehr. Man kam als Ausländer nicht näher an sie heran. Sie ließen keine „Usländer“ in ihre Kreise. Das sollte sich auch während meiner 16 Jahre in diesem Land leider auch nicht ändern.

Ich lernte Mary kennen. Sie war Schottin und arbeitete als Hebamme im Gebärsaal. Wir freundeten uns an und unternahmen ab und zu etwas gemeinsam. Manchmal schloss sich auch ihr Mann Charles an und zu dritt hatten wir viel Spaß, zumal beide nicht richtig Deutsch konnten und meine Englisch/Schottisch-Kenntnisse auch nicht perfekt waren. Aber durch die beiden wurde ich in die Geheimnisse des Whiskys eingeführt, Malt-Whisky und so weiter …. Ihr wisst schon.

Eines Tages stand dann, ohne dass wir Schwestern auf unserer Station darüber informiert worden wären, eine neue Kollegin mit der Pflegedienstleitung zum Frühdienst parat. Es wurde nur kurz mitgeteilt, dass sie ein polnischer Flüchtling mit wenig Deutschkenntnissen sei und wohl auch in ihrem Heimatland als Krankenschwester gearbeitet hatte. Wir sollten uns um sie kümmern und schauen, wie weit sie einsetzbar und arbeitsfähig sei.

Alles klar, nur, in welcher Sprache? Helena, so war ihr Name, konnte tatsächlich so gut wie kein Deutsch und verstand von Wochenbettpflege gemäss Schweizer Niveau etwa so viel wie ein Metzger vom Kuchen backen.

Trotzdem freundeten wir uns an. Mit Händen und Füßen erzählte sie von ihrer Heimat, ihren Freunden, ihrem Mann Lukasz, von ihrer Flucht aus Polen und dass sie jetzt darauf warteten, den Status eines anerkannten Flüchtlings hier in der Schweiz zu bekommen.

Im Laufe der nächsten Wochen lernte Helena schnell, auch durch meine Mithilfe, mit der deutschen Sprache halbwegs klarzukommen und beim Arbeiten ihre Krankenpflegekenntnisse einzubringen.

An einem grauenhaften Samstagnachmittag im August, es war der 16., es regnete in Strömen und ich war müde vom Frühdienst, bat Helena mich, nachdem wir uns umgezogen hatten, mit den Worten „Du hier warten auf mein Mann, du nix vorhaben heute?“ noch mit in die Cafeteria zu kommen. Ich wusste zwar nicht, worum es ging und was das sollte, aber da ich nichts vorhatte und ein einsamer Abend in meinem kleinen Appartement auch nicht unbedingt reizvoll war, stapfte ich ihr tapfer hinter her.

So lernte ich Lukasz kennen, Helenas Mann. Ein Bär von einem Mann! Circa 185 cm groß, fast genauso breit, Vollbart und ein lustiges Lachen. Deutschkenntnisse, na ja, etwas besser als die von Helena, schließlich käme er aus Schlesien, dort spräche man noch ein bisschen Deutsch, erklärte er mir. Die beiden luden mich auf eine Party bei einem Freund ein, damit ich nicht einsam sein müsse. Wir müssten jetzt nur noch auf einen anderen Freund warten, der sich auf Parkplatzsuche befand.

Das hieß, noch schnell eine Zigarette rauchen und einen Kaffee trinken, um die Lebensgeister zu wecken. Und dann Party!

Zwar hatte ich keine Ahnung, wie, wo und in welcher Sprache – logischerweise hatte ich in Polnisch noch weniger Kenntnisse als eine Kuh in Englisch – aber egal, es würde schon irgendwie gehen, Hauptsache nicht allein im Zimmer hocken.

Auf einmal gab es einen Schlag, Blitz, Donner, Erdbeben!

Mir wurde Bartek vorgestellt!

Schicksal!

Bartek war der ehemalige Verlobte von Helena und mittlerweile gut mit ihr und ihrem Mann befreundet.

Nun sollten wir uns gemeinsam aufmachen und mit dem Auto zu einem anderen Freund fahren, der die Party organisiert hatte. So weit, so gut. Ich lernte noch Jazek und Margareta kennen, Jazek war Helenas Cousin und, wie alle anderen auch, in der Warteschleife, um politisches Asyl in der Schweiz zu bekommen.

Es wurde ein feucht-fröhlicher Abend, obwohl ich kein Wort verstand. Lukasz versuchte, mir auf Polnisch das Fluchen beizubringen und nach einigen Wodkas klappte das dann auch ganz gut. Und doch war Bartek der Einzige, der sich Mühe gab, eine Unterhaltung auf Deutsch mit mir zu führen. Ich war sehr dankbar dafür, denn sonst hätte ich mich schon ein bisschen verloren gefühlt. Wir verstanden uns auch prächtig, soweit man das mangels Sprachkenntnissen sagen kann. Unter viel Gelächter, mit Händen und Füßen, schilderten wir uns in Kurzfassung unsere Lebensläufe.

