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III

Ellen Winter blickte auf den Jungen herab, der nahe der Feuerstelle auf mehreren Fellen lag. Seine offene Schulter war mit Moos und Baumrinde bandagiert. He-hun Tungah, Große Eule, der sich auf Heilkunst verstand und mit den Geistern sprach, war guter Dinge, dass der Junge überleben würde. »Er ist dünn wie Gras, das der Wind bewegt«, hatte er gesagt, als er Ellens Tipi verließ, »aber er ist auch stark wie Gras, das sich wieder aufrichtet, wenn der Büffel fort ist.«

Als ob der Junge geahnt hätte, dass sie ihn betrachtete, schlug er unvermittelt die Augen auf. Sein verstörter Blick verriet ihr, dass er nicht wusste, wo er sich befand.

»Alles ist in Ordnung!«, sagte sie beruhigend. »Erinnerst du dich an mich? Ihr seid vor ein paar Tagen an unserem Dorf vorbeigekommen.«

Der Junge runzelte die Stirn, dann nickte er matt. Seine Anspannung löste sich ein wenig. »Wie …« Er leckte sich die spröden Lippen und setzte erneut an. »Wie bin ich hierher gekommen?«

»Ich hatte gehofft, dass du uns das erklären könntest«, erwiderte Ellen. »Kannst du mir deinen Namen sagen?«

»Jack«, antwortete der Junge. »Mein Name … ist Jack.« Er versuchte vergeblich, sich aufzurichten und verzog das Gesicht vor Schmerzen, bevor er sich auf die Felle zurücksinken ließ.

»Bleib besser liegen«, erwiderte Ellen. »Du bist noch sehr schwach, aber deine Wunden sind versorgt. Wir haben dich gestern Abend am Dorfrand gefunden. Jemand hat dich auf den Rücken eines Pferdes gebunden. War das der Mann, mit dem du unterwegs warst?«

Jack schüttelte den Kopf. »Nein, der ist –« Er stockte. »Er ist tot«, fuhr er schließlich fort. »Big Surly hat ihn angegriffen. Und dann kam dieser junge Mann … er hat mir das Leben gerettet. Er muss mich zu euch gebracht haben. Wo ist er? Ich will mich bei ihm bedanken.«

Ellen runzelte verwirrt die Stirn. Geduldig hörte sie Jack zu, wie er ihr mit stockender Stimme von der Attacke des Bären berichtete. Als er aber von seiner Rettung erzählte und den Fremden beschrieb, der ihm geholfen hatte, schlug ihr Herz schneller.

Mein Gott, er war es! Nach all der Zeit!

Sie gab sich Mühe, sich ihre Erregung nicht anmerken zu lassen. Doch die Art und Weise, wie der Junge auf dem Krankenlager sie ansah, verriet ihr, dass ihr das nicht besonders gut gelang.

»Du … kennst du ihn?«, fragte er sie.

Ellen holte tief Luft, dann nickte sie. Etwas schien sich in ihrer Kehle zu lösen, und sie blinzelte fest, um nicht vor dem Jungen in Tränen auszubrechen.

»Er war ein Freund. Vor sehr langer Zeit. Damals war ich so jung wie er. Und er – er sah genauso aus, wie du ihn erlebt hast.«

Jack starrte sie aus riesigen Augen an. »Aber das kann doch nicht sein! Wie ist das möglich?«

Sie presste ihre Lippen aufeinander, und nun musste sie doch den Kopf wegdrehen und sich mit der Hand über die Wangen wischen.

»Er … er ist tot, nicht wahr?«, fragte Jack vorsichtig. »Ist er so was wie ein Geist?«

»Wir mochten einander sehr«, antwortete Ellen, »aber es ist meine Schuld, dass er gestorben ist. Er hatte vor vielen Dingen Angst, und ich war sehr eingebildet. Ich nannte ihn einen Feigling, und dass ich nur etwas für jemanden empfinden könnte, der wirkliche Courage besäße.«

Sie sah Jack wieder an, der ihren Blick schweigend und gespannt erwiderte. »Er ließ sich auf eine dumme Mutprobe ein. Sprang von einer hohen Klippe in einen See hinab und kam dabei ums Leben. Die Assiniboines sagen, sie hätten ihn immer wieder einmal in diesen Wäldern gesehen. In der Sprache der Weißen nennen sie ihn Old Faithful

Jack zog ein verwirrtes Gesicht, und Ellen fuhr fort: »Den Namen hat er bekommen, weil sie glauben, dass er meine Nähe sucht. Es heißt, dass er all die Jahre über immer noch so jung aussieht, wie zu der Zeit, als er starb. Aber mir selbst ist er nie erschienen, kein einziges Mal.«

»Er hat mir das Leben gerettet«, wiederholte Jack.

