Yasemins Kiosk – Eine bunte Tüte voller Lügen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

11

Seit Nina in Doros Haus wohnte, gab es für sie zwei feste Termine in der Woche. Jeden Sonntagabend schaute sie gemeinsam mit Yasemin und Doro den Tatort im Fernsehen. Während ihre beiden Freundinnen stets hoch konzentriert das Geschehen verfolgten, übernahm sie zuverlässig die Rolle der Spielverderberin und ließ Kommentare fallen wie »Das ist so unrealistisch« oder »Ja, schon klar. Er war’s. Wie lahm«.

Je nachdem, was gerade zur Hand war, warf Yasemin dann Chipstüten, Kissen und neuerdings auch Babyspielzeug in ihre Richtung.

Jeden Mittwochabend lud Dorothee Yasemin und Nina zum Essen ein. Ihre Vermieterin war eine ausgezeichnete Köchin, die sie je nach Jahreszeit mit deftigem Braten, Rouladen, einer raffinierten Suppe oder auch mal einem Salat verwöhnte. Doch als Nina an diesem Abend Doros Wohnung betrat, roch es weder nach köstlichem Gebratenen noch war wie sonst der Tisch liebevoll gedeckt. Stattdessen war Doro damit beschäftigt, ihr Wohnzimmer in die Kommandozentrale von einst zu verwandeln. Rechts neben dem Schreibtisch hatte sie bereits Platz für die Magnetwand freigeräumt, die sie damals genutzt hatten, um ihre Ermittlungsergebnisse zusammenzutragen.

»Hilf mir mal gerade«, bat sie Nina und führte sie in ihren Abstellraum. Gemeinsam trugen sie die Magnetwand an den vorgesehenen Platz. »Sehr schön.« Doros Wangen waren von der Anstrengung des Tragens und vielleicht auch vor Vorfreude gerötet. »Jetzt schmiere ich uns schnell ein paar Brote, schneide uns Gürkchen auf und sobald Yasemin hochkommt, planen wir unser Vorgehen.«

Während Dorothee in die Küche verschwand, setzte sich Nina leise seufzend aufs Sofa. Sie hatte sich auf ein warmes Abendessen gefreut, doch daraus wurde wohl nichts. Bei ihr blieb die Küche meistens kalt, zum Kochen fehlten ihr Lust und Geduld. In der Regel schmierte sie sich ein Brot, aß einen Fertigsalat oder ein Müsli. Und sie kannte so ziemlich jeden Schnellimbiss der Stadt. Deshalb stellten Abendessen bei Doro und die gelegentlichen Restaurantbesuche mit Tim ihre kulinarischen Highlights dar.

Sie blickte nach rechts. Von Doros Mitbewohnerin Thekla, die neben dem Sofa im Terrarium hauste, konnte sie kein Mitleid erwarten. Die Vogelspinne verharrte starr in der linken Ecke ihres Domizils. Auf dem Wohnzimmertisch entdeckte Nina die Zeitschrift eines lokalen Lions Clubs und nahm sie in die Hand.

»Bist du eine Löwin?«, fragte Nina Dorothee, die aus der Küche zurückkehrte.

»Nein, Jungfrau«, antwortete die prompt und lachte los, als sie das Blatt in Ninas Händen sah. »Ach so, ja. Ich bin da Mitglied. Ich gestalte manchmal Flyer für Veranstaltungen und schreibe auch Pressemitteilungen. Dinge, für die man die eigenen vier Wände nicht verlassen muss. Der Lions Club unterstützt lokale Vereine und Initiativen.« Doro war auf Heimarbeit angewiesen, denn sie litt an Agoraphobie.

Nina blätterte durch das Magazin. Als sie auf der hinteren Seite bei einem Nachruf hängen blieb, entfuhr ihrer Vermieterin ein tiefes Seufzen und Nina blickte hoch. »Kanntest du den Mann?«

Doro nickte. »Ich habe mit Volker ein paar Semester zusammen studiert. Ein sehr intelligenter Typ. Zudem sehr attraktiv«, setzte sie hinterher und lächelte dabei. »Er war einige Jahre jünger als ich. Ich habe ja erst eine Ausbildung gemacht und später mit dem Studium begonnen. Wir haben ab und zu gemeinsam Referate gehalten und manches Mal ist unser Kaffee kalt geworden, wenn wir uns getroffen haben. Die Gespräche mit ihm waren so wunderbar anregend.« Für einen Moment blickte sie verträumt aus dem Fenster. »Er ist dann, nachdem er einige Jahre hier an der Uni gelehrt hat, wie gefühlt jeder dritte Ostwestfale nach Berlin gegangen. Ach, egal. Vergangene Zeiten.« Sie winkte ab. »Aber es hat mich traurig gemacht zu lesen, dass er tot ist. Das ist kein Alter, um zu sterben«, fügte sie leise hinzu.

