Reiten wir!

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I

Die beiden Reiter näherten sich dem Lager der Assiniboines von Westen. Die Sonne stand bereits tief über den Pioneer Mountains und warf lange Schatten. Obwohl sich ihr Schein bereits rötlich zu verfärben begann, besaß sie immer noch so viel Kraft, dass der junge Jäger am Rand des Lagers seine Augen mit der flachen Hand abschirmen musste. Im Gegenlicht erschienen die beiden Fremden auf ihren Pferden wie zwei schwarze Schemen in der mit niedrigem Gras bewachsenen Ebene.

Abrupt drehte der Jäger sich um und lief zu einem der zwölf Tipis seiner Ti‘óšpaye, der Großfamilie, die am Fuß der Gallatin-Bergkette ihr Winterlager aufgeschlagen hatte. Kurz darauf trat eine Frau aus dem Tipi und ging zu der Stelle, von der aus der Jäger die beiden Reiter entdeckt hatte. Sie stand reglos wie ein Fels und wartete darauf, dass die Fremden den zur Siedlung leicht ansteigenden Höhenzug erreichten. Hinter ihr sammelten sich in einigem Abstand weitere Assiniboines der Ti‘óšpaye, bis beinahe das gesamte kleine Dorf auf den Beinen war.

Die Frau war etwa fünfzig Jahre alt und nicht besonders hochgewachsen, aber schlank, mit einem länglichen Gesicht, dessen Haut die tiefe Brauntönung eines Lebens im Freien aufwies. Sie trug ihr pechschwarzes Haar, in dem bereits einige graue Strähnen sichtbar waren, streng aus dem Gesicht gekämmt und in einem langen geflochtenen Zopf, der ihr beinahe bis zur Hüfte hinabreichte. Nur die Farbe ihrer Augen, von einem intensiven Hellblau wie der Himmel im ersten Licht eines klaren Sommermorgens, verriet, dass sie keine reine Assiniboine war.

Bald waren die beiden Reiter nahe genug herangekommen, dass die Frau ihre Gestalten ausmachen konnte. Sie erkannte einen hageren älteren Mann, der auf einem Schecken ritt, während sein Begleiter, ein etwa zehn Jahre alter Junge, sich auf einem vollgepackten Maultier ein wenig hinter ihm hielt. Der Hagere ließ seinen Schecken bis dicht vor die Frau herantrotten und musterte sie lange und hart, ohne abzusteigen. Er sah um einiges älter als die Frau vor ihm aus, doch vielleicht war das seinem Bart geschuldet, der ihm in langen, grauen Zotteln vom Kinn herabhing. Er trug die lederne Kleidung eines Trappers, und sein Hut war flach und mit breiter Krempe, sodass seine Augen beinahe im Schatten darunter verschwanden.

»Du bist also diejenige, die sie Halbblut nennen«, stellte er schließlich fest. Seine tiefe, raue Stimme klang jünger, als er aussah.

»Ich habe auch einen christlichen Namen«, erwiderte die Frau ruhig. »Unter den Weißen heiße ich Ellen. Ellen Winter.«

»Vielleicht war das einmal dein Name, Frau«, gab der Reiter kühl zurück. »Jetzt nicht mehr. Jetzt bist du Halbblut, und Halbblut bleibst du, bis zum Ende deines Lebens. Du hast deine Wahl getroffen.«

Direkt hinter der Frau hatten sich fünf junge Jäger des Stammes aufgestellt. Sie betrachteten die beiden Fremden wortlos und mit feindseligen Mienen. Einer trat neben die Frau und zischte ihr in der Sprache der Assiniboines leise eine Frage zu. Die Frau schüttelte knapp den Kopf und gab ihm eine scharfe Antwort in derselben Sprache zurück.

»Was wollen Sie hier?«, wandte sie sich wieder an den Fremden.