Irgendwann in der darauffolgenden Woche muss es dann passiert sein: Irgendwie instinktiv wusste ich, ich wollte Bartek heiraten. Warum? Wieso? Keine Ahnung. Ich wusste einfach, dass er der Richtige war. Ich war 23 Jahre alt, ich war nicht schwanger, ich konnte kein Polnisch, Bartek konnte kaum Deutsch, Wahnsinn, verrückt; wir kannten uns erst ein paar Tage. Trotzdem.

Am darauf folgenden Wochenende bekam ich zum ersten Mal Besuch aus der alten Heimat. Andy und Lisa, die ich durch meine Freundin Cora kennengelernt hatte, meldeten sich an. Ich freute mich riesig auf die beiden und hoffte, mit ihnen über meine Gefühle zu Bartek sprechen zu können. Andy und Lisa hatten auch erst kürzlich geheiratet; allerdings kannten sie sich schon eine Ewigkeit.

Nach ihrer Ankunft am Freitag und dem Pläneschmieden für das gemeinsame Wochenende wurde das Thema Heiraten auch ausführlich diskutiert.

Egal wie lang man sich kennt, ob man heiratet oder nur zusammen lebt; für eine Ehe oder Beziehung gibt es keine Garantie. Also spielt es auch keine Rolle, ob man nach drei Jahren oder nach drei Monaten heiratet. Mit dieser Erkenntnis konnte ich nun leben und diesen Entschluss feierten wir natürlich gebührend.

Am nächsten Morgen gesellte sich Bartek zu uns und wir beschlossen, einen Wochenendtrip nach Davos und St. Moritz zu machen. Es wurde ein wunderschönes Wochenende, wir vier genossen das schöne Wetter und die fantastische Landschaft der Schweiz. Und irgendwann, zwischen irgendwelchen Bergen, ich weiß noch genau, als ob es erst gestern gewesen wäre, wir fuhren mit einer Seilbahn auf irgendeinen Gipfel, da passierte es: Bartek machte mir einen Heiratsantrag. Ihr könnt es glauben oder nicht: Wir kannten uns gerade mal eine Woche! Und ja, ich sagte „Ja“.

Meine Güte, so rückblickend würde ich meinen, dass das ganz schön mutig war. Egal, ich wollte es und ich habe es mein Leben lang nicht bereut.

Andy und Lisa waren völlig aus dem Häuschen, als sie das mitbekamen. Aber sie waren begeistert, da sie sich trotz Sprachproblemen mit Bartek sehr gut verstanden.

Damals konnte ich nicht ahnen, dass dieses Wochenende unter anderem der Beginn einer lebenslangen, wunderbaren Freundschaft werden sollte.

Um den Antrag gebührend zu feiern, kauften wir später in einem der nächsten Dörfer ein paar Flaschen Bier und suchten uns einen schönen Parkplatz. Diesen wollten wir auch zum Übernachten benutzen, da wir alle nicht genug Geld hatten, um eines dieser teuren Hotels zu bezahlen. Es wurde eine feucht-fröhliche Feier – zu viert in einem kleinen Auto. Schlafen, na ja, Lisa und ich auf der Rückbank und Andy und Bartek auf den Vordersitzen. Aber was soll’s, wenn man jung ist, übersteht man auch eine solche Nacht.

Nach diesem ereignisreichen Wochenende stand ich nun vor der schwierigen Aufgabe, meine Familie von meiner bevorstehenden Hochzeit zu informieren. Dass mein Vater mich am liebsten geteert, gefedert oder gevierteilt hätte, steht außer Frage.

Die Vermutung von meiner „Schwangerschaft“, wieso sollte ich auch sonst heiraten wollen, stand ganz klar im Raum.

Mein Bruder Paul ging auf die Barrikaden, angestachelt auch von meinem Vater. Hera, die Frau meines Vaters, mit der ich mich eigentlich bis dahin immer gut verstanden hatte, ging sogar so weit, bei Andy und Lisa anzurufen, um Informationen über meinen Verlobten einzuholen.

Ein Hoch auf die liebe Familie!

Die Einzigen, die zu mir standen, waren meine Schwester Erika und Pauls Frau Dorothea. Sie versuchten zu vermitteln, schließlich sei ich mit 23 Jahren alt genug, um solch eine Entscheidung zu treffen. Doch auch sie hatten keinen Erfolg mit ihren Bemühungen, im Gegenteil, die

beiden riskierten durch ihre Einmischung und Fürsprachen einen handfesten Ehekrach mit ihren Ehepartnern.

Zum Davonlaufen, denn eigentlich wollte ich mich mit meiner Familie doch nicht überwerfen.

