Internationale Beziehungen

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2.1 | Neorealismus

Die Ideenwelt des Realismus7 ist reichhaltig und reicht bis zum Philosophen Thucydides (460–400 AC) in der griechischen Antike zurück. Politisch wurde der Realismus während des Kalten Krieges zur einflussreichsten Denkschule. George Kennan, Hans Morgenthau und Henry Kissinger gelten als die wichtigsten Vertreter. Die moderne Politikwissenschaft entwickelte den klassischen Realismus dieser Autoren fort zum Neorealismus. Dessen herausragende Vertreter sind Kenneth N. Waltz; John J. Mearsheimer, Robert Gilpin, Joseph Grieco oder Joanne Gowa. In Deutschland wird er vor allem von Werner Link und Carlo Masala vertreten.

Anarchie

Die Internationalen Beziehungen verdanken der neorealistischen Theorie zwei Schlüsselannahmen.8 Die erste lautet: Das internationale System ist von Anarchie gekennzeichnet.

Dieses Merkmal ist der wesentliche Unterschied zwischen internationalen Beziehungen und der Politik innerhalb von Staaten, denn dort herrscht ein Gewaltmonopol, dem sich die Bürger als Akteure unterordnen müssen. Diese Annahme wird mittlerweile von den allermeisten Autoren geteilt, auch wenn sie sich nicht der realistischen Denkschule zurechnen (Lake 2009: 1–2).

Definition

Anarchie in Internationalen Beziehungen

Unter Anarchie wird nicht Chaos verstanden, sondern die Abwesenheit einer zentralen Autorität, die es vermag, für alle Akteure bindende Regeln zu setzen und gegen Widerstände durchzusetzen. Anarchie ist das Gegenteil von Hierarchie, denn alle Akteure sind im Prinzip ähnlich und einander gleichgestellt. Ähnlich bedeutet, dass sie alle dieselben Funktionen ausüben.

Staaten als Akteure

Die zweite Annahme lautet: Staaten sind die zentralen oder sogar einzigen Akteure in Internationalen Beziehungen. Alle anderen Arten von Akteuren können bei der Forschung vernachlässigt werden. Staaten werden auch nicht (wie z. B. von den Vertretern des Liberalismus; Kap. 2.2.3) weiter nach verschiedenen Akteuren untergliedert.

Selbsthilfe

Von der Anarchie als Merkmal des internationalen Systems geht nun eine ganz erhebliche Wirkung aus: Sie legt die Interessen und Interaktionen der Akteure fest. Denn wenn es keine übergeordnete Autorität gibt, die die Akteure – also Staaten – notfalls voreinander schützen wird, dann müssen diese selbst für ihre Sicherheit – im Extremfall für ihr Überleben – sorgen. Da sie sich auf keine Autorität verlassen können, sind sie auf Selbsthilfe angewiesen. Neorealisten bezeichnen das internationale System deshalb auch als »anarchisches Selbsthilfesystem«.

Sicherheitsdilemma

Wenn Staaten sich nicht auf eine übergeordnete Regierung mit Polizei und Justiz, die sie notfalls vor anderen Staaten schützt, verlassen können, rückt die Herstellung von Sicherheit an die erste Stelle der Liste staatlicher Interessen. Kein anderes Interesse ist wichtiger. Alle Staaten müssen sich daher ausreichende Kapazitäten verschaffen, um sich gegen die Angriffe anderer Staaten schützen zu können. Zu diesem Zweck werden sie militärisch aufrüsten. Von diesen Aufrüstungsmaßnahmen werden sich aber andere Staaten zwangsweise bedroht fühlen. Denn diese können nicht wissen, ob ein Staat aufrüstet, um sich selbst zu schützen, oder um sie anzugreifen. Da Staaten die Absichten anderer Staaten nicht bekannt sind, besteht die sogenannte Informationsunsicherheit. In dieser Situation müssen Staaten also von der schlimmeren der beiden genannten Möglichkeiten ausgehen. John Herz (1950) sprach vom sogenannten Sicherheitsdilemma: Die Sicherheit des einen Staates ist die Unsicherheit des anderen Staates. Als Reaktion auf die Aufrüstung des einen Staates werden auch andere zur Selbsthilfe schreiten und aufrüsten. So entsteht ein Rüstungswettlauf zwischen Staaten, den Neorealisten auf die Ursache der Anarchie im internationalen System zurückführen. Konflikte zwischen Staaten sind in Internationalen Beziehungen nahezu unvermeidlich.

Relative Gewinne

Aus diesem Grund halten Neorealisten auch die Möglichkeiten von Kooperationen zwischen Staaten für äußerst begrenzt. Das anarchische Selbsthilfesystem zwingt sie dazu, strikt darauf zu achten, dass Kooperation mit anderen nicht zu einem Nachteil für sie selbst wird. Wenn sie eine Kooperation eingehen, muss der gemeinsame Nutzen (Kooperationsgewinn) gleichmäßig auf alle beteiligten Staaten verteilt sein. Diese Bedingung nennt man »relative Gewinne« (Grieco 2006; Waltz 1979). In Abbildung 2.1 links ist diese Bedingung erfüllt, denn alle Staaten A bis E gewinnen 20 % aus einer Kooperation miteinander. Ist, wie in Abbildung 2.1 rechts, diese Bedingung nicht erfüllt, d. h. gibt es die Chance, dass ein oder mehr Staaten größeren Nutzen aus der Kooperation ziehen könnten als andere, dann gehen Staaten diese Kooperation gar nicht erst ein.9 Staaten werden also eher nach Autonomie streben, statt sich in eine Abhängigkeit von anderen Staaten zu begeben. In einem anarchischen Selbsthilfesystem, so die Neorealisten, ist Kooperation sehr schwierig und deshalb selten.