»Nein, das ist es nicht«, stimmte Nina zu. Der Artikel verriet, dass Volker 1955 geboren worden war. Es war von einem plötzlichen Tod die Rede, Details wurden nicht genannt. Sie hatte die Zeitschrift gerade wieder auf den Tisch gelegt, als es an der Wohnungstür klopfte.

Nina deutete Dorothee an, dass sie öffnen würde. Yasemin gab ihr vor der Tür mit dem Zeigefinger vor dem Mund zu verstehen, dass die kleine Ela neben ihr in der Babyschale schlief und sie bloß keinen Mucks von sich geben sollte. Auf Zehenspitzen schlichen die beiden Frauen in Doros Schlafzimmer, zogen die Gardinen zu, stellten die Kleine in den kühlen Raum und begaben sich anschließend zurück ins Wohnzimmer.

»Yasemin, Liebes, wunderbar, da bist du ja. Ela schläft?«, begrüßte Dorothee sie.

Die junge Mutter nickte. »Ja, schauen wir mal, wie lange.«

»In Ordnung. Dann lasst uns schnell beginnen.« Doro stellte die geschmierten Brote und die sauren Gurken auf dem Wohnzimmertisch neben dem Stövchen ab. »Bedient euch«, forderte sie ihre Freundinnen auf, während sie an die Magnetwand trat und darauf Pascal notierte.

Liebevoll umkreiste sie den Namen. »Ich habe gestern Abend schon ein wenig recherchiert. Seit 2006 ist Pascal alleiniger Besitzer des Feinkostgeschäftes Neumann. Vorher hat er eine Ausbildung zum Koch gemacht, danach in einigen Küchen sein Können verfeinert und eine Zeit lang im Ausland gearbeitet. 2016 hat er zusammen mit Marcel Höhner das Cateringunternehmen Neumann gegründet. Bis zum vergangenen Jahr führten das beide zusammen, dann ist Höhner ausgestiegen. Seitdem ist Pascal auch alleiniger Besitzer des Cateringunternehmens.«

»Warum ist sein damaliger Partner ausgestiegen?«, hakte Nina nach.

Doro zeigte mit dem Finger nacheinander auf Yasemin und sie. »Das wäre eine erste Frage, die ihr Pascal bei eurem Antrittsbesuch stellen könnt.«

Ein kurzer Laut drang aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer und Yasemin sprang wie von Thekla gestochen vom Sofa auf.

»Du weißt doch, die Kleinen träumen manchmal nur, da muss man vielleicht nicht sofort …«

Doch so schnell wie Yasemin in den Flur gerannt war, hatte sie Doros Ratschlag gar nicht mehr gehört.

»Ela hatte ihre Augen noch zu, hat sie wohl wieder mal nur geträumt«, verkündete Yasemin erleichtert, als sie sich wenig später zurück aufs Sofa plumpsen ließ. »Wo waren wir?«

Nina und Doro lächelten sich an.

»Nina und du, ihr fahrt zu Pascal und führt ein erstes Gespräch. Erika hat ihm bereits angekündigt, dass ihr morgen Nachmittag vorbeikommt. Ich kümmere mich so lange um den Kiosk und gerne auch um Ela, falls du sie nicht mitnehmen möchtest.«

»Aber ich könnte ja auch im Kiosk und bei meiner Süßen bleiben und du könntest …«

»Du weißt, dass ich das Haus nicht verlasse.«

»Aber damals hast du es doch auch geschafft«, versuchte Yasemin es erneut.

»Das war eine Ausnahmesituation. Ich war mit Medikamenten vollgepumpt und ihr wart in Todesgefahr. Ich brauche noch etwas Zeit.«

»Es ist schon großartig, dass du mittlerweile problemlos deine Wohnung verlässt, Doro, und dich innerhalb des Hauses und im Kiosk frei bewegst, nicht wahr, Yasemin?« Nina warf der Angesprochenen einen vielsagenden Blick zu. »Du wünschst dir ja auch manchmal, dass du entspannter mit Ela umgehst, aber manche Dinge brauchen eben ihre Zeit.«

»Okay, okay.« Die junge Mutter hob entschuldigend die Arme. »Sorry, Doro, ich wollte nicht doof zu dir sein.«

Die winkte ab. »Ist schon gut, Liebes. Ich weiß, du meinst es nur gut und möchtest mich bestärken. Wer möchte noch eine Scheibe Brot?« Sie hielt den Teller einladend hoch.

