Yasemins Kiosk – Eine bunte Tüte voller Lügen

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»Tue ich was?« Er löste seinen Blick vom Garten und wandte sich an die Kioskbesitzerin. »Vergammeltes Fleisch kaufen? Ich bitte Sie! Ob Sie es glauben oder nicht, ich gehe meinem Job aus Leidenschaft nach. Kochen ist mein Leben! Und ich behandele auch meine Mitarbeiter anständig. Das ist kein einfacher Job. Meistens arbeitet man, wenn andere Freizeit haben. Und ich entlohne gut.«

»Was ist eigentlich mit dem Mitgründer Marcel Höhner? Wieso ist der ausgestiegen?«

Pascal Neumann zögerte, bevor er antwortete. »Er ist vor einem guten Jahr ausgestiegen. Ohne ihn hätte ich das Unternehmen so nicht aufziehen können. Letztlich war es ihm aber zu viel Stress und Risiko. Wir haben uns geeinigt und ich habe ihn ausbezahlt. Wir sind noch immer befreundet.«

»Und da sind Sie sich sicher? Ich meine, man kann den Leuten nur vorn Kopp gucken«, gab Yasemin zu bedenken.

»Mag sein. Ich kenne Marcel aber seit der Schulzeit. Wir sind durch dick und dünn gegangen. Glauben Sie mir. Wenn ich mich im Leben auf jemanden verlassen kann, dann auf ihn. Und umgekehrt.«

»Das ist schön, aber wir werden uns trotz allem auch einmal mit Marcel unterhalten. Wo wohnt er?«, hakte Nina nach.

Er seufzte. »Seine Werkstatt liegt an der Eckendorfer Straße. Da treffen Sie ihn häufiger an als zu Hause. Aber ich sage Ihnen noch einmal: Das ist verlorene Zeit.«

Nina schenkte ihm ein freundliches Lächeln. »Vielleicht kann uns Ihr ehemaliger Partner Hinweise geben, die zur Lösung des Falls beitragen und die Sie nicht auf dem Schirm haben. Man muss ja nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen. Vertrauen Sie uns bitte. Erika tut es ja auch.«

»Keks?« Lena Sanders hielt Yasemin und Nina einladend den Teller hin. Beide nahmen sich ein Gebäckstück.

»Mhm. Wirklich köstlich«, urteilte Nina, nachdem sie abgebissen hatte, und Yasemin nickte zustimmend. »Wie sieht’s denn mit Mitbewerbern aus? Erzfeinde?«, richtete sich Nina wieder an Pascal Neumann.

Der schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Bisher war das leben und leben lassen. Und warum sollte ausgerechnet jetzt jemand etwas gegen mich haben? Meine Großkunden habe ich vor einem knappen Jahr akquiriert. Hätte dieser Terror kurz danach begonnen, wäre das ja denkbar. Aber jetzt? Und eigentlich würde ich keinem meiner Kollegen so etwas zutrauen. Wir pflegen hier eine gesunde Konkurrenz, mehr nicht. Bielefeld ist groß genug für alle Caterer, die ihren Job gut machen.«

Nina erhob sich. »In Ordnung, das war’s fürs Erste, Herr Neumann. Falls Ihnen noch etwas einfällt, lassen Sie es uns wissen. Wahrscheinlich müssen wir auch Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf den Zahn fühlen. Aber eins nach dem anderen. Wir melden uns.« Nina hielt ihre Hand hin und Pascal Neumann ergriff sie mit festem Druck.

»Danke für den Kaffee«, wandte sich Yasemin an Lena.

»Bitte schön, ich bringe euch raus.« Lena führte die beiden durch den Flur zurück zur Haustür. »Wo hast du eigentlich deinen Kiosk?«, erkundigte sie sich bei Yasemin.

»In der Siegfriedstraße.«

Sie nickte. »Vielleicht schau ich mal rein, wenn ich in der Gegend bin. Ich hoffe, ihr könnt Pascal schnell helfen, er leidet wirklich sehr unter dieser Sache«, fügte sie leise hinzu.