»Ich will, dass mich einer von euch zum Lone Mountain führt. Ich habe gehört, dass ihr dort euer Winterlager habt und die Gegend kennt.«

»Dafür brauchen Sie keinen Führer«, sagte die Frau. »Reiten Sie einfach weiter direkt nach Osten, dann können Sie ihn gar nicht verfehlen. Er steht ja ganz allein, wie schon der Name sagt.«

»Was ich am Lone Mountain suche, ist nicht so leicht auszumachen wie der Berggipfel selbst«, erwiderte der Mann. »Würde ich sonst in einem Lager von Rothäuten fragen? – Ich suche das Revier von Big Surly.«

Die jungen Krieger starrten ihn an wie einen Verrückten. Mehrere von ihnen murmelten erregt miteinander. Der Reiter verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. »Dachte ich's mir doch, dass ihr schon auf ihn getroffen seid. Hätte mich sonst auch gewundert.«

»Bei meinem Volk heißt er Wütender Mann Auf Vier Beinen«, sagte die Frau, die als Einzige ruhig geblieben war. »Dem alten Griesgram geht man besser aus dem Weg, wenn man schlau ist. Er ist ein Man Eater

»Um so besser, wenn jemand ihm die Zähne zieht«, entgegnete der Fremde auf dem Schecken. »Big Surlys Ruhm hat sich herumgesprochen. Ein Yankee aus Boston, der in Virginia City nur so mit Geld um sich schmeißt, bezahlt eine ordentliche Summe für das Vieh. Der sieht ihn zuhause schon ausgestopft hinter seinem Schreibtisch stehen, mit weit aufgerissenem Rachen und Augen aus Glaskugeln.« Der Mann streckte sich im Sattel durch und sah über die Ansammlung von Tipis hinweg. Sein Blick blieb an den Holzgestellen hängen, auf denen Fleisch von Wapitis und Gabelböcken trocknete. »Bringt mich in die Nähe von Big Surly, und für euch fällt genug ab, um dieses Jahr gut durch den Winter zu kommen. Sieht ja nicht so aus, als ob ihr in diesem Sommer viel gefangen hättet.«

»Es ist genug, damit wir nicht zu hungern brauchen«, erwiderte die Halbblutfrau. »Sie werden Big Surly alleine stellen müssen.«

»Jack!«, rief der Fremde den Jungen auf dem Maultier hinter sich an, ohne sich dabei zu ihm umzudrehen. »Mach dich nützlich!«

Der Junge stieg wortlos ab. Seine Kleidung war dreckig und zerschlissen, und mit der zu großen und löchrigen Hose, die er mit einem Strick um seine Hüfte gebunden hatte, wirkte er wie eine dürre Vogelscheuche. Er nahm dem Maultier ein Bündel mit Decken ab und legte es vor der Frau auf den Boden.

»Die hier überlasse ich euch im Austausch für einen Begleiter«, sagte der Fremde. »Und ich lege sogar ein paar Stränge Tabak drauf. Bist du immer noch sicher, dass ich hier niemanden finden werde, der uns führt?«

Einer der Assiniboine-Jäger trat einen Schritt vor, aber bevor er den Mund öffnen konnte, hob die Frau eine Hand, und der junge Mann schwieg.

»Es bleibt bei meiner Antwort.«

Das Gesicht des Reiters hatte sich verfinstert.

»Ich dachte, die Assiniboines wären Krieger«, sagte er verächtlich, »keine Feiglinge, die sich von einer Frau herumkommandieren lassen.«

Der junge Mann stieß einen Schwall erregter Worte in der Sprache seines Volkes aus. Seine Hand legte sich auf den Griff des breiten Jagdmessers in seinem Gürtel.

»Sie reiten besser weiter«, sagte die Frau. »Was Sie suchen, werden sie hier nicht finden. Und wenn ich Ihnen einen Rat mit auf den Weg geben kann, dann lassen sie Big Surly in Ruhe. Er bringt den Leuten, die hinter ihm her sind, kein Glück.«

»Ich habe mir mein ganzes Leben lang mein eigenes Glück geschmiedet«, entgegnete der Fremde hart. »Ich werde mich nicht heute von ein paar ängstlichen Wilden daran hindern lassen. Das Glück gehört den Mutigen!«

Er bellte seinem Begleiter einen Befehl zu, das Bündel wieder auf das Maultier zu packen. Kurze Zeit darauf ritt er mit dem Jungen an der Siedlung vorbei Richtung Osten. Die Frau, die vor langer Zeit einmal auf den Namen Ellen getauft worden war, blickte den beiden Gestalten nach, bis sie in der allmählich einbrechenden Dämmerung verschwanden. Der Junge auf seinem Maultier, der dem Fremden in die Gefahr gefolgt war, ging ihr nicht aus dem Sinn. Sein dünnes, verschlossenes Gesicht stand ihr noch vor Augen, als sich längst die Nacht auf das Land herabgesenkt hatte.