Yasemin bediente sich und stieß sich, noch während sie kaute, vor den Kopf. »Das hab ich ja ganz vergessen, Nina: Wie war denn dein Essen mit Brüggendings?«

»Es war … nett.«

»Nett? Nett ist der kleine Bruder von scheiße. Jetzt sag mal wirklich, wie es lief«, forderte Yasemin sie auf und Dorothee lachte. »Yasemin, wenn Ela etwas älter ist, solltest du hier und da vielleicht über deine unverblümte Ausdrucksweise nachdenken.«

Nina rutschte auf ihrem Platz hin und her. »Er hat mich gefragt, ob ich Kinder haben möchte«, murmelte sie schließlich.

»Oho!«, reagierten ihre beiden Freundinnen wie aus einem Mund.

Ninas Wangen wurden heiß. »Ob ich mir prinzipiell so ganz allgemein vorstellen kann, irgendwann mal Kinder in die Welt zu setzen«, versuchte sie zu relativieren. »Und ich habe nicht wirklich darauf geantwortet«, fügte sie leise hinzu.

»Weil …?«, versuchte Yasemin weitere Informationen aus ihr herauszukitzeln.

»Weil mir die Frage die Kehle zugeschnürt hat.« Nina griff schnell nach der letzten Scheibe Brot mit Salami, obwohl sie keinen Hunger mehr hatte.

Ihre beiden Freundinnen schwiegen.

»Dann solltest du vielleicht in dich hineinhorchen, warum das so ist«, entgegnete Doro nach einer Weile.

Im Nebenzimmer gab Ela unmissverständlich zu verstehen, dass es mit der Nachtruhe fürs Erste vorbei war.

»Ich geh jetzt mit ihr runter. Zeit für eine Nachtmilch. Iyi geceler, bis morgen!« Yasemin verschwand im Flur und wenige Sekunden später hörten Doro und Nina die Wohnungstür ins Schloss fallen.

»Wie läuft’s denn mit deinen Übersetzungen?«, versuchte Nina rasch, das Thema zu wechseln.

Doch Dorothee ignorierte ihr klägliches Ablenkungsmanöver und goss nach. »Das Schöne daran, eine alte Frau zu sein, ist ja, dass man ungeniert Ratschläge verteilen kann, egal, ob der Adressat sie hören will oder nicht. Der Mensch ist ein Herdentier, liebe Nina. Tim Brüggenthies ist in meinen Augen ein toller Mann. Liebst du ihn?«

Nina starrte auf ihre Tasse und wusste die Antwort. Aber zu lieben und mutig genug zu sein, sich dem ganz hinzugeben, waren in ihren Augen zwei verschiedene Paar Schuhe.

 

Doro wartete nicht länger. »Ich denke, du tust gut daran, deine Altlasten abzuwerfen und dich in neue Gewässer zu wagen. Damit meine ich nicht, dass du Kinder in die Welt setzen sollst. Oder ein Haus bauen musst. Ich meine die Bereitschaft, sich auf eine ernsthafte Beziehung mit einem Menschen einzulassen. Sonst endest du womöglich als alte alleinstehende Frau, die in ihrer Wohnung hockt, eine Spinne oder schlimmer noch eine Katze als Haustier hat und von Tag zu Tag seltsamer wird.«

»Ich habe nicht den Eindruck, dass du von Tag zu Tag …«

»Ich rede ja auch nicht von mir!« Doro schaute sie entrüstet an.

Nina wollte sich hastig entschuldigen, da zwinkerte ihr ihre Vermieterin schelmisch zu.

Erleichtert nahm Nina noch einen Schluck Tee und erhob sich dann. »Wie immer hast du recht, liebe Doro«, sagte sie zum Abschied. »Wir werden sehen. Aber fürs Erste«, sie zeigte auf die Magnetwand, »haben wir einen Fall zu lösen.«

12

Die Herbstsonne war hinter den Hügeln des Teutoburger Waldes versunken, als sie wieder das Versteck aufsuchte. Sie hatte nicht viel Zeit. Das Miststück schaute sofort auf, als sie den Kellerraum betrat, und gab panische Laute von sich.

Sie wartete mit einigen Metern Abstand, bis die Frau aufgab und still wurde. Doch der Blick, den ihr das Miststück zuwarf, gefiel ihr nicht. Er trug zu viel Wut in sich und zu wenig Respekt. Sie schritt auf die Gefangene zu und gab ihr eine saftige Ohrfeige. »Schau. Mich. Nie. Wieder. So. An«, zischte sie.