Nina reichte auch ihr die Hand zum Abschied. »Wenn dir noch etwas Wichtiges einfällt, weißt du ja, wo du uns findest.«

Als die beiden die Autotüren hinter sich geschlossen hatten, brachte Yasemin die Sache auf den Punkt. »Pascal ist aber schon ein Alphamännchen, ne?«

Nina lächelte. »Ich glaube, das musst du auch sein, wenn du in der Küche bestehen willst. Komm, wir fahren jetzt in die Kommandozentrale und bringen Doro auf den Stand der Dinge.«

15

4. September 1991

Heute war der erste Tag auf dem Gymnasium. Wir mussten erst zur dritten Stunde zur Schule kommen und es gab eine Begrüßungsfeier in der Aula. Mama hat sich extra freigenommen, um mich zu begleiten. Sie trug ihr Kostüm für besondere Anlässe, wie sie es nennt, und sah perfekt aus. Ich hatte meine beste Strumpfhose an, die weiße, und mein Lieblingskleid aus Jeans. Ich habe den ganzen Morgen nichts gegessen und getrunken, damit ich mir bloß keinen Flecken auf die Kleidung mache. Nach der Begrüßung hatten wir nur eine Stunde in der Klasse und haben unseren Stundenplan bekommen. Ich kenne niemanden, meine Freunde sind auf die Gesamtschule gegangen. Aber Mama meint, nur das Abi auf dem Gymnasium ist das wahre Abi. Ich sei für Höheres bestimmt. Meine Klassenlehrerin heißt Frau W. und ist nett. Wobei Mama immer sagt, mit nett allein kommt man nicht weit. Aber ich werde mal weit kommen, das weiß ich schon jetzt!

»Klingt hoffnungsvoll, oder?« Langsam klappte sie das kleine Buch zu. Dann starrte sie eine Weile stumm auf das Miststück. »Noch trägst auch du Hoffnung in dir, nicht wahr? Noch redest du dir bestimmt ein, dass alles gut werden wird. Dass du hier heile wieder rauskommst.« Sie lächelte, nahm ihre Tasche und ging zum Ausgang.

Es waren vier Schritte von ihrer Leseecke bis zur Tür. Bevor sie diese sicher von außen verschloss, drehte sie sich noch einmal zu ihrer Gefangenen um. »Weißt du, was Heiner Müller einst gesagt hat? Hoffnung ist nur ein Mangel an Information.«

16

Im Treppenhaus roch es vielversprechend nach deftigem Essen. Nina sog die Luft laut durch die Nase ein.

»Ich tippe auf jeden Fall auf Rosmarinkartoffeln«, verkündete Yasemin.

»Als ob man Kartoffeln riechen kann!«

»Kann man. Aber vor allem den Rosmarin. Es sei denn, man hat so gar keine Ahnung.« Sie drehte sich zu Nina um und streckte ihr die Zunge heraus. »Da fällt mir ein, hattest du nicht gesagt, du bist heute Abend mit Brüggendings verabredet?«

»Das war eine Notlüge, um dich von Ela wegzukriegen.«

»Du Biest.«

»Ich dich auch.« Nina warf Yasemin einen Kussmund zu.

Als Doros Türöffner summte und sie durch den Flur ins Wohnzimmer schritten, nickte Yasemin. »Sach ich ja. Rosmarin.«

»Hallo, meine Lieben! Da unser Mittwochs-Essen ausgefallen ist, dachte ich mir, wir holen das heute nach und ihr könnt mir von eurem Besuch bei Pascal erzählen. Ich war in der Zwischenzeit übrigens auch fleißig.«

»Wo ist Ela?«, fragte Yasemin plötzlich mit Panik in der Stimme.

»Ela liegt nebenan in ihrem Reisebettchen und schläft tief und fest. Sie hat gut gegessen, die Windel anständig vollgemacht und wir haben viel gelacht.« Doro winkte Yasemin und Nina zur Schlafzimmertür und öffnete sie leise.

Für einen Moment blickten die drei Freundinnen gemeinsam auf das friedlich schlafende Baby und lauschten ihren regelmäßigen Atemzügen.

»Ist sie nicht das vollkommenste Geschöpf?«, flüsterte Yasemin gerührt und Nina und Doro nickten.

Leise zogen sie die Tür wieder hinter sich zu und begaben sich ins Esszimmer.

»Ich hoffe, ihr habt Hunger? Ich habe gekocht. Es gibt Hühnerkeulen mit Rosmarinkartoffeln«, sagte Doro. »Setzt euch, ich tische auf.«

Yasemin schaute Nina triumphierend an.

Sie aßen größtenteils schweigend, unterbrochen von kurzen Seufzern, weil es so vorzüglich schmeckte. Wieder einmal hatte Dorothee sich selbst übertroffen. Als sie beim Nachtisch angelangt waren und ihr Tiramisu löffelten, berichteten Yasemin und Nina endlich von ihrem nachmittäglichen Besuch bei Pascal Neumann.