II

Jack Hammond fror. Er bemühte sich, nicht zu laut mit den Zähnen zu klappern, während er seine steifen Finger anhauchte. Die lederne Jacke, die er über seinem Baumwollhemd trug, hielt die Oktoberkälte kaum ab, und seitdem sie die Nordseite des Lone Mountain erreicht hatten, biss sie mit jedem Höhenmeter, den sie gewannen, schneidender ins Fleisch. Henry O'Reilly neben ihm dagegen, der nicht viel dicker angezogen war, kümmerte die Kälte überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Ein inneres Feuer schien den alten Trapper zu wärmen und um so heißer aus seinen tief in ihren Höhlen liegenden Augen zu brennen, je näher er dem Ziel seiner Suche zu kommen glaubte.

Sie hatten in den letzten Tagen mehrere Male Grizzlies gesehen, meistens in den späteren Nachmittagsstunden. Dann waren die Tiere damit beschäftigt, ihre Winterlager in die höheren Berghänge unterhalb der nackten Felswände zu graben, wo der Schnee bis weit in den Frühling hinein liegen bleiben würde. Jack hatte die Bären mit riesigen Augen und heftig klopfendem Herzen beobachtet, immer aus gebührender Entfernung, doch O'Reilly hatte sich nicht weiter für sie interessiert. Er war hinter einem besonderen Tier her. Trotz seiner Aufregung hatte der Junge sich nie so lebendig gefühlt wie in diesen Tagen, allein in den Gebirgswäldern Montanas mit dem Trapper, in dessen Dienst er stand.

Jack war in Virginia City aufgewachsen. Einen Vater hatte er nie gekannt, seine Mutter war vor einem halben Jahr an der Schwindsucht gestorben. Seitdem hatte er sich auf den Straßen dieser Goldgräberstadt herumgetrieben, deren kurzlebiger Ruhm längst seinen Zenit überschritten hatte. Die Welt außerhalb von Virginia City kannte er erst, seitdem O'Reilly ihn mit sich genommen hatte. Der alte Trapper hatte einen Handlanger gebraucht, und Jack war es leid gewesen, in den Saloons Spucknäpfe auszuleeren und von den betrunkenen Gästen Prügel zu bekommen, wenn er ihnen nicht schnell genug aus dem Weg sprang. Henry O'Reilly war ein harter Knochen, dem die Hand ebenfalls locker saß. Doch wenigstens ließen die anderen, die zum Teil noch üblere Gesellen waren, Jack in Ruhe, seitdem er bei dem Alten in Lohn und Brot stand.

Bisher war ihnen das Wetter wohlgesonnen gewesen. Erst am vorigen Tag hatte es zu schneien begonnen, einzelne, aber große Flocken, die durch die beinahe windstille Luft taumelten. Bevor der Schnee dichter fallen konnte, hatten sie in einem Fichtengehölz eine Bärenspur entdeckt, die größer als alles war, was sie bisher am Lone Mountain gesehen hatten. Es war die einzige Spur weit und breit. Offenbar mieden die anderen Grizzlies das Gebiet, das dieses Ungetüm als sein Revier beanspruchte.

 

Zum ersten Mal verspürte Jack Unruhe. In den Saloons von Virginia City hatte er mehr als eine grausige Geschichte über das Unheil gehört, das ein wütender Grizzly anrichten konnte. O'Reilly dagegen wirkte alles andere als ängstlich, ganz im Gegenteil: Die Bärenspur befeuerte seine Zuversicht, dass sie Big Surly endlich aufgespürt hatten.

»Mit etwas Glück haben wir ihn bald vor der Flinte, Junge!«, sagte er begeistert, bevor er ihn anwies, das Pferd und das Maultier anzubinden und sich zu Fuß weiter fortzubewegen. Jack folgte dem hageren Trapper wie ein Schatten und bemühte sich, so lautlos wie möglich hinter ihm durch das Dickicht zu schleichen. Seine Anspannung wuchs, als O'Reilly unvermittelt anhielt und sich duckte.

