Yasemins Kiosk – Eine bunte Tüte voller Lügen

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Siehst du, was ich alles ohne dich schaffe?, schrieb sie. Du hast gedacht, ich pack das nicht, stimmt’s? Soll ich dir etwas verraten? Ich schaffe alles. Ich vollbringe das, was du versäumt hast. Ich weiß genau, wie du jetzt guckst. Du hast diesen spöttischen überheblichen Blick, den du immer hast, wenn ich dir von meinen Plänen erzähle. Aber ich werde es perfekt zu Ende bringen. Für dich. Für uns.

Sie schickte die Nachricht ab und in jenem Moment erschien ihre gemeinsame Wohnung vor ihren Augen. Die Jahre, die sie zusammen durchs Leben gegangen waren. Für einen Augenblick spürte sie dieses unerträgliche Ziehen im Magen. Die Zweifel, ob sie wirklich all das allein schaffen konnte.

Doch sie kannte ein wirksames Gegenmittel, scrollte in ihren Nachrichten und las erneut eine ältere, die sie empfangen hatte:

Du nervst mit deinem ständigen Jammern. Du kriegst dein Leben einfach nicht geschissen. Nie ziehst du was durch. Du kannst froh sein, dass du mich hast und in meinem Windschatten fahren darfst.

Es funktionierte auch dieses Mal. Das Ziehen im Magen verschwand. Wurde ersetzt durch eine tiefe Entschlossenheit.

Morgen startete Projekt Nummer fünf.

5

Nina blickte aus ihrem Wohnzimmerfenster auf die Hügel des Teutoburger Waldes. Sie liebte die Aussicht.

Nichts war in diesem Sommer davon zu spüren gewesen, dass das Mittelgebirge ein Regenfänger war. In manch schlafloser Nacht hatte sie versucht, sich in die Eistruhe des Kiosks zu träumen. Als Tim Ninas Gestöhne über die ständige Hitze nicht mehr hatte ertragen können, hatte er sie eines Abends mit zwei riesigen Tüten Eiswürfeln überrascht. Wortlos hatte er die in die Badewanne gekippt und schließlich auf ein gemeinsames, erfrischendes Bad bestanden. Das wiederum hatte dazu geführt, dass sehr viel Eis nicht allein aufgrund der hohen Außentemperaturen geschmolzen war.

Schmunzelnd blickte Nina auf die Uhr und begab sich rasch ins Bad. Tim war immer pünktlich und würde in fünf Minuten an ihrer Tür klingeln. Zügig trug sie schwarze Wimperntusche auf, rieb sich ein wenig Gel in die Hände und brachte ihre Kurzhaarfrisur in Form. Anschließend schminkte sie sich mit einem dezenten rosafarbenen Lippenstift, den Yasemin ihr geschenkt hatte.

Es klingelte an der Tür. Nina schnappte sich ihre Jacke und verließ die Wohnung. Tim wartete unten an seinem SUV und öffnete die Beifahrertür.

»Schöner Lippenstift.« Er gab ihr einen Kuss zur Begrüßung.

»Danke schön.« Sie musterte ihn betont auffällig von oben bis unten. »Schöne Socken.«

»Die siehst du doch gar nicht unter der Jeans.«

»Aber sie sind bestimmt schön. Schlicht schwarz, wette ich. Klassisch. Zeitlos.«

»Steig ein und halt die Klappe.«

Nina lachte. »Wie war deine Woche?«

Er fuhr los und legte eine Hand auf ihren Oberschenkel. »Unspektakulär. Viel Bürokram. Im Moment verhalten sich in Bielefeld fast alle brav.«

Nina nickte. »Sogar meine Mutter. Ich habe sie gestern besucht und es war unspektakulär nett. Das ist spektakulär.«

»Freut mich.« Brüggenthies lächelte und bog nach wenigen Kilometern links in Richtung der Kliniken Bethel ab.

»Stell sie mir doch irgendwann mal vor«, sagte er nicht zum ersten Mal und nicht zum ersten Mal nickte sie zur Antwort kurz, um nicht zu unhöflich zu wirken.

Nach einigen Metern hielt er in einer Seitenstraße vor einem Restaurant. »So, da wären wir auch schon. Madame hat sich griechisch gewünscht und so soll es sein.«

Seit sie mit Tim ausging, waren sie noch nie in demselben Restaurant essen gewesen. Jedes Mal überraschte er sie mit einer Gaststätte, die sie noch nicht kannte.