»Demnach werden wir uns nun in den kommenden Tagen die Ex-Frau und den Ex-Partner Höhner vornehmen«, schloss Nina ihre Erzählung und leckte dabei den letzten Rest ihres Tiramisus vom Löffel ab. Doro nickte, ging zur Wandtafel und notierte eifrig.

»Wie ihr euch geschickt der Ex-Frau annähert«, sie tippte mit ihrem Zeigefinger auf den Namen an der Tafel, »ohne dass ihr Pascal in die Bredouille bringt, weiß ich bereits.«

»Na, dann schieß mal los«, sagte Yasemin.

»Erika erwähnte ja, dass Barbara Neumann, die Ex, abgeschieden auf einem Bauernhof lebt. Aber auch wenn Frau Neumann zurück zur Natur will, braucht sie Geld, um zu leben. Und das verdient sie mit Kursen und Seminaren, die sie auf ihrem Hof anbietet. Im Netz findet sich eine Website, sehr einfach von einer Agentur gestaltet. Es sieht also so aus, als ob Barbara Neumann wirklich nicht sehr internetaffin ist. Auf der Seite gibt’s allgemeine Infos über den Hof Ensō und den Hinweis, dass man sich ein Seminarprogramm bestellen kann. Das lag heute in meiner Post.« Doro ging zum Schreibtisch und hielt triumphierend eine Broschüre hoch. »Ein Schweigeseminar, bei dem man seine eigene innere Stimme wiederfinden soll, eignet sich weniger für unsere Zwecke. Aber am kommenden Wochenende findet ein Töpferkurs nur für Frauen statt und das klingt doch sehr gesellig. Da habe ich euch zwei angemeldet.«

»Töpfern. Schön. Das habe ich schon in der Schule gehasst«, antwortete Nina.

»Von deinen persönlichen Vorlieben mal abgesehen, musst du zugeben, dass das ein sehr guter Weg ist, um undercover zu ermitteln. Während des Seminars könnt ihr ganz zwanglos mit Pascals Ex-Frau ins Gespräch kommen. Vielleicht gelingt es euch ja sogar, einen Blick ins Haus zu werfen, und ganz eventuell stolpert ihr zufällig über einen PC, der sich dann anschaltet. Und wenn der schon mal hochgefahren ist, kann man ja schauen, ob man irgendwelche Spuren findet.« Doro warf ihren Freundinnen einen unschuldigen Blick zu.

»Ich finde Töpfern super. Ich töpfere für Ela einen Becher.«

»Klar, fall du mir jetzt noch in den Rücken«, entgegnete Nina.

»Du, meine Liebe, könntest mir doch eine schöne Obstschale basteln. Oder deiner Mutter einen neuen Aschenbecher«, regte Dorothee an. »Wie dem auch sei, Sonntag geht’s um zehn Uhr für euch los. Hier ist die Adresse.«

 

17

Auf das Datum genau war es zwei Jahre her. Damals hatte es geregnet, doch heute prahlte der September mit seiner ganzen Schönheit. Was für ein herrlicher Herbsttag es war!

Sie blickte vom Johannisberg hinunter auf die Stadt, nippte an ihrem Prosecco und fühlte sich königlich. Seit siebenhundertdreißig Tagen war sie auf sich allein gestellt. Der Anfang ihrer Reise war hart gewesen. Sie hatte sich wie ein erbärmlicher Wurm gefühlt: Hilflos. Klein. Einsam.

Sie verzog ihren Mund zu einem bitteren Lächeln. Wie naiv sie damals gewesen war, als sie gedacht hatte, ein Seelenklempner könnte ihr helfen und würde sie verstehen. Nichts hatte der verstanden! »Das war keine liebevolle Verbindung, die Sie erlebt haben. Das war eine destruktive Beziehung. Ich lade Sie ein, mit mir daran zu arbeiten, dass Sie mit Ihren Gefühlen besser umgehen können. Dass Sie sich selbst genug sind, aber auch lernen, die Bedürfnisse anderer wahrzunehmen. Sonst werden Sie nie in der Lage sein, liebevolle Verbindungen aufzubauen. Dazu müssen Sie ehrlich zu sich selbst und gleichzeitig fähig sein, Kritik anzunehmen. Wollen Sie das probieren?«

Nein, das hatte sie nicht gewollt. Stattdessen hatte sie sich nach diesem Schwachsinnsmonolog erhoben und den Therapeuten gefragt, ob er sein Diplom auf einer Baumschule gemacht habe. Und von einem Kerl in einem billigen Polyesteranzug würde sie sich ohnehin nichts sagen lassen.