»Runter!«, zischte er ihm über die Schulter zu.

Jack gehorchte ohne zu zögern und spähte an der Schulter des Trappers vorbei. Vor den beiden öffnete sich das Dickicht zu einem der baumlosen Geröllhänge, die vom Fuß des Lone Mountain bis zu seinem oberen Drittel reichten, wo der nackte Felsen begann. In etwa fünfzig Metern Entfernung gähnte ein breites Loch im Hang. Frisch ausgehobene Erde und kopfgroße helle Steine, bleich wie Knochen, lagen ringsum.

»Jede Wette, dass das Big Surlys Winterlager ist«, flüsterte O'Reilly erregt. »Wahrscheinlich hat er es sich gerade erst angelegt.«

»Du – du meinst, er ist jetzt da drin?«, stammelte Jack.

»Gibt nur einen Weg, das rauszufinden«, raunte O'Reilly so leise, wie er es mit seiner Reibeisenstimme vermochte. Er griff nach seiner Winchester, die neben ihm auf dem Boden lag. Es war der einzige Gegenstand in seinem Besitz, den er peinlich sauber hielt. Das Nussholz des Schafts glänzte matt im abnehmenden Licht des späten Nachmittags. »Du gehst vor und schlägst Lärm, damit er aus seinem Bau kommt.«

»Was? Ich soll –«, begann Jack erschrocken, bevor O'Reilly ihm einen Schlag gegen den Kopf versetzte. »Nicht so laut!«, wisperte er ärgerlich. »Du willst doch nicht, dass er uns jetzt schon hinterher rennt!«

»Tut mir leid«, flüsterte Jack und rieb sich die schmerzende Schläfe.

»Hör genau zu: Du gehst in Richtung des Baus und schlägst Krach. Sobald das Vieh seinen Kopf aus dem Bau steckt, rennst du den Hang entlang, aber auf keinen Fall zurück in meine Richtung, sonst hab ich kein freies Schussfeld. Mach dir keine Sorgen! Sobald Big Surly dir hinterher kommt, jage ich ihm eine Kugel ins Herz.«

»Er wird mich umbringen!«, stieß Jack so leise hervor, wie er es in seiner Verzweiflung vermochte.

O'Reilly starrte ihn mit einer Mischung aus Wut und Verachtung an. »Was bist du bloß für ein Waschlappen! Ich passe auf dich auf, und ich verfehle ihn nicht, schon gar nicht auf die Entfernung. Los, jetzt, zeig mir, aus welchem Holz du geschnitzt bist, oder ich nehm mir das Maultier und lass dich hier am Lone Mountain zurück!«

Trotz seiner Angst gehorchte Jack dem Trapper. Die Aussicht, sich allein und ohne fremde Hilfe in den wilden Wäldern Montanas zurecht finden zu müssen, war entsetzlicher als das dunkle Loch vor ihm. Vielleicht hatte er ja Glück, und Big Surly hielt sich gar nicht in seinem Bau auf. Er erhob sich und trat an dem geduckt hinter einem verrottenden Baumstamm liegenden O'Reilly vorbei auf das offene Gelände hinaus. Einen Schritt nach dem anderen näherte er sich über den Hang aus Geröll und aufgeworfener Erde dem frisch gegrabenen Loch.

Etwa fünf Meter vor dem Eingang blieb er stehen. Die wenigen taumelnden Schneeflocken hatten aufgehört zu fallen, und Jack war, als sei jedes Geräusch wie aus der Umgebung herausgesickert.

Er wusste, dass O'Reilly ihn aus der Deckung des Unterholzes in seinem Rücken beobachtete. Dass der Trapper ihn ohne zu zögern zurücklassen würde, wenn er nicht das tat, was er ihm befohlen hatte. Langsam und ohne den Eingang zu dem breiten Erdloch aus den Augen zu lassen, ging er in die Knie und hob einen faustgroßen Stein vom Boden auf.

Er holte tief Luft und spürte seinen Herzschlag hart im Hals.