Es trug Früchte, Angst flackerte in den Augen der anderen auf. Schließlich nahm sie eine Wasserflasche aus ihrer Tasche, hielt sie ihr vor das Gesicht und sagte: »Ich gebe dir etwas zu trinken, wenn du still bleibst.«

Die Frau nickte hektisch.

Erneut wartete sie ein paar Sekunden, dann befreite sie ihre Gefangene von dem Knebel und führte die Wasserflasche an ihren Mund. Diese trank so hastig, dass das Wasser links und rechts aus ihrem Mund auf ihre Kleidung lief.

»Benimm dich. Hat dir niemand Tischmanieren beigebracht?«

Sie nahm ihr die Flasche wieder weg. Als das Miststück daraufhin versuchte, noch ein letztes Mal ihren Mund an die Flasche zu führen und flehende Laute von sich gab, holte sie erneut aus. »Du hast für jetzt genug. Und trink das nächste Mal langsamer.«

Sie steckte ihr den Knebel wieder in den Mund, setzte sich in ihre Leseecke, nahm ein Buch aus ihrer Tasche und schlug die erste Seite auf. »Und jetzt lese ich dir etwas vor.«

13

Ihr Telefon riss Nina unsanft aus dem Schlaf. Doch als sie mit einem Auge auf ihren Wecker schaute, wusste sie, dass sie keinen Grund hatte, sauer zu sein. Halb zehn war eine Uhrzeit, zu der man guten Gewissens Menschen anrufen durfte. Die Welt konnte ja nichts dafür, dass Nina ein ausgesprochener Morgenmuffel war.

Sie raffte sich auf, holte sich das Telefon, das auf ihrem Sofa lag, und legte sich damit wieder unter die noch warme Decke.

»Hallo?«

»Ich finde ja, dieses ›Hallo‹ ist eine Unart. Du hast doch einen Namen!«

»Guten Morgen, Hetta, ich dich auch«, antwortete sie. »Kleine Vorwarnung: Du hast mich geweckt und ich hatte noch keinen Kaffee. Mein Geduldsfaden ist also im Moment wie deiner stets ist: extrem kurz.«

»Dann sieh mal zu, dass du dir einen Kaffee besorgst. In zwei Stunden hast du einen Termin auf dem Friedhof in Schildesche.«

»Wer ist gestorben?«

»Niemand, den wir kennen. Aber deine treu sorgende Mutter hat dir eine Stelle für deine Sozialstunden besorgt. Allerdings nur, wenn du dich Carl gegenüber etwas weniger bescheuert verhältst als mir.«

»Und Carl ist?«

»Der Friedhofsgärtner. Stell dir vor: Arbeit im Freien, bei der dir kaum Menschen über den Weg laufen – zumindest keine lebenden. Ist doch genau das Richtige für dich!«

Nina dachte einen Moment nach. Auch wenn sie es nur ungern zugab, hatte ihre Mutter recht. Die Vorstellung, in einem Pflegeheim oder Kindergarten auszuhelfen, gefiel ihr schon allein wegen der vielen Regeln, Vorgesetzten und Kollegen nicht. Sie hatte ein Problem mit Autoritäten. Aber ein bisschen gärtnern bei frischer Luft, das könnte ihr in der Tat gefallen.

»Okay. Wo muss ich hin?«

»Carl erwartet dich um zwölf Uhr vor der Friedhofskapelle. Benimm dich.«

Nina verdrehte die Augen und rang sich ein »Danke, Hetta« ab. Sie hörte, wie sich ihre Mutter eine Zigarette anzündete und einen tiefen Zug nahm.

»Gern geschehen«, entgegnete sie, ganz ohne Sarkasmus in der Stimme. Ihre Mutter war stets für eine Überraschung gut.

Exakt fünf vor zwölf zeigte die Uhr an, als Nina ihr Auto auf dem Parkplatz des Friedhofs abstellte. Ob sie dies als Zeichen für etwas werten sollte? Sie schmunzelte. Höchstens als Zeichen dafür, dass sie sich zügig und ohne Umwege zur Kapelle bewegen sollte, denn ein zu spätes Kommen würde sicherlich keinen guten Eindruck erwecken.

Sie spazierte über den alten Teil des Schildescher Friedhofs und sah bereits von Weitem einen Mann im Eingangsbereich der weiß getünchten Kapelle stehen. Es nieselte. Nina beschleunigte ihren Schritt, um schneller das Vordach der Kapelle zu erreichen.

»Mahlzeit, ich bin Nina Gruber. Sie haben mit meiner Mutter telefoniert, vielen Dank, dass ich mich vorstellen darf.« Sie streckte dem Mann die Hand hin.