Ellen lächelte traurig. »Er erscheint denen, die sich aus Tollkühnheit in große Gefahr bringen, zur Warnung. Aber ich habe noch nie davon gehört, dass er zu jemandem gesprochen hat.«

»Ich bringe dich zu ihr, in Sicherheit, das hat er gesagt!«, brach es aus Jack hervor. Diesmal gelang es ihm trotz seiner Schmerzen, seinen Oberkörper aufzurichten. »Daran erinnere ich mich noch genau.«

Ellen starrte ihn wortlos an. »Versuch dich ein wenig auszuruhen«, sagte sie schließlich und erhob sich. »Ich habe dich für den Moment schon genug aufgeregt. Hast du Verwandte, die wir benachrichtigen können?«

Jack schüttelte den Kopf.

»Dann bleib so lange bei uns, wie du willst. Du bist hier in Sicherheit, wie er es dir versprochen hat.« Sie lächelte. »Über alles Weitere reden wir, wenn du wieder zu Kräften gekommen bist.«

Der Junge auf dem Krankenlager sah aus, als ob ihm noch viele Fragen auf der Zunge brannten, die er aber aus Erschöpfung hintenan stellte. Er bettete seinen Kopf zurück auf die Felle.

Ellen verließ ihr Tipi. Noch war die Morgendämmerung nicht angebrochen. Sie erreichte den Rand der Siedlung und blickte nach Osten, wo sich in der Dunkelheit die von dichten Wäldern bewachsenen Höhenzüge Montanas verbargen.

»Tom«, flüsterte sie kaum vernehmbar. »Ich habe dich nie vergessen. All die langen Jahre über hast du dich anderen gezeigt, niemals mir. Sie hätten dich nicht beschreiben müssen. Ich habe dein Aussehen immer noch genau vor Augen.«

Sie hielt inne. »Aber du hast diesen Jungen zu mir geschickt, damit ich mich um ihn kümmere. Bedeutet das, dass es endlich so weit ist? Dass du mir verzeihst? Hast du deinen Frieden gefunden?«

Es erklang keine Antwort. Nur ein leichter Wind war aufgekommen, der wispernd durchs Gras fuhr und die Morgendämmerung ankündigte. Für Ellen klang er wie ein einziges, kaum vernehmbares Wort.

Vergebung.

DER GEIST DES LANGEN ERKENNENS
HERMANN RITTER

Mein Kopf schmerzte schrecklich. Vor mir tanzten bunte Lichter. Ich versuchte, mich auf sie zu konzentrieren. Dabei stellte ich fest, dass die Lichter auf der Innenseite meiner Lider tanzten. Meine Augen waren fest geschlossen. Vorsichtig öffnete ich sie. Ich blinzelte einmal, dann noch einmal. Es war stockdunkel um mich herum. Ich schloss die Augen erneut.

In meinem Mund schmeckte ich Metall. Voller Freude stellte ich fest, dass ich meine Hände bewegen konnte. Langsam schob ich den rechten Zeigefinger in den Mund. Beim Abtasten meiner Zähne stellte ich fest, dass ich mir in das Zahnfleisch gebissen hatte. In meinem Mund war Blut. Aber meine Zähne waren alle noch in Ordnung.

Mit der rechten Hand suchte ich nach einer Stütze. Ich fand kalten Steinboden. So aufgestützt, drehte ich mich ein wenig nach links, wobei mein Kopf wieder anfing zu schmerzen. Mit einem lauten Röcheln zog ich den Schleim aus dem Hals hoch und spuckte einen beeindruckend großen Schleim-Blut-Klumpen aus. Leider konnte ich nicht sehen, wo ich ihn hinspuckte.