»Komm raus, wenn du da bist!«, rief er mit schriller, erstickter Stimme und schleuderte den Stein. In seiner Aufregung hatte er so schlecht gezielt, dass sein Wurfgeschoss gegen den oberen Rand des Lochs prallte, bevor es polternd im Dunkel verschwand.

Der Bär tauchte mit solcher Geschwindigkeit aus seinem Bau auf, dass Jack erst auf den Gedanken kam, die Beine in die Hand zu nehmen, als das Tier sich vor ihm mit einem nassen Schnaufen zu voller Größe aufrichtete, ein mehr als zwei Meter hoher Berg aus schmutzig-braunem Fell und Muskeln. Seine kleinen Augen richteten sich auf den Jungen. Als Big Surlys Blick den Seinen traf, endete endlich Jacks Lähmung. In Panik fuhr er herum. Er glaubte deutlich das harte Klicken eines Schlagbolzens zu hören, doch kein Schuss peitschte auf. Im selben Moment, als er losrannte, ließ der Grizzly sich schwer auf die Vorderpfoten fallen. Er riss sein Maul auf und gab ein tiefes, grollendes Brüllen von sich. Speichel spritzte ihm in dicken Tropfen von den Lefzen, seine Reißzähne glänzten nass.

Jack hetzte den schrägen Hang hinab. Seine Beine verfingen sich in einer aus dem Erdreich hervorstehenden Wurzel. Er fühlte einen harten Ruck, verlor das Gleichgewicht und stürzte vornüber. Seine Hüfte und sein linker Arm schrammten schmerzhaft über das Geröll am Boden. Er blickte zurück und sah den Grizzly, der ihn mit wenigen Sprüngen erreicht hatte. Big Surlys rechte Vorderpfote schnellte vor und fetzte Jack über die Schulter, wobei er ihn so mühelos wie einen Tierkadaver herumschleuderte. Jack schrie gellend auf, als ein heißer Schmerz durch seine aufgerissene Schulter jagte. Big Surlys Kopf schoss vor, um die Zähne in das Gesicht des Jungen zu graben, da knallte ein Stein hart gegen seinen Schädel, groß wie ein Ziegel.

Der Grizzly hielt mitten in seinem Ansturm inne und schüttelte heftig den Kopf.

»Hey!«, vernahm Jack die durchdringende Stimme von Henry O'Reilly. Hierher, hey! Komm schon!« Er wandte mühsam den Kopf und sah den Trapper, der seine Deckung verlassen hatte und wie wild mit den Armen winkte. O'Reilly holte aus und schleuderte einen weiteren Stein, der gegen den Oberkörper des Bären prallte.

»Na los doch!«, brüllte er ihn an. »Setz schon deinen faulen Arsch in Bewegung! Sie hätten dich nicht Big Surly, sondern Big Ugly nennen sollen, du hässliches Vieh!«

Mit wütendem Schnauben fuhr der Bär herum und auf O'Reilly zu, der sein Bowiemesser zückte. Jack wälzte sich auf die Seite. Seine Schulter brannte wie Feuer. Er sah, wie der Bär O'Reilly ansprang. Der zähe Trapper ging nicht sofort zu Boden. Die beiden Kämpfenden schienen eng aneinander geklammert einen eigenartigen Tanz zu vollführen. Der Trapper rammte Big Surly wie besessen sein Jagdmesser in die Seite, wieder und wieder, aber das verlangsamte den angreifenden Grizzly nicht im Geringsten. Mit der Wucht einer heranrollenden Zugmaschine stemmte er sich gegen O'Reilly und drückte ihn rückwärts zu Boden. Sein gähnendes Maul vergrub sich in den Hals des Trappers. Ein gurgelnder Schrei entkam O'Reillys Kehle und riss abrupt ab. Blut färbte das knochenfarbene Geröll am Boden. Big Surly stieß den Körper seines Gegners hin und her, dann wandte er sich unvermittelt um, als hätte er sich wieder daran erinnert, dass es da noch einen zweiten Eindringling in sein Revier gab.

Jack versuchte erneut, sich aufzurichten, doch seine Muskeln wollten ihm nicht gehorchen. Der brennende Schmerz in seiner Schulter füllte seine gesamte Wahrnehmung aus. Gelähmt vor Entsetzen starrte er das monströse Tier an, das sich ihm erneut näherte.