So ein verfickter Spinner!

Dass sie wusste, was Liebe ist, das bewies sie seit zwei Jahren jeden Tag eindrucksvoll. Sie schätzte, dass sie ihre Mission in spätestens zwei Monaten beenden würde. Eine wohlige Wärme durchströmte ihren Körper. So ein durchdachtes Meisterwerk hätte ihr niemand zugetraut. Und jeder, der sich ihr in den Weg stellte, würde es bitter bereuen.

Sie drehte sich um und kehrte zurück zu der Party, bevor man sie vermisste. Ihre Zeit war gekommen, ihr Projekt lief perfekt. Von wegen, sie sei nicht in der Lage, Dinge durchzuziehen!

18

»Wenn du jetzt nicht runter vom Gaspedal gehst, kotze ich in deinen Fußraum!«

»Ist ja schon gut. Weichei.« Yasemin verringerte die Geschwindigkeit. »Diese Kurvenstraße ist wirklich dazu gemacht, sie – wie sagt Doro immer – flott! Sie ist dazu da, sie flott zu nehmen.« Ihre Freundin nickte zufrieden.

»Pfft!« Nina erinnerte der Weg an eine Passstraße in den Alpen. Sie fuhren über den Hügel ins angrenzende Steinhagen, um irgendwo im Nirgendwo zu töpfern. Es war halb zehn und Nina hatte noch keinen einzigen Schluck Kaffee getrunken, weil sie zu allem Überfluss verschlafen hatte.

Als sie den Ortskern hinter sich gelassen hatten und beidseits nur Felder und Wälder zu erblicken waren, setzte Yasemin irgendwann ihren Blinker rechts und fuhr in eine schmale Straße. Nach einer Weile entdeckten sie ein Hinweisschild zum Hof Ensō. Yasemin drosselte die Geschwindigkeit abrupt, als sie in einen nicht geteerten Feldweg einbog. Am Ende des Weges war bereits das Gehöft zu sehen.

»Ich hoffe, auch alternative Menschen am Arsch der Welt trinken Kaffee«, murmelte Nina missgelaunt, als sie ausgestiegen waren und auf das Hauptgebäude zusteuerten.

»Och, Nina, jetzt mach dich mal locker!« Yasemin legte einen Arm um ihre Schulter.

»Vergiss du vor lauter Begeisterung bitte nicht, dass wir zum Ermitteln und nicht zum Töpfern hier sind!«, zischte die Polizistin leise und stapfte in die Deele.

»Guten Morgen!« Eine Frau Mitte vierzig in Wollpulli, Jeans und robusten Wanderstiefeln schüttelte ihnen die Hand. »Ihr müsst Yasemin und Nina sein, die übrigen Teilnehmerinnen kenne ich alle schon von früheren Workshops.« Sie zeigte auf sechs weitere Frauen, die hinter ihnen am Tisch saßen, frühstückten und freundlich winkten. »Kommt, setzt euch zu uns. Kaffee? Tee?«

»Kaffee, bitte«, entgegnete Nina erleichtert.

»Hallo, ich bin Yasemin, ich hab die wundervollste Tochter, die es gibt, sie ist acht Monate alt, fast neun, heißt Ela und ich will ihr was töpfern! Habt ihr Ideen für mich? Ich hab nämlich gar keine Ahnung vom Töpfern, will’s aber unbedingt probieren und meine Freundin«, Yasemin blickte zu Nina, die sich an ihrer Kaffeetasse festhielt, »begleitet mich netterweise, weil ich allein zu feige war. Und wenn Ela älter ist, kann ich dann mit ihr zusammen töpfern.« Yasemin strahlte die anwesenden Frauen entwaffnend an.

Das Eis war gebrochen, noch bevor Nina sich ihr erstes Brötchen geschnappt hatte.

Nachdem sie in Ruhe zu Ende gefrühstückt hatten, waren die Frauen in die angrenzende Scheune hinübergewechselt, in der Barbara Neumann ihre Werkstatt eingerichtet hatte. Der Töpferofen versetzte Nina prompt in ihre Kindheit zurück. Er sah exakt so aus wie der, der im Kunstraum ihrer Schule gestanden hatte. Die Kunstlehrerin hatte Nina damals unverblümt wissen lassen, dass sie künstlerisch außerordentlich talentfrei sei, aber im Lehrerzimmer habe sie erfahren, dass sie ja immerhin sehr sportlich sei. »Tja, du bist eben anscheinend mehr Junge als Mädchen«, hatte ihre Lehrerin missbilligend geendet. Ninas Reaktion: »Und Sie sind anscheinend mehr Arschloch als weniger, ne?«, hatte ihr damals selbstredend einen Tadel eingebracht. Nina grinste. Das Gesicht der Lehrerin war es definitiv wert gewesen.