Es war Zeit für eine Bestandsaufnahme. Um mich herum war es hoffentlich dunkel – sonst hatte ich mein Augenlicht verloren, was eine viel schlimmere Vorstellung war. Konnte man blind noch Lichter in den Lidern sehen? Ich wusste es nicht, setzte es aber die Liste der Dinge, die ich bei Gelegenheit mal in der Leihbibliothek nachlesen musste. Oder den Schulmeister danach fragen …

Ich versuchte, mich nur selbst abzulenken, um über die Möglichkeit einer Erblindung nicht nachdenken zu müssen. Meine Bestandsaufnahme schritt weiter voran. Meine Beine waren voller blauer Flecken und Abschürfungen, soweit ich das ertasten konnte. Meine Arme fühlten sich an, als hätte ich versucht, an einem Seil hinter einer Kutsche hergezogen zu werden, während diese die Straße zum Jagdforst hinauf jagte. Auf meinem Kopf hatte ich mindestens eine Beule, die aber erklärte, warum ich mich nicht erinnern konnte, wie ich hierhergekommen war.

Auf einmal konnte ich mich an die Straße in den Jagdforst erinnern. Der Friedewald mit seinen langen Schneisen, die wie mit einem warmen Messer durch kalte Butter in den Forst geschnitten worden waren. Ich war auf dem Weg zum Hellhaus gewesen. Warum eigentlich? Ich versuchte mich auf diese Frage zu konzentrieren, aber in meinem mürben Gehirn gab es keine befriedigende Antwort.

Eine Abkürzung. Auf einmal fiel es mir wieder ein: Ich hatte eine Abkürzung durch den Wald ausprobieren wollen. Irgendwie quer durch den Wald, an ein paar Wegmarken vorbei, um Zeit zu sparen. Hatte ich nicht noch überlegt, ob ich aufpassen müsse wegen des schlechten Lichts? Hatte ich nicht noch bei mir gedacht, dass es im Herbst doch früher dunkel wurde, als im Sommer und dass ich mich beeilen müsste, um bei guten Licht mein Ziel zu erreichen?

Was war es gewesen, weswegen ich gestolpert und gefallen war? An welchem Ort hatte mein Weg ein jähes Ende genommen? Am alten Tunnel an der Hohen Burg? Oder lag ich im Rübenkeller oder gar im Eiskeller des Tiergartens? War ich gar in einen der Abflüsse gefallen, deren ummauerte Eingänge immer wieder wie offene Schlünde im Waldboden auftauchten?

»Nein. Es war keine von diesen Höhlen.«

Ich erschrak bis in das Mark hinein. Entweder, ich hatte laut gesprochen oder ich fing an, mir Stimmen einzubilden. Beides ließ darauf schließen, dass meine Kopfverletzung schlimmer war, als ich bis jetzt vermutet hatte. Oder war ich nicht nur blind, sondern auch verrückt?

 

»Nein. Es ist keines von beiden.«

Wieder diese Stimme. Doch dieses Mal war ich weniger überrascht als bei ihrem ersten Erklingen. Sie hatte einen tiefen, sonoren Klang, hörte sich eher wie der Pfarrer an, wenn dieser einen guten Tag hatte. Was, unter uns bemerkte, selten genug vorkam. Aber nein, das war es nicht. Es war nicht nur die Stimmlage, die angenehm klang, anders als bei der Predigt in der Kirche. Es war der Dialekt, die Grundsprache, die einer anderen Melodie zu folgen schien als mein eigener Dialekt. Während ich oft das Gefühl hatte, dass meine Art, das Deutsch auszusprechen, ein wenig langsam, ein wenig gemächlich klang, war es hier ein härteres Deutsch, mit klareren Vokalen und kürzeren Konsonanten, die wie ein Scherenschnitt viel mehr Kontur zeigten, dabei aber ganz viel Farbe und damit auch Wärme vermissen ließen. Das war nicht die Sprache, die im Wirtshaus oder in der Kirche gesprochen wurde. Das hier war reines, fast schon fehlerfreies Hochdeutsch. Wenn ich schon den Verstand verlor – warum sprach der Irrsinn nicht Sächsisch?

Vorsichtig versuchte ich, ein Auge halb zu öffnen. Es dauerte einen Moment, bis ich mich entscheiden konnte, ob das Licht von außen kam oder immer noch flackernde Irritationen auf der Innenseite der Lider mein Sehvermögen trogen. Aber da war etwas: Ich konnte sehen. Es war erst ein flackerndes Licht, dann zogen sich die Ränder der Wahrnehmung zusammen, die Bilder wurden schärfer. Es handelte sich um eine Laterne, oder eher ein Windlicht. Denn die Lichtquelle war eine Kerze, nicht etwa Gas. Die Kerze brannte hinter einer Glasscheibe der Laterne ruhig und still vor sich hin. Von ihr ging ein milder Schein aus, der aber nicht stark genug war, um mir zu zeigen, wo ich mich befand. Und den Ursprung der Stimme, mit der ich mich eben unterhalten hatte, konnte ich ebenso wenig ausmachen.