»Das Castello ist familiengeführt«, erklärte er, als er Nina die Tür aufhielt.

Im Inneren fühlte sie sich auf Anhieb wohl. Die Wände waren mit rötlichen Backsteinen verkleidet, Rundbögen und Säulen sowie Bilder von griechischen Landschaften verliehen dem Raum Gemütlichkeit. Der Wirt duzte Tim, begrüßte Nina herzlich und bat sie, an einem der Holztische Platz zu nehmen. Sie bestellten ihre Getränke, bevor sie in die Speisekarten schauten.

»Ich empfehle dir das Lamm«, sagte Tim.

Nina blickte hoch. »Du, Vegetarier Tim, empfiehlst mir das Lamm? Wie glaubwürdig ist das denn bitte?«

Er lachte. »Es ist nicht so, dass ich nie Fleisch gegessen habe. Außerdem habe ich Freunde, die keine Vegetarier sind.«

»Ach? Seit wann genau bist du denn Vegetarier?«

»Seit drei Jahren.«

»Und warum der Wandel?«

»Stichwort Massentierhaltung. Und überfischte Meere.«

»Wow. Du handelst oft so vernünftig und richtig, dass ich mich schlecht fühle.«

»Völlig zu Recht.«

»Solange du allerdings mit einem SUV durch die Gegend fährst, kriegst du keinen Heiligenschein von mir.« Sie klappte die Karte zu. »Ich folge deinem Rat und wähle das Lamm. Dazu nehme ich einen trockenen Rotwein.«

»Sehr gute Wahl. Ich nehme den vegetarischen Auflauf und einen Retsina. Und freu dich auf die Vorspeisen, die gehen hier aufs Haus.« Auch Tim legte die ledergebundene Speisekarte zur Seite.

Der Wirt nahm ihre Bestellung auf. Nachdem sie wieder zu zweit am Tisch waren, umschloss Tim mit seinen ihre Hände.

»Wie geht’s Yasemin mit Ela?«, wollte er wissen.

»Ela geht es prima. Yasemin dreht jedoch ziemlich am Rad und ist sehr auf die Kleine fixiert. Sie glaubt, zweihundert Prozent geben zu müssen, weil sie alleinerziehend ist. Wir versuchen, sie wieder ein wenig im Kiosk einzubinden, damit sie unter Leute kommt und einen Grund hat, sich regelmäßig den Babybrei aus den Haaren zu waschen.«

»Guter Plan.« Nach einer kleinen Pause fragte er: »Möchtest du eigentlich auch mal Kinder in die Welt setzen?«

Nina wurde heiß und kalt. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Stellen die Frage nicht eigentlich immer die Frauen den Männern?«, versuchte sie, sich aus der Affäre zu ziehen.

Er schenkte ihr ein Lächeln und wartete offensichtlich auf eine vernünftige Antwort.

Nina löste ihre Hände und lehnte sich im Stuhl zurück. Langsam öffnete sie ihren Mund, obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie antworten sollte. Aus den Augenwinkeln sah sie den Wirt auf ihren Platz zusteuern.

»Bitte schön, hier kommen eure Getränke und kleine Appetitanreger.«

»Mhm, das sieht ja lecker aus«, rief Nina erleichtert aus und hob das Glas, um mit Tim anzustoßen. »Wann gehen wir eigentlich mal wieder auf die Alm, um Fußball zu gucken?«, brachte sie das Gespräch auf sicheres Terrain.

Er zögerte sichtlich, bevor er sein Glas in die Hand nahm und ihr schließlich zuprostete.

»Darf ich ihn mal probieren?«, fragte Nina und deutete auf den Retsina. Schweigend schob er ihr das Glas zu. Sie nahm einen Schluck und verzog unmittelbar den Mund. »Eigenwillig.«

Nun musste Tim lachen. »Passt doch zu dir.«

6

Sie betrachtete das Miststück von der Seite. Schaute die eigentlich nicht in den Spiegel, bevor sie das Haus verließ? Es war ihr fast peinlich, mit ihr gesehen zu werden, aber sie wollte in dieser Nullachtfünfzehn-Stadt ja nicht ihr restliches Leben verbringen. Sie hatte Besseres verdient.