»So, ihr Lieben, jede findet an ihrem Platz alles, was sie für ihre Arbeit benötigt«, brachte Barbara Neumann sie wieder in die Gegenwart zurück. »Ihr seid natürlich völlig frei in dem, was ihr töpfern möchtet. Ich gebe euch zunächst eine kleine Einführung in die Grundlagen und komme dann nach und nach an eure Plätze, sodass wir eure individuellen Probleme lösen können.«

Während Yasemin an Barbara Neumanns Lippen hing, ließ Nina den Vortrag an sich vorbeirauschen und starrte auf den Tonklumpen, der vor ihr auf der Arbeitsfläche lag. Nach einer Weile bemerkte sie, dass jede der Frauen bereits freudig knetete. Seufzend feuchtete sie ihre Hände an und nahm den Ton zwischen ihre Finger.

»Probiere es doch mit einer Schale. Runde Formen beruhigen«, hörte sie Barbara Neumanns Stimme hinter sich und zuckte zusammen.

»Aha«, entgegnete Nina nur.

»Du, Barbara, sag mal, du hast ja eben erzählt, dass man zu Hause auch statt mit Ton mit Fimo töpfern kann«, lenkte Yasemin die Aufmerksamkeit auf sich. »Das möchte ich gerne ausprobieren. Kann ich dir vielleicht dann eine Mail schicken, wenn ich mich zu blöd anstelle und noch ’ne Frage hab?«

Gar nicht dumm, dachte Nina.

Barbara Neumann schüttelte den Kopf. »Ich habe leider keinen Computer.«

»Echt nich?«, ließ Yasemin nicht locker. »Aber du hast doch eine Website.«

Barbara nickte. »Die betreut meine Nachbarin, die einen Kilometer von uns entfernt wohnt und sich mit solchen Sachen selbstständig gemacht hat. Einmal in der Woche kommt sie rum und informiert mich über eingegangene Mailanfragen. Es sind nicht viele, denn auf der Seite steht ja, dass nur Anmeldungen per Post berücksichtigt werden.«

»Verlierste dadurch nicht potenzielle Kunden? Post ist ja echt ’nen bisschen oldschool, ne?«

Barbara Neumann zuckte mit den Schultern. »Mag sein, aber das ist dann eben so. Mein Partner und ich haben dieses Leben aus Überzeugung gewählt. Wir möchten einen Kontrapunkt zu der heutigen Wegwerfgesellschaft setzen. Zu diesem übermäßigen Konsum und diesem ständigen und überall erreichbar sein. Privat- und Arbeitsleben verschmelzen und das ganze Leben muss öffentlich zur Schau gestellt werden. Was soll das alles?« Ihre Wangen färbten sich rot und ihre Stimme war lauter geworden. Barbara Neumann war offensichtlich in ihrem Element. Drei der anderen Teilnehmerinnen nickten eifrig.

»Habt ihr Kinder?«, mischte sich Nina unvermittelt ein.

Barbara blickte sie ob des Themenwechsels irritiert an. »Ich habe eine Tochter«, antwortete sie schließlich.

»Und was sagt die zu eurem analogen Leben?«, versuchte Nina, sie aus der Reserve zu locken.

Die Seminarleiterin schaute auf Ninas Tonklumpen. »Wenn sie bei mir ist, findet sie es wunderbar. Mein Mann und ich sind geschieden, wir haben gemeinsames Sorgerecht. Ich weiß nicht, ob du Kinder hast, Nina. Aber hier seine Kindheit zu verbringen«, sie zog mit ihrem Arm einen Halbkreis, »ist doch wie in Büllerbü. Was kann man daran nicht mögen?«

»Und dein Mann? Wie sieht der das?«, fragte Yasemin.