Dabei war es keine echte Unterhaltung gewesen. Ich hatte doch nur gedacht, was ich sagen wollte, und hatte darauf eine Antwort erhalten. War das alles hier ein Alp, und ich lag verschwitzt in meinem Bett und wartete darauf, dass ich morgen wieder hinaus musste in den Forst? Oder lag ich im Sterben, den Schädel zerschlagen auf dem Boden einer Höhle oder eines Schachtes, irgendwo zwischen daheim und der Helle?

»Nein. Du bist nicht tot oder verrückt, auch wenn es dir so erscheinen mag.«

Das war jetzt das dritte Mal, dass ich diese Stimme gehört hatte. Und irgendwo tief in mir drin entschloss ich mich dazu, dass ich nicht verrückt und schon gar nicht tot war. Es musste eine Erklärung geben, die vernünftig war und alle Fakten einschloss. Aber um eine Erklärung zu erhalten, musste ich mich umschauen können. Jetzt gab es um mich herum Licht, wenn auch nur den Schein einer Kerze in einer Laterne. Außerdem befand sich jemand in meiner Nähe, der sich mit mir unterhielt. Ob ich im Moment alleine in der Lage wäre, mich irgendwohin zu bewegen, oder ob meine zerschlagenen Beine und aufgeschürften Knie nicht sowieso der Hilfe bedürften, wollte ich nicht diskutieren. Als Allererstes brauchte ich Klarheit. Um den letzten Zweifel in den hintersten Winkeln meines Bewusstseins auszuschließen, dass ich vielleicht doch wahnsinnig geworden war, musste ich diesen kleinen Finger ergreifen, den die Realität mir entgegenstreckte, und mich an ihm entlang in die Wirklichkeit begeben.

Ich drückte mich wieder auf meinen rechten Unterarm auf. Doch dieses Mal tat ich es, um in eine sitzende Stellung zu gelangen. Das Wirbeln in meinem Schädel war wieder da, doch nicht so stark wie beim ersten Mal. Also gab es doch so etwas wie eine Heilung und damit eine Hoffnung für mich.

Endlich saß ich leidlich stabil aufrecht. Dann war es an einem neuen Versuch, meine Augen zu öffnen. Wieder dauerte es eine Weile, bis sich die Ränder der Gegenstände zusammenzogen und netterweise die Farben annahmen, die ich ihnen auch zuzuordnen bereit war. Es war komisch, in eine Flamme zu schauen, die erst grün, dann blau war. Oder eine Laterne zu betrachten, die anfangs wie ein Regenbogen schillerte, um dann doch zu einer Oberfläche mit einem polierten Metallton zu werden, der sich nach einigen Veränderungen auch darauf einzupendeln schien, ein Metallton zu bleiben.

Vorsichtig drehte ich den Kopf nach links und rechts. Ich räusperte mich. »Hallö?«

Ein Räuspern antwortete mir. Hinter der Laterne bewegte sich etwas. Gebannt hielt ich den Blick darauf gerichtet, obwohl ich nicht wusste, ob ich vor dem, was ich gleich erblicken würde, Angst haben müsste. Ein großer Mann trat in den Lichtkreis der Laterne. Er trug Stulpenstiefel bis unter die Knie. Die Stulpen sahen abgenutzt aus, so als sei der Mann einen sehr langen Weg mit ihnen gegangen. Darüber trug er eine dunkle Hose und ein helles Hemd mit einer eigenartigen, farbigen Bordüre als Abschluss am Hals. Diese Mode war mir unbekannt, aber es stand ihm ausnehmend. Um den Leib trug er einen breiten Gürtel mit einer Schließe, die so aussah, als würde sie eine Schlange darstellen, die sich selbst in den Schwanz biss. Das Material konnte ich nicht erkennen – Stahl, Silber gar? Mein Blick wanderte höher. Das Gesicht war das eines mittelalten Mannes. Die Haare waren von grauen Strähnen durchzogen und bildeten nun das, was meine Mutter früher »Pfeffer und Salz« genannt hatte, wenn sie Männer beschreiben musste, welche noch Haare hatten, aber diese dann in jener beschriebenen Farbkombination des heranschreitenden Alters. Der Schnitt der Frisur war herkömmlich. Die Haare fielen gerade noch über die Ohren. Die Nase des Mannes war gerade, fast schon klassisch. Sie bestimmte das Gesicht, gab ihm einen aristokratischen Anstrich. Ich ließ meinen Blick weiter wandern und war erschrocken von der Intensität des Blicks aus diesen Augen. Die Farbe war schwer zu beschreiben; wenn ich nicht sicher gewusst hätte, dass es keine Menschen mit grauen Augen gibt, so hätte ich jetzt zu zweifeln begonnen, denn die Augen dieses Mannes waren im Licht der Laterne eindeutig grau. Ich schob es auf das ungünstige Licht, damit ich nicht länger darüber nachgrübeln musste.