Er war fast zwei Köpfe größer als sie und hatte einen kräftigen Händedruck. Wegen der Kappe, die er trug, lag sein Gesicht zur Hälfte im Schatten. »Mahlzeit. Kein Problem. Hab gehört, du hast einem prügelnden Familienvater die Fresse poliert? Glückwunsch.«

Nina schaute für einen Moment auf ihre Schuhspitzen und nickte. »Klingt so, als hätte Hetta Sie über das Wesentliche bereits informiert.«

Carl lachte leise. »Sagen wir, sie ist eine Frau der klaren Worte. Aber das weißt du als ihre Tochter ja bestimmt besser als jeder andere. Und offiziell weiß ich sowieso von nichts. Lass uns uns mal duzen, sonst fühle ich mich so alt.«

Nina nickte erneut.

»Willste eine kleine Runde über den Friedhof drehen oder biste aus Zucker?«

Nun lachte sie. »Meine Jacke ist wasserfest.«

Er deutete auf die Kapelle hinter ihnen. »Die wurde 1930 gebaut und steht seit 2002 unter Denkmalschutz.«

Nina betrachtete das schlichte Kreuz auf der Hauptgiebelfläche. »Ich finde die Kapelle sehr schön. Auch wenn es sich komisch anfühlt, das zu sagen.«

»Weil dort Tote aufgebahrt werden? Der Tod gehört nun mal zum Leben, auch wenn das den meisten Menschen nicht passt. Ich bin schon immer gerne über Friedhöfe spaziert. Da isses so angenehm …«

»… ruhig«, komplettierte Nina den Satz.

Er nickte. Sie ließen die Kapelle hinter sich liegen und spazierten los. »Auf dieser Seite findest du übrigens auch noch ein paar sehr schöne alte Familiengräber.«

Nach einer Weile gelangten sie an eine Hauptstraße, die den alten vom neuen Part des Friedhofs trennte. Während sie an der Fußgängerampel warteten, blickte sie Carl von der Seite an und fragte sich, wie alt er wohl war. Mitte fünfzig vielleicht? Seine Hände waren kräftig und offensichtlich Arbeit gewohnt.

»Ich bin gerne an der frischen Luft«, sagte er plötzlich recht laut, als ob er Ninas Betrachtung unterbrechen wollte. Sie überquerten die Straße und betraten den jüngeren Friedhofsteil.

»Ich auch«, sagte sie schnell.

»Da«, Ninas Blick folgte seinem Fingerzeig, »ist die Grabstätte des Konvents der Breslauer Ursulinen. In den Fünfzigerjahren wurde das Ursulinenkloster in Schildesche gebaut.«

»Interessant. Wie lange bist du hier schon als Gärtner tätig?«, erkundigte sich Nina.

Er zuckte mit den Schultern. »Seit zwölf Jahren.«

»Und was hast du vorher …«

Er unterbrach ihre Frage. »So, da vorne ist dann unser Mitarbeiterhäuschen. Bis wir das erreichen, kannste dir überlegen, ob du deine Sozialstunden hier ableisten willst.«

»Da muss ich nicht lange überlegen. Ich habe morgen einen Termin mit der Bewährungshilfe und würde das mit denen besprechen«, entgegnete Nina.

Er nickte. »Wenn das klargeht, erwarte ich dich nächste Woche hier. Und dann heißt’s für dich FFZ.«

»FFZ?«

»Erfährste dann.« Er führte zum Abschied seine Hand zu seiner Kappe und deutete zur Eingangspforte am Ende des Weges. »Du findest selbst raus, nicht?«

Sie mochte Carl.

14

»Und wenn sie den Obstbrei wieder nicht isst, kannste ihr ein halbes Brot schmieren. Wenn sie doch Obst isst, kannste ihr auch so ’ne Hirsestange dazugeben oder …«

»Yasemin, ich mache das nicht zum ersten Mal. Ela und ich werden einen schönen Nachmittag miteinander verbringen und ihr fahrt jetzt bitte. Dein Kind wird nicht verhungern. Ihr seid höchstens zwei Stündchen weg.«

»So lange habe ich Ela noch nie allein gelassen«, jammerte Yasemin.

Doro deutete mit einer Kopfbewegung Richtung Ausgang und formte lautlos an Nina gerichtet die Worte: »Geht jetzt!«

Die legte Yasemin, die Ela noch auf dem Arm hielt, ihre Hand auf die Schulter. »Kommst du? Ich habe heute Abend noch ein Date mit Tim, zu dem ich gerne pünktlich erscheinen würde.«

Yasemin drehte sich erstaunt um. »Echt?«

»Echt.« Nina nahm Yasemin Ela ab und übergab sie an ihre Vermieterin. »Tschüss, Doro, bis später!«

Beim Hinausgehen hielt Nina einer jungen Frau die Tür auf und grüßte freundlich. Die antwortete mit einem Nicken und betrat zögerlich den Kiosk.