»Mein Ex-Mann. Der sieht das naturgemäß anders«, antwortete Barbara knapp. »So, ihr lieben Frauen.« Sie klatschte in die Hände und schaute in die Runde. »Genug von mir. Wir sind zum Töpfern hier. Ich möchte euch noch ein paar praktische Tipps mit an die Hand geben. Kommt bitte alle an meinen Arbeitsplatz.«

Die Zeit verging für Ninas Geschmack zu langsam. Ganz anders empfand dies offensichtlich Yasemin, die ein bislang verstecktes Talent für sich entdeckt zu haben schien. Nachdem sie eine wunderschöne Tasse für Ela getöpfert hatte, arbeitete sie nun konzentriert an einer kleinen Skulptur. Liebevoll hielt eine Frauenfigur ein Baby in ihren Armen. Nina hatte Yasemin seit der Geburt ihrer Tochter nicht mehr so entspannt gesehen wie in diesem Augenblick. Sie selbst hingegen befolgte halbherzig Barbaras Rat und versuchte sich an einer Schale, bis der richtige Zeitpunkt endlich gekommen zu sein schien. Als alle Teilnehmerinnen in ihre Arbeit vertieft waren und auch Barbara sich einen Tonklumpen auf ihre Töpferscheibe gelegt hatte, fragte sie die Seminarleiterin leise: »Wo sind denn die Toiletten?«

»Im Hauptgebäude, wo wir gefrühstückt haben. Die kleine Treppe hoch und dann gleich links.«

Nina nickte, reinigte sich die Hände notdürftig mit einem Tuch und wechselte ins andere Gebäude. Die Gästetoilette befand sich im Flur vor den privaten Wohnräumen. Leise öffnete Nina die Verbindungstür und horchte. Niemand schien sich in der Wohnung aufzuhalten. Der kurze Flur führte direkt ins Wohnzimmer, von dem die Küche abging. Die Räume waren spartanisch, aber geschmackvoll mit alten Holzmöbeln eingerichtet. Auf der Fensterbank standen zwei Tonskulpturen und eine Vase. Nirgends erblickte Nina einen Fernseher oder einen Computer. Ohnehin sah sie kaum technische Geräte. Vorsichtig zog sie die Schubladen des Wohnzimmerschranks heraus, aber nirgendwo lag ein Tablet oder Notebook.

In der Küche stand ein Gasherd. Mit Holz wurde hier offensichtlich nicht gekocht, da hatte Erika wohl übertrieben. Nina blickte über die Arbeitsfläche: kein Toaster, kein Wasserkocher, keine Mikrowelle. Vergeblich suchte sie hinter den Schranktüren nach technischen Geräten, sondern fand lediglich Töpfe, eine alte Pfanne, Geschirr und Besteck.

Nina schlich zurück in den Flur und öffnete vorsichtig eine weitere Tür, hinter der sie das Schlafzimmer vermutete. Als sie auf das Bett blickte, war sie froh, dass sie so leise gewesen war. Der bärtige Mann, der in Jeans, Shirt und mit verschränkten Armen auf dem Bett lag, schlief tief und fest. Er musste Barbara Neumanns Lebensgefährte sein.

Für einen Augenblick starrte Nina fasziniert auf diesen Mann, der erstaunlicherweise nahezu lautlos schlief. Spätestens ab dem dritten Jahrzehnt war es doch eigentlich Naturgesetz, dass Männer im Schlaf ganze Wälder abholzten. Oder, wie Tim zu sagen pflegte: »Ich schnarche so laut, um durch den Krach potenzielle Bedrohungen wie Bären aus dem Schlafzimmer fernzuhalten.«

Sie löste schließlich ihren Blick von diesem seltenen Männerexemplar, um sich links und rechts umzuschauen, doch auch hier entdeckte sie keinen Computer. Nina atmete möglichst flach und nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte, verharrte sie einige Sekunden, um zu lauschen, ob der Mann vielleicht doch noch wach geworden war. Aber der schien einen sehr gesunden Schlaf zu haben. Das lag wahrscheinlich am fehlenden Elektrosmog und am regelmäßigen Umarmen der Bäume.

Nina sah in den letzten Raum, ein winziges Badezimmer, in dem sich erwartungsgemäß keine elektrische Zahnbürste und erst recht kein Computer befanden.

Als sie Sekunden später die Wohnungstür öffnete, stieß sie einen erschrockenen Laut aus. Barbara Neumann stand direkt vor ihr und starrte sie an.

Nina fasste sich ans Herz. »Himmel, hast du mich erschreckt! Entschuldige, ich muss mich verlaufen haben. Wo, sagtest du, war noch gleich das Klo?«

Schweigend deutete Barbara Neumann auf die Tür rechts von ihr.

Nina stieß sich vor den Kopf. »War ich mal wieder zu schnell unterwegs und bin einfach dran vorbeigerauscht.«

Dem bohrenden Blick ausweichend, schob sie sich an Barbara Neumann vorbei in den Toilettenraum. Dort atmete sie tief aus und versuchte, sich zu beruhigen.