Immerhin konnte ich mir jetzt beruhigend einreden, dass ich entweder nicht verrückt war oder in einer Verrücktheit gefangen war, deren Detailreichtum sicher mit der echten Welt konkurrieren konnte. Wobei mir dann nicht klar war, aus welchen tiefen Pfuhlen der Erinnerung oder Imagination dieser Mann aufgestiegen sein sollte. Ich schaute erneut in das Gesicht. Ein Lächeln schien die Lippen zu umspielen.

»Guden Dag!«, versuchte ich es mit Höflichkeit.

Der Mann senkte den Kopf im Ansatz eines höflichen Nickens. Dann schien er sich zu besinnen. »Euch auch einen guten Tag, werter Herr.«

Als »werter Herr« war ich noch nie betitelt worden. Mein Meister im Forst nannte mich selten seinen Gehilfen, wie es eigentlich mein Titel war; selbst vor anderen Menschen stellte er mich als Handlanger oder als nützliche, weitere Hände vor. Zu einem vollen Namen hatte ich es im Forst noch nicht gebracht. Gerufen wurde ich mit einer Kurzform meines Familiennamens, fast schon eine Beleidung, wenn man darüber nachdachte. Nur meine engsten Freunde benutzten die intime Form eines meiner Vornamen und riefen mich einfach Ede. Das war auf jeden Fall weniger entwürdigend als die wenigen Unterhaltungen im Wald – wobei man, um im Wald zu arbeiten, sicher nicht wortgewandt werden muss. Die meisten Bäume beginnen keine Unterhaltung.

»Wöh bin isch?«, wandte ich mich an den Fremden.

»Formal befindet ihr euch auf dem Boden eines Schachtes, durch den ihr gefallen seid, als ihr ein wenig zu hektisch zur Helle vordringen wolltet. Das nasse Herbstlaub, eine kurze Unaufmerksamkeit, das trügerische Spätabendlicht. All diese Faktoren haben eine Rolle gespielt, um diesen Unfall zu provozieren.«

»Sic transit gloria mundi. Die Wahrheit der Wält sprischt durch oiren Mund.«

Der Fremde lachte leise.

Ich errötete, denn offensichtlich hatte ich das lateinische Zitat laut ausgesprochen, anstatt es nur bei mir zu denken. »Gefälld eusch mein Laddein nisch?«

»Doch, doch«, antwortete der Fremde, wobei er sich danach länger räuspern musste und verstohlen versuchte, ein paar Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen.

Ich schaute mich um. Wenn das hier der Boden eines Schachtes war, dann gab es im Untergrund der Moritzburg Räumlichkeiten, die eher einer römischen Kasematte denn einem banalen Schacht glichen.

Der Fremde schien meine neugierigen Blicke richtig einzuordnen. »Wie gesagt, ihr befindet euch formal auf dem Boden eines Schachtes. Spirituell oder einfach metaphorisch würde ich sagen, dass ihr euch am Beginn eines Scheideweges befindet. Ich weiß, dass dies hier nicht danach aussieht. Aber das ist der Ort, wo ihr euch wirklich befindet. Ihr habt die seltene Gelegenheit, kurz innezuhalten und darüber nachzugrübeln, was die Zukunft bringen könnte – und bringen kann.«

»Wie meind öhr das?«

Der Fremde setzte sich vor die Laterne auf den Boden, sodass sein Gesicht auf derselben Höhe war wie mein Gesicht. »Lasst es mich einmal so sagen. Manche Menschen haben eine Fee, eine gute Frau, eine Holde, die ihnen bei der Geburt etwas mitgibt für ihr Leben. Und wenn diese Holde es gut mit einem meint, dann erhält man ein Geschenk, eine Gabe, oft verbunden mit einem Namen, den man trägt. Bei eurer Geburt … ist etwas schief gelaufen. Ihr hattet drei gute Frauen, die an eurer Wiege standen.«