Im Oktober fuhr ich nach Mainz, denn ich benötigte für meine Heirat jede Menge Papiere: Ehefähigkeitszeugnis, Führungszeugnis, Geburtsurkunde.

 

Anschließend der schwere Gang in die Eifel zu meinem Vater.

Es war die Hölle. Wie ich es wagen konnte, jemanden zu heiraten, den ich kaum kannte, nicht zu reden vom Rest der Familie! Und dann noch einen Ausländer, einen Polen! Ob ich denn vergessen hätte, wo ich herkäme, den Zweiten Weltkrieg ... Schließlich seien meine Eltern ja von dort vertrieben worden!

Das Gerücht von meiner Schwangerschaft hielt sich weiter, mindestens die nächsten neun Monate noch.

Wie ich Jahre später von Dorothea erfuhr, war mein Vater sogar so weit gegangen, bei Konsulat und Botschaft anzufragen, ob man diese Ehe später annullieren könne.

Ich glaube, es ist unnötig zu erwähnen, dass meine Hochzeit von der gesamten Familie boykottiert wurde.

Mein Vater zog es vor, in den Urlaub nach Teneriffa zu fahren, mein Bruder verbot seiner Frau jeglichen Kontakt zu mir und meine Schwester legte sich eine Blasenentzündung zu.

Toll!

Ich war traurig und tief verletzt. Dieser Tag ist doch ein besonderer im Leben und jeder wünscht sich, sein eigenes Glück mit seiner Familie zu teilen.

Aber Bartek erging es auch nicht anders. Auch seine Familie wollte mit allen Mitteln die Hochzeit verhindern. Schließlich war ich eine Deutsche, war schuld am Zweiten Weltkrieg und noch vieles mehr.

Ein Pole heiratet einfach keine Deutsche. Beide Elternpaare waren sich mit dieser Meinung einig.

Doch Gott sei Dank waren damals die Grenzen noch zu und so konnten auch sie nicht zu unserer Hochzeit kommen.

Rechtzeitig zum 1. Dezember fanden wir auch endlich nach langem Suchen eine schöne große Wohnung für uns beide. Auf Dauer im Wohnheim in einem kleinen Zimmer war eh nicht unser Geschmack.

Bartek fand in einem kleinen Dorf nicht weit vom Spital entfernt eine 3-Zimmer-Wohnung, die er mit dem festen Versprechen zu heiraten, mieten konnte. Damals war das Zusammenleben ohne Trauschein in der Schweiz nicht üblich und wurde demnach von den meisten Vermietern auch nicht geduldet.

Meine Wohnungssuche war zu der Zeit aufgrund meiner Nationalität von Vorneherein zum Scheitern verurteilt. Heute unvorstellbar!

Und dann kam endlich der große Tag. Am 16. Januar 1981 war es dann endlich so weit. Unser Hochzeitstag! Die monatelange Wartezeit, das Suchen der richtigen Papiere, Beglaubigungen vom Notar, es war endlich vorbei.

Wir kannten uns auf den Tag genau fünf Monate.

Es wurde ein rauschendes Fest. Wir feierten von Donnerstag bis Sonntag durch, Freitag heirateten wir.

All unsere Freunde, soweit möglich und in der Schweiz vorhanden, kamen. Lisa und Andy aus Bingen, Cora und Marcus aus Stuttgart und auch meine allerbeste und älteste Freundin Sissi ließ es sich nicht nehmen und reiste mit ihrem Mann Werner aus Mainz an.

Lisa und Jazek waren unsere Trauzeugen.

Zwar heirateten wir nur standesamtlich, das Kirchliche wollten wir auf irgendwann einmal später verschieben, bis unsere Familien sich beruhigt hätten und teilnehmen könnten, trotzdem war es sehr feierlich und irgendwie auch spannend. Es war so weit, stolz setzte ich meinen neuen Namen unter die Trauurkunde. Jetzt hieß ich nicht mehr Christiane Zwengel, sondern Christiane Koslowski.

Unsere Hochzeit war ein klasse Fest. Mal was anderes, nicht in Weiß und ohne Familie.

Bartek und ich vollzogen noch am gleichen Tag unsere Ehe, nachdem wir unser Bett, das von unseren Freunden als „Hochzeitsüberraschung“ versteckt worden war, wiedergefunden und zusammengebaut hatten.

Es war uns beiden bewusst, dass der Tag kommen würde, an dem wir uns gegenseitig unseren Eltern vorstellen mussten, doch wir schoben diese Gedanken erst mal von uns. Wir waren glücklich und wollten uns unter keinen Umständen von unseren Familien auseinanderbringen lassen.