 

Nach einer Weile klopfte es an der Tür. »Entschuldigung, ich müsste auch mal«, hörte sie eine hohe Stimme, die zu Natalie, einer der anderen Kursteilnehmerinnen, gehörte. »Nach drei Kindern kann ich nicht mehr so gut halten, weißt du?«

Nina verdrehte die Augen. Auf diese Information hätte sie gut verzichten können. Sie betätigte die Toilettenspülung und lächelte Natalie beim Herausgehen bemüht freundlich an.

Als sie die Scheune wieder betreten hatte, meinte sie, Barbaras stechenden Blick im Rücken zu spüren.

»Und?«, fragte Yasemin sie flüsternd.

Nina schüttelte als Antwort nur den Kopf.

In der Kaffeepause, in der sich Yasemin mit den weiteren Teilnehmerinnen angeregt über ihre Töpferkünste unterhielt, nutzte Nina die Chance und ging in die Offensive.

»Entschuldige bitte, dass ich eben in eure privaten Räume gestolpert bin. Das war wirklich nicht meine Absicht«, wandte sie sich an Barbara, die sich einen Kaffee eingoss und etwas abseits von den anderen stand.

Die Kursleiterin ließ etwas Milch in ihre Tasse tropfen, rührte den Kaffee eine gefühlte Ewigkeit um und blickte dann lächelnd zu Nina hoch. »Ist schon gut. Du hast da einen Nerv getroffen, aber dafür kannst du ja nichts.«

Nina sagte nichts. Manchmal ermutigten nicht Worte, sondern das Schweigen des Gegenübers, weiterzureden. »Mein Ex-Mann und ich sind leider in einen Rosenkrieg verwickelt.« Barbara seufzte. »Vor einigen Wochen«, sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, »hat eine Frau an einem meiner Seminare teilgenommen. Sie kam mir von Beginn an seltsam vor, etwas stimmte mit ihrer Aura überhaupt nicht.« Bei dem Wort musste Nina sich zusammenreißen, nicht genervt aufzustöhnen. Aura. Karma. Chakra. Das alles lief bei ihr unter dem Oberbegriff Quatschgedöns.

»Später habe ich sie in unserer Wohnung erwischt«, fuhr Barbara Neumann fort, »wie sie gerade eine Schublade aufzog. Mein Mann … mein Ex-Mann hatte sie beauftragt, hier herumzuschnüffeln, in der Hoffnung, dass sie irgendetwas findet, das mich in Misskredit bringen könnte.«

Jetzt war Nina baff. »Hat die Frau das gesagt?«

Barbara nickte. »Ich habe sie natürlich zur Rede gestellt und wollte die Polizei rufen. Sie hat mich angefleht, das nicht zu tun. Sie sei alleinerziehend, habe einen kleinen Sohn, es nur des Geldes wegen gemacht und so weiter und so weiter. Ich bin dann weich geworden, hab sie ziehen lassen und ihr gesagt, sie soll sich nie wieder hier blicken lassen.«

»Wie sah die Frau aus? Perfekt gestylt? Blonde Haare?«

»Nein, braune Haare und eher der Graue-Maus-Typ. Aber wieso interessiert dich das?«, fragte die Seminarleiterin argwöhnisch.

Damit sie ausschließen konnte, dass Lena Sanders involviert war. Nina verfluchte sich innerlich selbst. Wie konnte sie nur so unvorsichtig sein! Offensichtlich vergaß sie langsam, aber sicher, wie man anständig ermittelte. Sie lachte laut auf, um Zeit zu schinden, und dachte derweil fieberhaft nach. »Wenn ich dir das jetzt sage, hältst du mich für komplett bescheuert«, fabulierte sie, nahm sich nun auch eine Tasse und goss langsam Kaffee hinein. »Yasemin und ich schauen jeden Sonntag gemeinsam Tatort«, fuhr sie fort. »Ist dir schon mal aufgefallen, dass die bösen Frauen dort meistens blond und besonders attraktiv sind? Also haben wir uns vor einiger Zeit vorgenommen, einen Reality Check zu machen. Immer, wenn wir nun im wirklichen Leben etwas über fiese Frauen hören, checken wir die Haarfarbe. Bislang steht es siebzehn zu fünfzehn zu sechs – blond, brünett, rot.« Nina war sich sicher, dass Barbara Neumann ihr diese bekloppte Geschichte niemals abnehmen würde. Aber es war das Beste, was ihr Hirn auf die Schnelle ausgespuckt hatte.