»Komm, wir nehmen meinen Wagen«, störte Yasemin Ninas Beobachtung.

Die beiden steuerten auf den Innenhof zu. Hinter dem mittleren Garagentor verbarg sich ein wunderschön restaurierter alter Mercedes in einem knalligen Rot, den einst Doro besessen hatte. Sie hatte ihn Yasemin geschenkt, nachdem die junge Kioskbesitzerin beschlossen hatte, ihre Prüfungsangst zu überwinden und ihren Führerschein zu machen.

»Schließt du eigentlich das Garagentor nie ab?«, fragte Nina skeptisch, als Yasemin es einfach hochschob.

»Wer soll denn hier was klauen? Erika oder Heinz?«

Nina war versucht zu antworten, dass im Hinterhof auch schon mal eine Leiche abgelegt worden war, verkniff es sich aber, um nicht alte Geschichten aufzuwühlen. Ehe sie sich in das Prachtstück setzte, schob sie im Fußraum eine Colaflasche und leere Weingummitüten zur Seite.

»Ich habe eben Mittag gegessen, mein Magen ist voll, also halte dich bitte etwas zurück«, mahnte sie. Yasemin fuhr wahnsinnig gerne Auto. Und oft fuhr sie wahnsinnig Auto. Mal zu zügig, mal zu langsam, je nachdem, was sie gerade zu erzählen hatte. Pro Fahrt begegneten ihnen mindestens ein göt herif, also Arschloch, und mehrere aptallar, Idioten. Das war auch der Grund, warum Yasemin nie mit Ela Auto, sondern immer nur Bus und Bahn fuhr: »Weil einfach zu viele Idioten einen Führerschein besitzen.«

Nach einer Viertelstunde hielten sie vor einem schicken Einfamilienhaus in einer Neubausiedlung und Nina schickte ein kurzes Dankesgebet in den Himmel, dass die Fahrt so harmlos verlaufen war.

Wider Erwarten öffnete ihnen nicht Pascal Neumann die Tür, sondern eine sympathisch wirkende Frau, die Nina um einige Jahre jünger schätzte, als sie selbst es war. Vielleicht hatte sie auch einfach nur einen gesünderen Lebensstil – was zugegebenermaßen keine große Kunst wäre.

»Guten Tag, mein Name ist Nina Gruber und das ist Yasemin Nowak, wir haben einen Termin mit Pascal Neumann.«

Die Frau lächelte sie freundlich an. »Hi, ich bin Lena.« Die blonde Schönheit reichte ihnen die Hand und führte sie ins Wohnzimmer. Ihr khakifarbener Jumpsuit schmiegte sich an ihren scheinbar makellosen Körper. »Pascal ist gerade im Bad, er kommt sofort. Kaffee?«

»Immer«, antwortete Nina und Yasemin ergänzte: »Wir sind kaffeesüchtig.«

Sie setzten sich auf das cremefarbene Ledersofa. Das Wohnzimmer war modern mit hellen Möbeln im skandinavischen Stil eingerichtet.

»Ich dachte, Pascal und seine Frau sind getrennt?«, flüsterte Yasemin, als Lena in die Küche verschwunden war.

»Ja, seine Frau heißt ja auch nicht Lena, sondern Barbara«, erinnerte Nina Yasemin, bevor Pascal Neumann aus dem Flur getreten kam.

»Ah, die Privatermittlerinnen, die meine Tante in den höchsten Tönen gelobt hat. Danke für Ihr Kommen.« Auch er schüttelte Nina und Yasemin zur Begrüßung die Hand. »Meine Freundin Lena Sanders haben Sie ja bereits kennengelernt. Schatz, bringst du mir auch einen Kaffee?«, fragte er Richtung Küche.

 

»Schon in Arbeit«, rief Lena über den Lärm hinweg, den die bohnenmahlende Kaffeemaschine produzierte.