»Wie bidde?«

Der Fremde überlegte einen Moment. »Nun, nehmt es einfach als Märchen, als eine Mär aus einer vergangenen Zeit. Als eine gute Geschichte, die ich euch erzähle, bis ihr euch gut genug fühlt, um mit mir gemeinsam aus diesem Graben zu klettern. Bis dahin … nehmt meine Geschichte für das, was sie ist: Eine Geschichte.«

Ich musste kurz nachgrübeln. Wenn ich das meinem Vetter erzählen würde … Aber dazu musste ich wirklich erst aus diesem eigenartigen Ort hinausgelangen. Und das war – da hatte der Fremde recht – im Moment nicht zu erwarten, wenn ich in meine Glieder hineinfühlte. Mithilfe meiner beiden Hände setzte ich mich ein wenig bequemer auf und ruckelte ein wenig zur Seite, sodass ichmeinen Rücken an die Höhlenwand lehnen konnte. »Gud, isch wäre dann soweid.«

»Also«, begann der Fremde, »durch einen Wink des Schicksals oder eine Gunst der Nornen habt ihr drei Frauen gehabt, die bei eurer Geburt unsichtbar und unhörbar an eurer Wiege Wünsche und Hoffnungen an euer Leben banden. Jeder eurer Vornamen ist mit einer jener Frauen verbunden. Und jede hat andere Dinge für euch vorhergesagt. Diese drei Wege, die eure Zukunft gehen könnte, gabeln sich heute hier an dieser Stelle. Daher müsst ihr eine Entscheidung treffen, welchem Weg ihr folgen wollt. Und ich bin der Führer, der euch die Wege zeigen kann. Aber ich darf euch nicht bei der Entscheidung helfen oder eine vor den anderen der drei Frauen bevorzugen. Sonst ziehe ich ein Schicksal auf mich, das schrecklicher ist als jenes in den Sagen des Altertums.«

Ich kannte einige dieser Geschichten. Die Tage in der Leihbibliothek und die ganzen abonnierten Lieferungswerke mussten sich auch irgendwann mal auszahlen.

»Gud. Fangt an.«

Der Fremde räusperte sich erneut. »Euer erster Name ist der Name des Sonnengottes. Er wurde vor langer Zeit in einem Tempel verehrt, dessen Herz ein heiliger Stein war. Nein, es ist nicht der Gott der Muselmanen, den ich hier erwähne. Elagabal – denn so lautet euer erster Name, wenn man ihn korrekt schreibt und ausspricht – stammte aus dem Vorderen Orient. Marc Aurel Antonius, dem später dieser Name gegeben wurde, hat sich nie selbst so genannt. Es ist eine schöne Idee des gelehrsamen Pfarrers gewesen, diesen Namen auf einen römischen Kaiser zurückzuführen – auch wenn sein Leben nicht gerade ein Ruhmesblatt für die römische Geschichte war. Die Dame, die diesen Namen mit einem Wunsch verknüpfte, versprach euch Reichtum und ein gutes Leben.«

Das Licht der Laterne schien zu flackern. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, dass ich ein Bild sehen konnte. Da war ein erwachsener Frank zu sehen, der in einer schönen Behausung stand. Neben ihm stand eine schöne Frau mit langem, blondem Haar, die an der Hand einen Knaben führte. Dieses Kind hatte wenig von seiner eigenen, vom Schicksal mit ein wenig zu geringer Größe ausgestatteter Statur, sondern er schien die schönen Anteile seiner Mutter mit den Augen und den Gesichtszügen seiner selbst zu vereinen. Dann drehte mein älteres Ich sich um. Liebevoll schaute er auf seine Frau und das Kind. Aber sein Blick enthielt noch mehr … eine Sehnsucht, ein Verlangen, eine Traurigkeit – alles Dinge, die ich an mir selbst nur zu gut kannte.

 

»Ihr habt es gesehen?«, fragte der Fremde.

»Ja«, antworte ich kleinlaut.