Zu ihrer Erleichterung schmunzelte die Seminarleiterin. »Ich habe keinen Fernseher, aber nette Statistik, die ihr da erhebt. Im Nachhinein ärgere ich mich, dass ich die Frau einfach weggeschickt habe. Hätte ich sie offiziell angezeigt, hätte ich das im Sorgerechtsstreit gegen meinen Ex verwenden können. Auch wenn er natürlich bestritten hat, die Frau engagiert zu haben.«

»Ist er denn so ein schlechter Vater oder warum willst du das alleinige Sorgerecht? Zahlt er nicht? Arbeitet er nur?«

Sie winkte ab. »Geld ist nicht das Problem. Er hat einen Feinkostladen und ein gut laufendes Cateringunternehmen, das immer erfolgreicher wird. Trotzdem nimmt er sich Zeit für seine Tochter. Zumindest seit wir getrennt sind. Damals, während er sich sein Geschäft aufgebaut hat, haben wir ihn kaum noch zu Gesicht bekommen. Das war auch einer der Gründe, warum ich … Na ja, egal.« Barbara Neumann atmete hörbar durch die Nase aus. »Er redet mich und meinen Lebensstil ständig vor unserer Tochter schlecht und differenziert nicht zwischen unserer Beziehungsebene und der Eltern-Kind-Ebene. Wäre ihr Lebensmittelpunkt hier, wäre vieles einfacher.«

Nina schaute für einen Moment in ihre Tasse. »Ich habe keine Kinder, also sollte ich wohl keine Meinung dazu äußern. Aus eigener Erfahrung kann ich dir nur sagen, dass ich mir beim Aufwachsen einen Papa gewünscht hätte. Vielleicht könnt ihr beide eure Differenzen ja noch aus der Welt räumen.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Ja, dazu bin ich auch lange bereit gewesen und habe manche dicke Kröte geschluckt. Aber als diese Frau hier aufgetaucht ist, ist mir endgültig die Hutschnur geplatzt. Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Nun kämpfe ich für das alleinige Sorgerecht.« Barbaras entschlossener Blick verriet, dass dies keine leeren Worte waren.

Nina nickte und schaute auf die Uhr. »Ich mache mich mal besser wieder an meine Obstschale. Sonst muss ich noch nachsitzen.«

Yasemin war sehr fleißig gewesen. Am Ende des Tages hatte sie eine Mutterfigur mit Kind, einen Becher und eine schön geformte Vase fertiggestellt. Ninas Obstschale sah man an, dass sie mit bedeutend weniger Hingabe erschaffen worden war. Da der Ton vor dem Brennen trocknen musste, hatte Barbara ihnen mitgeteilt, dass sie ihre Kunstwerke in einer guten Woche würden abholen können.

»Die Vase schenke ich Doro, da freut sie sich bestimmt«, erklärte Yasemin auf der Rückfahrt und drückte aufs Gaspedal.

»Schön. Du musst aber leben, um sie ihr überreichen zu können, also fahr bitte vorsichtiger«, konterte Nina.

Eine Zeit lang starrte sie schweigend auf die vorbeifliegende Landschaft. Dann sah Nina Yasemin von der Seite an. »Und, was denkst du?«

»Dass du das Töpfern wirklich sein lassen solltest.«

Nina rollte mit den Augen. »Was denkst du über Pascals Ex?«

»Die hat damit nix zu tun.«

Nina nickte. »Sehe ich genauso. In der Wohnung war kein Computer und es wirkt so, als ob sie wirklich davon überzeugt ist, dass Pascals Catering bestens läuft. Wusstest du, dass er eine Frau engagiert hat, die auf dem Hof rumschnüffeln sollte? Zumindest behauptet Barbara das.«

Yasemin blickte kurz erstaunt zu ihr hinüber. »Echt? Nee, wusste ich nich. Also, wenn ich ehrlich bin, finde ich Barbara sogar echt nett.«

»Ja, das geht mir auch so – sofern ich ihr Aura-Gerede ausblende. Aber vergiss nicht: Die Sorgerechtssache geht uns nichts an. Und Sympathie hin oder her, was Pascal im Moment widerfährt, ist nicht fair. Das könnte seine ganze Existenz ruinieren.«

Yasemin nickte. »Jau. Ich finde es einfach nur schade, dass die kein Paar mehr sind und sich so an die Gurgel springen.«

Nina seufzte. »Stimmt. Aber das ist deren Baustelle und nicht unsere.«

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