Als nächstes Ereignis stand dann meine Kündigung im Spital bevor. Ich litt unter der Diskriminierung als Ausländerin und wollte nur weg. Der Kanton, in welchem wir lebten, war damals als besonders ausländerunfreundlich bekannt und somit war mein Ziel die Stadt Basel.

Durch meine Heirat mit einem Asylanten war es mir auch möglich, mein auf ein Jahr befristetes Arbeitsverhältnis vorzeitig aufzulösen, ohne Angst zu haben, Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung zu verlieren.

Nach einigem Suchen wurde ich schließlich fündig. Ein Spital mit einer speziellen Onkologiestation bat mich zum Vorstellungsgespräch.

Ich hatte zwar damals relativ wenig Ahnung von Onkologie; während unserer Ausbildung war dieses Spezialgebiet in der Kinderkrankenpflege zwar kurz umrissen worden, doch hatte ich von Onkologie in der Erwachsenenkrankenpflege so gut wie keine Ahnung, aber unbekümmert, optimistisch und hochmotiviert war mir das egal.

Also, neues Spiel, neues Glück.

Am 1. März sollte ich meine neue Stelle antreten.

Aber zunächst kamen die wichtigsten Tage im Jahr eines Mainzers: die Fastnachtstage. Die konnten trotz frischer Ehe nicht ohne mich stattfinden. Bartek wollte nicht mit, das sei nichts für ihn, aber ich könne getrost alleine fahren und feiern. Er vertraute mir, dass ich die tollen Tage nicht zum Fremdgehen ausnutzen würde. Das hatte ich auch nicht vor, ich war frisch verliebt und verheiratet.

Ich wollte nur feiern und Spaß haben, aber ich wollte auch endgültig mit Wolfgang abschließen. Ich musste für mich selbst sicher sein, dass dieses Kapitel für mich endgültig erledigt war.

Dass es so war, diese Erkenntnis bekam ich bei einem Besuch bei ihm zu Hause. Für mich war es vorbei. Allerdings nicht für ihn. Er war durch meine Mitteilung, ich wolle heiraten, furchtbar überrascht worden und konnte einfach nicht glauben, dass ich diesen Schritt ohne Schwangerschaft tun wollte.

Als ich dann nach einem langen Gespräch endlich gehen wollte, bat er mich für alles, was er mir angetan hatte um Verzeihung und auch darum, zu ihm zurückzukehren.

Tja, mein Lieber, das hättest du dir früher überlegen sollen. Jetzt war es zu spät.

Ich verlebte anschließend noch wunderbare Tage in Mainz, Feiern ohne Ende mit meinen Freunden bis Aschermittwoch.

So wie auch die darauf folgenden Jahre kehrte ich krank – ich erkältete mich fürchterlich und litt auch unter dem Verlust meiner Stimme -, aber glücklich und ausgepowert nach Hause zurück.

Von Barteks polnischen Freunden wurde ich als seine Frau auch recht gut aufgenommen – so dachte ich zumindest viele, viele Jahre lang – und mit den Sitten und Gebräuchen ihrer Heimat vertraut gemacht. Wir feierten ständig irgendwelche Partys, tranken literweise Wodka; der einzige Wermutstropfen waren meine nicht vorhandenen Sprachkenntnisse.

Deutsch sprach, mit wenigen Ausnahmen, niemand mit mir. Also musste ich notgedrungen irgendwie versuchen, Polnisch zu lernen. Sprachschulen gab es keine, welche Möglichkeiten hatte ich also noch? Tja, selbst ist die Frau, learning by doing. Für uns Deutsche kein leichtes Unterfangen. Zuerst einmal musste ich lernen, einzelne Wörter zu unterscheiden. Am Anfang hört sich ein polnischer Satz wie ein einziges Wort an. Man hört das Ende eines Wortes nicht. Und dann kommt das Sprachtempo dazu. Das ist so ähnlich wie „Bahnhof, Koffer klauen und Zug ist weg“. Ihr versteht, was ich meine? Katastrophe pur!

Ich nahm mir Barteks Deutschbücher, die Deutsch-Polnisch aufgebaut waren, und versuchte damit zu lernen. Aufgrund meines recht guten Sprachgehörs konnte ich auch irgendwann einzelne Worte verstehen und selbst Sätze bilden. Allgemeines Gelächter entmutigte mich schon hin und wieder, doch eines Tages viele Monate später, hatte ich die Schnauze voll und ich war es leid, mich ständig wegen meiner Aussprache und fehlender Grammatikkenntnisse zum Gespött zu machen. „Ich muss hier in der Schweiz kein Polnisch mit euch sprechen können, aber ihr müsst alle Deutsch lernen, wenn ihr hier leben wollt. Ich tue das nur euch zuliebe. Wenn ihr alle in der Relation so gut Deutsch reden könntet wie ich Polnisch, dann hätte keiner mehr was zu lachen und wir könnten uns problemlos unterhalten!“