Er setzte sich ihnen gegenüber und lehnte sich zurück. Optisch passte das Paar hervorragend zusammen. Sein weißes Anzugshemd saß wie eine zweite Haut an seinem Oberkörper. Ein Asket, dachte Nina. Auch wenn Pascal Neumann in Sachen Feinkost und Catering unterwegs war, schien er selbst keinen Bissen zu viel zu sich zu nehmen.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich bereit erklärt haben, mir zu helfen. Allerdings drückte sich Erika etwas, sagen wir, schwammig aus, was Ihre Qualifikationen angeht. Sie erzählte mir, Sie«, er wandte sich an Nina, »sind Polizistin im Ruhestand? Dafür scheinen Sie mir etwas jung zu sein.«

Nina lachte. »Das beruhigt mich. Sabbatjahr, kein Ruhestand«, griff sie auf ihre alte Notlüge zurück.

»Ah, in Ordnung.« Sein Blick wanderte zu Yasemin, die getrocknete Breireste von ihrem Ärmelsaum knibbelte und nicht merkte, dass er sie stirnrunzelnd beobachtete. »Und Sie sind … Kioskbesitzerin?«

Yasemin ließ zunächst nicht von ihrem Ärmel ab, sondern nickte nur. »Ja, auch. Und anne. Und jemand, der bereits undercover in einer Kanzlei ermittelt hat, weil ich das Arschloch finden wollte, das meinen Bekannten getötet und in meinem Altpapiercontainer wie eine alte Zeitung abgelegt hat. Ach, und einen Stalker hatte ich auch noch an den Hacken, den haben wir aber ebenfalls aussm Verkehr gezogen. Reicht das als Qualifikation oder wollen Sie ’nen schriftlichen Lebenslauf?« Nun blickte sie von ihrem Ärmel hoch und Pascal Neumann direkt in die Augen.

Nina räusperte sich. »Yasemin, ich bin mir sicher, Herr Neumann wollte lediglich wissen, woran er ist und …«

Doch sein Lachen unterbrach ihren Versuch, aufkommende Wogen zu glätten.

»Frau Nowak, Sie gefallen mir! Schon mal über eine Karriere in der Küche nachgedacht? Mit diesem Ton könnten Sie es weit bringen. Mich haben Sie überzeugt. Ich bin auch gerne bereit, für Ihre Dienste zu zahlen.«

Nun schenkte auch Yasemin ihrem neuen Klienten ein Lächeln. »Lassen Sie mal gut sein. Erika hat uns um einen Gefallen gebeten. Dafür nehmen wir kein Geld, das ist ein Freundschaftsdienst.«

In dem Moment betrat Lena Sanders mit einem Tablett den Raum. »So, bitte schön. Vier Latte macchiato und ein paar unfassbar gute Kekse aus Pascals Geschäft. Die müsst ihr probieren.«

»Danke schön.« Nina nahm ihr Glas in die Hand. »Wir arbeiten übrigens nicht zu zweit, sondern zu dritt«, führte sie aus, als auch Lena Sanders sich zu ihnen gesetzt hatte. »Erika hat bestimmt unsere Vermieterin und Freundin Dorothee Klasbrummel erwähnt. Sie kümmert sich vor allem um Internetrecherchen und passt auf Yasemins Nachwuchs auf, wenn wir unterwegs sind.«

»Erika sagte, Sie haben selbst eine Tochter? Wie alt isse denn?«, nahm Yasemin den Faden auf.

Pascal Neumanns Blick wurde weich. »Emma ist fünf und mein ein und alles.«

»Jau, versteh ich«, entgegnete Yasemin.

»Und Ihre Frau soll auf keinen Fall von Ihren Problemen etwas mitbekommen, wir sind auch da bereits im Bilde. Können Sie denn ausschließen, dass Ihre Frau …«

»Ex-Frau«, korrigierte Pascal Neumann Nina und blickte kurz zu Lena.

»… dass Ihre Ex-Frau hinter der Sache steckt, um Sie in ein schlechtes Licht zu rücken?«

»Ach, Schatz, das glaube ich nicht«, meldete sich Lena zu Wort. Er deutete ihr mit seiner rechten Hand, ihm das Reden zu überlassen. Sie griff zu ihrem Latte macchiato und lächelte.

»Meine Ex-Frau und ich haben alles andere als ein entspanntes Verhältnis. Aber mal abgesehen davon, dass sie überhaupt nicht internetaffin ist und meiner Meinung nach gar nicht in der Lage wäre, diese Aktionen auf die Beine zu stellen, glaube ich nicht, dass sie über so viel kriminelle Energie verfügt.«

»In Ordnung, Herr Neumann. Trotzdem werden wir Ihrer Frau, Verzeihung, Ex-Frau auf den Zahn fühlen müssen. Diskret natürlich, machen Sie sich keine Sorgen«, fügte Nina hinzu, weil ihm der Einwand schon auf dem Gesicht geschrieben stand.

»So, und jetzt legen Sie mal los und erzählen uns, was überhaupt bisher passiert ist«, forderte Yasemin.