»Dieses Leben wäre das Geschenk der ersten Dame.«

»Aber warum schaue ich so traurig?«

Der Fremde zuckte die Schultern. »Das darf ich euch nicht sagen. Ihr müsst es selbst erraten, es ist eure Zukunft, nicht die meine.«

»Gut.« Ich überlegte einen Moment. Ein schönes Leben, sicherlich. Aber würde ich glücklich werden mit einer Familie, einer Arbeit, einem Haus? Wo würden dann meine ganzen Träume enden, die ich in mir selbst verbarg in einem Schatzkasten, den anzurühren ich nur selten wagte? »Was sünd die anderen beiden Wünsche, die man mir mitgegeben had?«

Der Fremde lächelte. »Gut. Die zweite Portion guter Wünsche ist für euren dritten Vornamen abgegeben worden.« Ich wollte nachfragen, doch er hob abwehrend die Hand. »Ich weiß, das ist nicht die richtige Reihenfolge, in der die Namen in das Taufbuch eingetragen worden sind. Aber ich kann nur wiedergeben, in welcher Reihenfolge die Wünsche ausgesprochen worden sind. Und dann kommt jetzt Edeward.«

»Gut.« Gebannt schaute ich wieder in seine Richtung, ob erneut Bilder aus den Flammen aufsteigen würden.

»Edeward oder Edward, das ist ein alter angelsächsischer Name, uralt und in vielen Versionen von England über Deutschland bis nach Frankreich verbreitet. Er bedeutet so viel wie Wächter des Wohlstands. Ich will euch nicht mit langen Ableitungen langweilen, aber der Name klingt gut für jemanden, der das Angelsächsische versteht.«

Ich schaute ihn an, doch er ließ offen, ob er zu jenen Menschen gehörte, welche diese alte Sprache beherrschten. Dann wurde mein Blick zur Seite gezogen, denn wieder erschien ein Bild in den flackernden Lichtern der Laterne. Wieder war ich zu sehen, doch dieses Mal war mein Gesicht von der Sonne gegerbt. Meine Schultern waren breit, wie von schwerer Arbeit. Ich trug das Gewand eines Forstaufsehers, dazu eine kleine Axt am Gürtel. Um mich herum breitete sich der Wald aus. Ein wundervoller Wald, dichter und doch heller als die Wälder hier in der Umgebung. Viele heimatliche Bäume erkannte ich wieder, besonders die Buchen, die in diesem Wald sicherlich dreißig, vierzig Meter hoch in den Himmel schossen. »Wölcher Wald ist dies?«

»Die Hohe Schrecke, rund um den Kyffhäuser. Ein alter Wald, ein sehr alter Wald …«

Ich schaute genauer hin. »Aber ich bin allein.«

»Ihr habt die Bäume, den Wald, dessen Hüter ihr seid. Mehr Gesellschaft braucht ihr nicht. Eine große Aufgabe, eine wertvolle Aufgabe. Etwas, das euren Fähigkeiten entgegen kommt.«

In der Vision hatte ich ein glückliches Gesicht. Zufrieden war ich, ruhig. Einen langen Weg vom Forstgehilfen bis zu einem Mann, dem man einen solchen Wald anvertraute … Aber etwas fehlte mir auch hier in meinen Augen. Der Träumer war noch vorhanden, aber er war still, fast friedlich, so als würde er in meiner Seele schlafen. Mein älteres Ich suchte nicht mehr nach den Abenteuern draußen in der Welt, sondern das Rauschen der Blätter, das Spiel der Zweige im Licht der Sonne hatte ihn zufrieden gemacht. Eine Zufriedenheit, die ihn auszufüllen schien – aber nicht das war, was ich mir vom Leben erträumte. Einen Augenblick schien ich mich in dem Anblick verloren zu haben, denn die Stimme des Fremden schreckte mich hoch.

»Wenn ihr soweit seid …«

»Verzaihd, doch war ich versunken in jenen Bildern, die ich im Schein der Laderne zu sehen glaubte. O tempora, o mores. Die Zeit vergeht dem Mohr am schnellsten.«

Wieder huschte dieses eigenartige Lächeln über das Gesicht des Fremden. »Aber ich muss euch warnen. Die erste und die zweite gute Frau, die zu dem kleinen Kind in der Krippe sprachen, meinten es sicher nur gut mit dem Kinde. Was ihr gesehen habt, das war ihre Vorstellung davon, was ihr euch wünschen würdet für ein erfülltes Leben. Die dritte gute Frau hat einen etwas eigenartigen Humor. Oder sagen wir es anders: Sie hat andere Vorstellungen davon, wie das Leben eines Menschen zu verlaufen hat.«