Der Film war gut gewesen, den hatte sie ja auch ausgewählt. Anschließend waren sie durch den Ravensberger Park in eine nahe gelegene Kneipe spaziert. Seitdem plapperte das Miststück ihr einen Keks an die Backe. Sie erzählte von ihrer Arbeit und diesem einen boshaften Kollegen, der ihr das Leben schwer machte. Von ihrer Mutter, um die sie sich gerne mehr kümmern würde. Und über den Schmerz, der einen ereilt, wenn ein Mensch immer weniger wird, den man liebt. Sie hörte nicht wirklich hin. Zwischendurch zu nicken und freundlich zu gucken, war völlig ausreichend.

Als sich das Miststück nach ihrer zweiten Weißweinschorle auf die Toilette verabschiedete, streute sie ihr das Mittel ins Getränk. Sie hatte extra einen Platz in einer Nische gewählt, niemand schenkte ihr Beachtung. Sie hatte gründlich recherchiert und hoffte, dass die Dosis des Antihistaminikums stimmte. Das Miststück sollte einschlafen und nicht sterben. Wo blieb denn sonst das Vergnügen?

Es dauerte ein bisschen, dann verlor ihr Gegenüber häufiger den Faden beim Erzählen und ihr Wimpernschlag wurde langsamer. »Mir ist irgendwie … komisch«, lallte sie schließlich.

Mit beruhigender Stimme und besorgtem Blick bot sie dem kleinen Miststück deshalb an, sie sicherheitshalber nach Hause zu fahren. Ein dankbares Nicken war die Antwort.

Sie zahlte und stützte die Frau, als sie die Kneipe verließen. In ihrem Wagen verlor ihre Zielperson das Bewusstsein, besser hätte das Timing nicht sein können.

Sie konnte kaum fassen, wie gut bislang alles funktioniert hatte und wie einfach es gewesen war. Um nicht zu euphorisch zu werden und deshalb womöglich einen Fehler zu begehen, stellte sie sich eine schwierige Rechenaufgabe und beschäftigte sich damit, während sie durch die beleuchteten Straßen ihrem Ziel entgegenfuhr.

7

Yasemins Kiosk war nicht einfach eine Anlaufstelle, an der man Weingummi, Zigaretten, Kaffee, Zeitschriften oder Bier erhielt. Ihr Kiosk war ein Ort mit Herz, zu dem die Menschen kamen, weil sie bei einem Kaffee einen kurzen Schnack am Tresen halten wollten oder weil die junge Kioskbesitzerin ihnen im Hinterzimmer gegen Bares auf die Hand die Haare schnitt.

Yasemin gab auf ihre Kunden acht. Für Erika aus der Nachbarschaft hatte sie immer Wollknäuel im Sortiment, damit die über Achtzigjährige dafür nicht bis in die Innenstadt fahren musste. Für Witwer Heinz hielt sie stets eine Packung Weinbrandpralinen parat, die sonst niemand kaufte.

 

Nina schlenderte an der roten Bank, auf der Gönn dir eine Pause geschrieben stand, vorbei und betrat den Kiosk. Sie lächelte zufrieden, denn hinter dem Tresen hielten Doro und Yasemin ihre Köpfe über Papiere. Die kleine Ela saß neben ihnen in einem Pappkarton, nahm ein altes Telefonbuch auseinander und brabbelte dabei lautstark vor sich hin.

»Ist das schön, dass du wieder in deinem Kiosk stehst, Yasemin! Und gut zu wissen, dass du noch andere Kleidungsstücke als Jogginganzüge besitzt.«

Ihre Freundin streckte ihr als Antwort die Zunge heraus. »Sen kendin işine bak! Das sagt die, der ich ’nen Lippenstift kaufen musste, weil sie mit Ende vierzig keinen eigenen besessen hat.«

»Ey! Mitte dreißig!«

Yasemin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Egal. Ab dreißig geht’s eh bergab.«

»Na, dann sieh mal zu, dass du die nächsten sieben Jahre noch in vollen Zügen genießt, ich glaube aber nicht, dass du …«

»Ihr Lieben, gerade benehmt ihr euch beide nicht erwachsener als Ela«, unterbrach Doro mit erhobener Hand den Schlagabtausch. »Yasemin, ich würde dir gerne noch kurz die letzten Bestellungen zeigen, die ich in Auftrag gegeben habe. Dann bist du wieder auf dem Laufenden und ich kann mich ein paar Stündchen an meinen Schreibtisch setzen.«

»Sorry, lasst euch nicht stören.« Nina goss sich hinter der Theke eine Tasse Kaffee ein, schnappte sich einen Schokoriegel und setzte sich draußen auf die Bank. Sie schloss die Augen, um die Strahlen der Herbstsonne auf ihrem Gesicht zu genießen, da hörte sie eilige Schritte näher kommen.