Da ertönte eine weitere helle Stimme über den Hang hinweg.

»Big Boy, hey Big Boy! Komm her!«

Jack wandte mühsam den Kopf. Aus der Richtung des Waldes, den sie durchquert hatten, hatte ein junger Mann den Hang betreten. Er war bestimmt nicht älter als achtzehn oder neunzehn Jahre. Sein weizenblondes Haar hing ihm tief in die Stirn. Trotz der Kälte trug er nur ein Baumwollhemd über der abgewetzten Denim-Nietenhose eines Farmers. Wie eben noch O'Reilly winkte er wie wild mit beiden Armen, um die Aufmerksamkeit des Bären zu bekommen.

Big Surly hatte Jack beinahe erreicht. Der Junge konnte den intensiven Gestank von feuchtem Fell und Urin wahrnehmen, der von dem riesigen Grizzly ausging. Der Kopf des Bären senkte sich auf ihn herab, als der Fremde das Tier erneut anrief. »Komm schon, alter Junge! Hierher!«

Neugierig hielt Big Surly inne, dann machte er eine Kehrtwende. Der Fremde winkte und stieß einen weiteren Schrei aus, bevor er sich umdrehte und im Wald verschwand. Eilig folgte ihm der Grizzly, aber mehr wie ein zahmer Hund als ein wütendes Untier, das Blut sehen wollte.

Jack war zu erschöpft, um sich darüber zu wundern. Die Konturen der Landschaft um ihn herum verblassten zu milchigem Grau, und ihm schwanden die Sinne.

Als er die Augen wieder aufschlug, hatte der junge Mann sich über ihn gebeugt und begutachtete seine Schulter.

»Keine Sorge, Big Surly ist fort«, sagte er. »Und so schnell kommt er auch nicht wieder. Kannst du aufstehen?«

Jack nickte. Der junge Mann half ihm auf die Beine.

»Was – was ist mit O'Reilly?«, fragte Jack heiser.

Der Fremde, der ihn gerettet hatte, schüttelte nur knapp den Kopf. Er begutachtete die Verletzung des Jungen. Seine ernsten Augen besaßen die Farbe von Schiefer. »Du hast eine Menge Blut verloren. Wenn deine aufgerissene Schulter nicht schnell versorgt wird, dann wirst du sterben. Komm mit mir.«

Jack fühlte, wie der Fremde ihn stützte. Er stolperte neben ihm den Pfad entlang, den er mit O'Reilly gekommen war. Sein Blick fiel auf den Leichnam und die polierte Winchester, die den Trapper im entscheidenden Moment im Stich gelassen hatte. Nutzlos lag sie neben ihrem Besitzer am Boden. Sein Begleiter würdigte weder O'Reilly noch das Gewehr neben ihm eines Blicks. Im nächsten Moment waren sie vorbei, und Jack schien, als gehörte der Tote bereits zu einer weit zurückliegenden Vergangenheit.

Der Fremde half Jack dabei, auf O'Reillys Pferd zu steigen, wobei der Junge vor Schmerzen beinahe das Bewusstsein verlor. Wie durch einen grellroten Schleier nahm Jack wahr, dass der Mann das Maultier mit einem Strick an den Sattel des Pferdes band. Er selbst setzte sich hinter den Jungen auf das Pferd.

»Halte durch!«, hörte Jack ihn mit eindringlicher Stimme sagen. »Ich bringe dich zu ihr, in Sicherheit.«

Jack Hammond versuchte angestrengt etwas zu erwidern. Er wollte den jungen Mann nach seinem Namen fragen, danach, wo er so unvermittelt hergekommen war, wieso Big Surly ihn nicht angegriffen hatte, und zu wem der Fremde ihn brachte. Aber seine Zunge fühlte sich dick und heiß an, und es wollten ihm keine zusammenhängenden Worte über die Lippen kommen. Er sackte über dem Tier zusammen und ahnte mehr, als dass er es spürte, wie Hände ihn festhielten, sodass er nicht zu Boden fiel. Dann stieg Dunkelheit vom warmen Rücken des Pferdes auf und verschluckte ihn.