Pascal Neumann schritt zu einem alten Sekretär, der neben der Terrassentür stand, und kehrte mit einem Tablet in der Hand zurück. Er legte es mittig auf den Tisch, sodass alle Anwesenden daraufblicken konnten.

»Das hier sind meine Facebook- und Instagram-Accounts.« Der Gastronom hatte zwei Seiten im Browser geöffnet und wischte seine Seiten durch. »Seit ungefähr drei Monaten hinterlassen Trolle Kommentare, die mich in Verruf bringen. Selbstredend von Fake-Accounts. Am Anfang nur vereinzelt. Da habe ich sie einfach gelöscht. Aber dann ging es richtig los. Ich wurde angegriffen, weil ich Kritik unkommentiert löschen würde. Die echten positiven Kommentare, die meine Kunden hinterlassen, zeigen inzwischen kaum noch Wirkung. Dafür wird gerne behauptet, die seien gefälscht. Das ist alles so unfassbar bescheuert.« Er seufzte. »Seit einigen Wochen werden Bilder meines vermeintlichen Essens hochgeladen. Hier zum Beispiel.« Er vergrößerte ein Bild, auf dem ein Salat mit verwelkten Blättern zu sehen war. »Oder hier.« Auf dem nächsten Foto war eine Pizza abgebildet, auf dem nicht nur Schinken, sondern auch eine Fliege mitgebacken worden war. »Wenn so etwas passiert, melde ich nun diesen Beitrag und schreibe eine kurze Stellungnahme darunter, dass die Bilder gefälscht sind und ich mir rechtliche Schritte vorbehalte. Egal, wie viele Lügen und Proteste die Person – oder sind es mehrere? – in Folge postet, darauf reagiere ich nicht mehr.«

»Das ist klug. Don’t feed the troll«, entgegnete Nina.

»Hä?«, fragte Yasemin.

»Das ist eine Redewendung. Es gibt Leute im Netz, die wollen einfach provozieren, sogenannte Trolle. Wenn du sie weiter fütterst und reagierst, setzen die ihr Tun umso aggressiver fort und damit lieferst du ihnen automatisch mehr Aufmerksamkeit und eine größere Plattform«, erläuterte Nina.

Pascal Neumann nickte. »Das habe ich auch gelernt. Ein Bekannter hat mir den Tipp gegeben, so zu verfahren. Die Accounts, von denen diese Verleumdungen geschrieben werden, sind schnell gelöscht. Sie zurückzuverfolgen bringt nichts, sagte mir mein Bekannter. Wer diese gezielte Aktion gegen mich fährt, wird seine wahre Identität gut genug verschleiern. Und rechtliche Schritte anzustrengen, würde unendlich viel Zeit und Geld kosten.«

»Davon ist auszugehen, ja.«

Er seufzte. »Die Angriffe eskalieren langsam, das sehen Sie ja. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht irgendwo im Netz eine neue Lüge über mich finde. Das Gästebuch auf meiner Website habe ich bereits gesperrt. Ich bin mehr und mehr ratlos, wie ich weiter verfahren soll.«

Nina und Yasemin betrachteten die letzten Einträge. Es waren allesamt Beleidigungen.

»Meine Bewertung ist in den letzten zwei Monaten von fünf Sternen auf zwei gesunken. Und langsam hat das Konsequenzen auf die Auftragslage. Bei meinen Großkunden bin ich in die Offensive gegangen. Ich habe ihnen von dieser Rufmordkampagne erzählt und ihnen versichert, dass das bald ein Ende hat. Sie halten mir die Stange. Noch. Kleinere Stammkunden kontaktieren mich zum Teil nicht mehr.«

»Das Mobbing findet nur digital statt?«, hakte Nina nach.

»Bis vor Kurzem ja. Dann fingen plötzlich diese Anrufe in meiner Firma an.«

»Was für Anrufe?«

»Eine verzerrte Stimme, die den Mitarbeitern Lügengeschichten erzählt.«

»Wie muss ich mir das konkret vorstellen?«

Pascal Neumann stand auf und blickte aus der Terrassentür in den Garten. »Ich habe noch nie das Glück gehabt, persönlich so ein Gespräch entgegenzunehmen. Die Stimme beginnt wohl immer mit demselben Wortlaut: Was für ein Mensch ist Ihr Chef, der … Und dann kommt immer irgendein Schwachsinn. Zum Beispiel: der vergammeltes Fleisch einkauft. Oder: der seine Mitarbeiter unterschiedlich schlecht bezahlt.«

»Tun Se?«, fragte Yasemin.