Erika steuerte zielstrebig auf den Kiosk zu. »Nina, wunderbar, dass ich auch dich antreffe. Ist Dorothee im Kiosk?«

»Ja, Yasemin und sie sind mit Papierkram beschäftigt.«

»Umso besser, dann habe ich euch alle drei zusammen. Die Papiere werden warten müssen. Komm!«

Entschlossenen Schrittes ging die alte Dame die Stufen so zügig hoch, dass sie schneller die Tür erreichte als Nina, die sie ihr eigentlich hatte aufhalten wollen.

»Ist alles in Ordnung, du wirkst etwas …«

»Nichts ist in Ordnung, aber ich baue auf euch.« Der Satz ließ Yasemin und Doro umgehend hochschauen.

»Erika, was ist los? Wie können wir dir helfen?«

»Yasemin, Schätzchen, mein Neffe Pascal steckt in riesigem Schlamassel und benötigt dringend eure Hilfe.« Erika atmete tief durch und hielt sich am Tresen fest.

Doro schob ihr einen Stuhl hin und Erika setzte sich dankbar. »Nina, tu mir einen Gefallen und dreh das Schild an der Tür für einen Moment auf Zu. Das, was ich euch jetzt zu erzählen habe, muss sonst niemand hören.«

8

Sie hatte nicht lange nach einer geeigneten Unterkunft suchen müssen. Ihre magischen Bücher hatten ihr einmal mehr die Lösung präsentiert. Sie hatten bereits ihre Tränen im dunkelsten Moment aufgefangen, um ihr dann den Weg aus der Krise aufzuzeigen.

Hier im Wald würde sie niemand stören. Die paar Wanderer, die am Wochenende oberhalb des leer stehenden Hauses entlangschritten, stellten keine Gefahr dar. Um sicherzugehen, hatte sie das als Allererstes im Vorfeld getestet. Dazu hatte sie ein Radio in voller Lautstärke in den Keller gestellt und auf dem Wanderweg gelauscht. Es war nichts zu hören gewesen. Danach hatte sie den Raum nach ihren Vorstellungen ausgestattet.

Sich selbst hatte sie eine Leseecke eingerichtet mit einem Tisch, einem Stuhl und einer batteriebetriebenen Lampe. Für das Miststück hatte sie eine Matte, eine Decke, einen Stuhl und einen Eimer mitgebracht.

Sie musste fast lachen, weil das Laufband, das sie zudem aufgestellt hatte, so absurd in diesem alten, feuchten Kellerraum wirkte. Es hatte sie an ihre körperlichen Grenzen gebracht, das Stromaggregat hier hochzuhieven, aber sie hatte es geschafft. Trotz Wadenkrampf. Das Miststück vom Parkplatz in der Schubkarre hierher zu transportieren, war dagegen ein Kinderspiel gewesen.

Nun saß sie in ihrer Leseecke und wartete darauf, dass ihre Gefangene, die vier Meter vor ihr geknebelt und gefesselt auf dem Stuhl saß, aufwachte. Sie mochte die Zahl vier, deshalb hatte sie diesen Abstand gewählt.

Die Zeit vertrieb sie sich damit, Radio zu hören und lustlos in einer Modezeitschrift zu blättern. Wäre sie Chefin dieses armseligen Blatts, hätte sie die Moderedakteurin gefeuert.

Nach einer weiteren Stunde gab die Frau endlich erste Laute von sich und bewegte ihren Kopf. Dann versuchte sie, ihre Arme zu bewegen, registrierte aber offenbar, dass etwas nicht stimmte, dass dies kein normales Erwachen am Morgen in ihrem Bett war. Ihre Bewegungen wurden hektischer, das Miststück öffnete die Augen, hob den Kopf, blickte sie nun direkt an und verstand – nichts.

Für einige Minuten betrachtete sie lächelnd dieses Schauspiel und die aufsteigende Panik in den Augen ihrer Gefangenen, ehe sie schließlich zu ihr schritt. Mit dem Zeigefinger bedeutete sie ihr, leise zu sein, und nahm ihr den Knebel aus dem Mund.