Ich erinnerte mich an einige alte Märchen, in denen die dritte Fee böse Wünsche und Verkündungen über die Menschen aussprach. Würde ich mich selbst krank und siech sehen, von einem Leben gezeichnet, das ich nicht leben wollte? Gefangen in einem tiefen Kerker, ohne Licht und frische Luft, von jenen getrennt, die ich liebte? Oder wurde ich gar zu etwas, das ich selbst zu verabscheuen gelernt hatte – einem Richter ohne Moral oder einem Polizisten ohne Skrupel, der nach vorne hin der Obrigkeit den gebeugten Rücken zeugte, während er hinten mit dem Prügel die kleinen Leute schindete und ihnen den letzten Pfennig aus den Taschen zog? Wollte ich das Bild sehen? Aber was sollte Schlimmeres mir wiederfahren als das, was ich schon erlebt hatte. »Gud«, sagte ich daher nur knapp. Bei einer längeren Erwiderung hätte ich vielleicht versucht, Bedingungen an meinen Wunsch zu knüpfen – wie jene, nur bestimmte Bilder zu zeigen und jene auszublenden, die mir Angst machen würden. Aber was nützte ein Blick in die Zukunft, wenn man nicht bereit war, das volle Maß aus dem Horn des Schicksals zu trinken?

Wieder deutete der Fremde eine kurze Verbeugung an. »Die dritte Fee – das ist eure Bezeichnung, nicht die meine, nehmt euch in Acht – nahm den mittleren Vornamen als Ansatz für ihre Gaben. Morpheus, das ist der Gott des Schlafes und der Träume. Er und seine beiden Brüder – wieder drei; ihr seht, diese Zahl zieht sich durch euer Schicksal – sind Dämonen des Traums, doch nur Morpheus ist der Herr über die Träume der Menschen. Seine Träume sind Botschaften der Götter – der alten Götter, die über Europa herrschten, bevor …« Er schüttelte den Kopf. »Doch das ist nicht Teil meiner Botschaft. Die dritte weise Frau nahm sich Morpheus zum Vorbild. Und so sind es auch Träume, Schäume, Phantasien, die ich euch bieten kann. Schaut.« Er machte eine ausholende Bewegung, und dieses Mal breitete sich die Flamme quer durch den Raum aus.

Auf der Höhlenwand sah ich nicht nur ein Bild, sondern viele Bilder. Ein ausgemergeltes älteres Ich, das sich durch eine Wüste schleppt, über der Geier kreisen, die darauf zu warten scheinen, dass er endlich verdurstet. Eine Kutsche, und mir gegenüber sitzt eine alte Frau, stilecht mit Nachthemd und bunter Schlafmütze angetan. Indianer, rothäutige Wilde, die mit geschwungenen Tomahawks auf mich zu stürmen. Ein Eisenbahnabteil, in der mir ein Mann gegenübersetzt, der mir zur Freude und Unterhaltung seine Gliedmaßen in schier unmögliche Bewegungen verrenkt. Dann ich, klein, nur in der Mitte eines großen Bildes stehend auf einem Schiff, um mich herum ein Hafen, der mich an Bilder aus Ostafrika erinnert. Schwarze Träger helfen mir, mein Gepäck auszuladen. Einer reicht mir einen knotigen Wanderstock, weil ich beim Gehen große Schwierigkeiten habe. Eine riesige Wassersäule, die wenige Schritte vor mir auf einmal aus dem Boden schießt und bis zum Himmel zu wachsen beginnt, bevor sie nach einigen Atemzügen in sich zusammenfällt und unter Hinterlassung eines riesigen Regenbogens im Erdboden verschwindet. Schließlich ich selbst als alter Mann, in einem Lehnstuhl sitzend und eine Pfeife im Mund. Ich trage ein wirklich schlimmes Hemd mit bunten Streifen und dazu einen beigen Cowboyhut auf dem Kopf. Alt sah ich aus und müde. Aber die Augen meines älteren Ichs leuchteten bei jedem Zug an der Pfeife, so als würde ich im Nebel des Tabaks Dinge sehen, die mich an Szenen aus meinem Leben erinnerten.

Kaum hatte ich mir all diese Bilder eingeprägt, als hätten sie sich eingebrannt in meine Erinnerung, waren sie wieder verschwunden.

»Ihr seht«, sagte der Fremde, »die dritte weise Frau hatte einen eigenartigen Humor.«

»Wie meind ihr das?«

»Ich darf nicht deuten, nicht empfehlen, nicht verwerfen, nicht kommentieren. Meine Handreichungen sind nur dazu da, um euch die Auswahl zu lassen. Ich darf nicht wählen, kann nicht wählen. Das ist mein Schicksal, so wie es euer Schicksal ist, wählen zu müssen.«