Als das Miststück trotz der Warnung laut: »Hilfe, was … wo bin ich?«, brüllte, gab sie ihr mit der flachen Hand eine Ohrfeige, die sie abrupt zum Schweigen brachte.

»Wenn du weiterleben willst, gehorche mir.«

Die Frau sah sie ungläubig an. »Wer bist du wirklich? Was habe ich dir getan?«

Sie lächelte süß und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich bin deine Vergangenheit, die dich einholt.«

9

Auf dem Tresen standen eine Flasche Gin und vier Gläser. »Los, Frühschoppen. Schütt erst mal was für ’n Kreislauf ein«, hatte Erika gesagt und Yasemin hatte die Notfall-Flasche aus dem Hinterzimmer geholt.

»Na, dann schieß mal los«, sagte die junge Kioskbesitzerin, nachdem sie den ersten Schluck zu sich genommen hatten.

»Also, mein Neffe Pascal, der ist für mich wie mein eigener Sohn. Ihr wisst ja, dass seine Eltern früh gestorben sind.« Erika blickte zu Doro, die ihr aufmunternd zunickte. »Pascal betreibt ein Cateringunternehmen. Er hat damals den Feinkostladen seiner Eltern übernommen und das Geschäft vor einigen Jahren erweitert. Das mit dem Catering läuft mittlerweile richtig gut. Was man von seiner Ehe leider nicht behaupten kann. Und irgendjemand versucht jetzt auch noch, seine Existenz zu ruinieren! Seit ein paar Wochen werden schlimme Gerüchte gestreut. Ich kenne mich mit diesem Internet ja nicht aus, aber die schreiben böse Dinge in seinem Gästebuch und auf diesem …«

»Facebook«, half Yasemin.

»Ja, da auch. Überall werden Lügen verbreitet! Er muss euch das alles dringend selbst erzählen.«

»Das ist Rufmord. Wenn die Anschuldigungen erfunden sind, sollte er damit zur Polizei gehen«, riet Nina.

»Das will er nicht. Seine Ex-Frau sucht jeden noch so kleinen Grund, ihm das gemeinsame Sorgerecht für seine Tochter zu entziehen. Wenn die Sache an die große Glocke gehängt wird mit Polizei und allem Pipapo, kriegt sie davon bestimmt Wind und wird es gegen ihn verwenden.«

»Schaut die Ex-Frau nicht ins Internet und kriegt das ohnehin mit?«, fragte Nina skeptisch.

Erika schüttelte den Kopf. »Die hat mit Internet seit einiger Zeit nix mehr am Hut. Sie ist mit ihrem Liebhaber«, Erika schnaubte bei dem Wort, »für den sie Pascal verlassen hat, auf einen Bauernhof gezogen und will dem natürlichen Leben auf die Spur kommen. Isst kein Fleisch, heizt mit einem Ofen und umarmt Bäume.« Erika wischte mit ihrer Hand vor ihrem Gesicht hin und her. »Ballaballa, wenn ihr mich fragt. Für die kleine Emma ist das wie ein Abenteuerurlaub, wenn sie bei ihrer Mutter ist. Und ein Kind braucht seine Mutter. Aber eben auch den Vater. Pascal kann im Übrigen nicht völlig ausschließen, dass …« Erika stockte und überlegte offenbar, ob sie den Satz zu Ende bringen sollte.

»… dass seine Frau hinter der ganzen Sache steckt«, sprach Nina die Befürchtung aus und Erika nickte.

»Deshalb will er erst recht nicht die Polizei einschalten. Die würde bestimmt auch in die Richtung ermitteln und die kleine Emma würde davon garantiert etwas mitbekommen. Das will doch kein Mensch.« Erika warf verzweifelt ihre Arme in die Höhe. »Ach, wären die beiden doch einfach zusammengeblieben. Ich mag Emmas Mutter, ehrlich! Barbara und Pascal haben gut zusammengepasst. Was ist das heute mit euch jungen Leuten? Sobald es schwierig wird, der eine mal länger arbeiten muss oder die andere etwas seltsam wird, geht ihr alle sofort getrennte Wege. Ihr schmeißt Ehen wie Plastiktüten weg! Und die Kinder leiden.« Erikas Augen wurden feucht.

»Na ja, ganz so ist es ja nun nicht«, widersprach Nina. »Es bringt doch den Kindern nichts, wenn sie ihre Eltern jeden Tag streiten sehen. Und früher war auch nicht alles …«

Doro hob die Hand, um Nina zu unterbrechen. »Wie dem auch sei«, sagte sie in einem Ton, der Nina signalisierte, dass dies nicht der geeignete Zeitpunkt für eine Grundsatzdiskussion war. »Tatsache ist: Pascal hat ein Problem.«

Erika nickte. »Ihr habt doch damals die Sache mit Yasemins Stalker auf eigene Faust gelöst. Und deshalb wollte ich euch fragen, ob ihr nicht nachforschen könnt, wer meinem Pascal Böses will. Ich weiß wirklich nicht, wen ich sonst um Hilfe bitten könnte. Die Firma – das ist seine Existenz!« Erika schaute die drei Frauen mit flehendem Blick an.

»Meine Damen, ich finde, das ist eine fantastische Idee.« Doro, die hinter Yasemin stand, schenkte Nina einen vielsagenden Blick und deutete stumm mit ihrem Zeigefinger auf die Kioskbesitzerin. Nina verstand und nickte. Für die junge Helikoptermama würde ein neuer Fall die perfekte Abwechslung darstellen.

»Ja, es wird Zeit, dass wir unsere Kommandozentrale in Doros Wohnzimmer wiederaufleben lassen«, stimmte sie zu. »Yasemin, du bist dabei, oder?«

Die zögerte sichtlich und strich der kleinen Ela über den Kopf, die ungerührt das Waschschild ihrer Stoffgiraffe begutachtete. »Wie soll ich das mit meiner Kleinen und dem Kiosk auf die Kette kriegen? Ela braucht ihre anne.«

»Natürlich braucht Ela ihre Mutter!« Doro legte einen Arm um Yasemin. »Aber du kennst doch das Sprichwort: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Wir sind doch zu dritt! Mindestens eine von uns ist immer für Ela da. Und die meiste Zeit werden wir ohnehin alle zusammen verbringen.«

Nina sah, wie Yasemin mit sich kämpfte. »Na gut«, antwortete sie schließlich. »Ich kann dir ja eh nix abschlagen, Erika. Dann lasst uns mal loslegen.«

10

Eine Studie vom University College London hatte ergeben, dass Ungewissheit mehr Stress verursachen kann als die Gewissheit, dass dir Schmerzen zugefügt werden. Deshalb hatte sie das Versteck zunächst zügig verlassen, nachdem das Miststück aufgewacht war. Die Gefangene sollte einige Stunden geknebelt und gefesselt ihren Gedanken nachhängen, die feuchten Wände anstarren und sich in ihren Ängsten verlieren. Sie lächelte, während sie durch Bielefeld fuhr. Die Stadt war längst erwacht und ihr strahlte ein sonniger Herbsttag entgegen. Das hob ihre Laune zusätzlich. Sie war eine Sonnenanbeterin und hasste die dunklen Monate. Spontan beschloss sie, sich in einem Café eine kleine Pause zu gönnen. Vielleicht könnte sie sich sogar nach draußen setzen und unter einer Decke geschützt ihre Nase in die Sonne halten. Danach würde sie erledigen, was erledigt werden musste. Weiter falsche Fährten legen.

Sie parkte ihren Wagen in der Altstadt und ging in Richtung des Alten Marktes, wo sich ein Café an das nächste reihte. In ihrem Kopf ratterte es unaufhörlich. Sie durfte bloß nichts vergessen, es nicht vermasseln. Sie ging noch einmal ihre nächsten Schritte durch. Und schüttelte dann diese fiesen kleinen Selbstzweifel, die sich für einen Moment in ihren Kopf gebohrt hatten, ab.

Sie würde es all diesen Losern zeigen. Um sich zu entspannen, stellte sie sich eine Aufgabe: 87 mal 93. Während sie rechnete, steuerte sie auf ein Café in einer Seitenstraße zu. Sie würde sich einen Milchkaffee und ein Croissant bestellen. Hoffentlich bekam sie ein warmes, das würde dann besonders gut schmecken, wenn sie es mit Butter und Marmelade bestrich. Die Extrakalorien durfte sie sich zur Feier des Tages gönnen.

Als sie sich an einen kleinen Tisch direkt ans Fenster setzte, denn draußen war es doch zu frisch, hatte sie die Antwort parat. Sie lautete 8.091.