Herausforderung von Hegemonen

Vertreter der neorealistischen Schule sind sich nun uneins, ob Staaten nur den Status quo ihrer machtpolitischen Position im Staatensystem erhalten (defensive Realisten z. B. Waltz) oder ihre Position im Vergleich zu anderen Staaten dauerhaft verbessern wollen (offensive Neorealisten z. B. Mearsheimer). Konflikte mit gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Großmächten entstehen vor allem dann, wenn es zwischen ihnen zu erheblichen Machtverschiebungen kommt. Eine Möglichkeit ist, dass ein Staat seine Position durch einseitige Aufrüstung erheblich verbessert. Auf diese Weise fordert er den Staat heraus, der bislang eine herausgehobene Stellung eingenommen hat.

Abb. 2.1 | Relative und absolute Verteilung von Kooperationsgewinnen


Quelle: eigene Darstellung.

Definition

Hegemon

Ein Staat, der über sehr viel mehr Macht verfügt als andere und deshalb Regeln setzen und deren Einhaltung erzwingen kann, wird Hegemon genannt.

Ein Krieg kann ausbrechen, entweder wenn ein Hegemon einen aufstrebenden Staat in dessen Schranken weisen und seine eigene hegemoniale Stellung bewahren möchte, oder Krieg bricht aus, weil ein aufsteigender Staat den Hegemon vom Sockel stoßen und selbst Hegemon werden möchte. Das dazu einschlägige Forschungsprogramm wird als Machtübergangstheorie (power transition theory) bezeichnet (Levy/Thompson 2010: 44–48). Diese beiden Varianten werden als mögliche Szenarien für die Beziehungen zwischen dem gegenwärtigen Hegemon USA und der aufstrebenden Volksrepublik China gesehen (Wolf 2012; Kap. 3.1.1).

Macht

Für die neorealistische Denkschule steht daher die »Macht« von Staaten im Zentrum der Betrachtung.

Definition

Macht

Unter Macht versteht man zumindest die Ausübung einer der folgenden Möglichkeiten, eigene Ziele auch gegen Widerstand durchzusetzen (Hart 1976):

Lenkung von Ressourcen,

Beherrschung von Akteuren,

Lenkung von Politikergebnissen.

Position im Staatensystem

»Polarität«

Die Ausstattung von Staaten mit Macht – insbesondere mit militärischen Fähigkeiten – bestimmt, welche Position sie im internationalen Staatensystem einnehmen. Während Staaten sich also einerseits im Prinzip einander ähnlich sind, weil sie die gleichen Funktionen ausüben (Waltz 1979: 93), unterscheiden sie sich andererseits mit Blick auf ihre Machtpotentiale sehr. Mehr noch: die Verteilung von Macht auf Staaten zeigt auch die Konfiguration — Neorealisten sprechen von »Polarität« — des gesamten internationalen Systems an. Gibt es einen Staat, der in der Machtausstattung alle anderen weit überragt, spricht man von Unipolarität. Dies ist die Konfiguration des gegenwärtigen internationalen Systems, weil die USA allen anderen Staaten machtpolitisch haushoch überlegen ist. Gibt es zwei ähnlich starke Staaten, so nennt man dies Bipolarität. So bildeten die USA und die Sowjetunion die beiden machtpolitischen Pole im internationalen System während des Kalten Krieges (1945–1990). Findet man mehr als zwei Staaten, die machtpolitisch ähnlich ausgestattet sind, so spricht man von Multipolarität. Diese Konfiguration bestand z. B. im Europa des 19. Jahrhunderts zwischen Großbritannien, Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland (Preußen).

Balancing

Bandwagoning

Hegemone und/oder Großmächte zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbst für ihre Sicherheit und ihr Überleben sorgen können. Dazu verfügen sie über ausreichend Ressourcen. Kleinere Staaten – und das ist die ganz überwiegende Zahl – sind auch bei allergrößter Anstrengung nicht in der Lage, ihr Überleben ohne fremde Unterstützung sicherzustellen. Selbsthilfe ist für diese Staaten keine erfolgversprechende Strategie, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Sie müssen deshalb zu einer der Selbsthilfe nachgeordneten Strategie — einer zweiten Präferenz — greifen. Hierzu bieten sich ihnen zwei Möglichkeiten: Erstens können sich viele kleinere Staaten zu einer Allianz zusammenschließen, denn mit dem gemeinsamen Machtpotential aller zusammen sind sie viel eher als jeder einzelne in der Lage, die Macht einer Großmacht/eines Hegemons auszubalancieren. Dieses Verhalten bezeichnet man mit dem englischen Wort balancing. Indem sich viele kleine Staaten zu einem Bündnis zusammenschließen, bilden sie einen eigenen machtpolitischen Pol im internationalen System gegen eine oder mehrere Großmächte. Zweitens können sich kleinere Staaten einer Großmacht anschließen und/oder unterordnen, die dann die Sicherheit der Kleinen garantiert. Dieses Verhalten bezeichnet man mit dem englischen Wort als bandwagoning.10 Bei dieser Möglichkeit versprechen sich die kleineren Staaten nicht nur den Schutz durch den Hegemon, sondern sie hoffen auch, dass sie an den Gewinnen des Hegemons in internationalen Beziehungen angemessen beteiligt werden.

 

Es ist vergleichsweise einfach, das Machtpotential von Staaten grob zu schätzen, um Unterschiede zwischen Hegemonen, Großmächten und kleinen Staaten zu bestimmen. Bei solchen groben Schätzungen spielen üblicherweise die Größe der Bevölkerung, das Bruttoinlandsprodukt und die Größe des staatlichen Territoriums eine wichtige Rolle. Der herausragende Faktor sind aber vor allem die militärischen Fähigkeiten. Um diese zu bestimmen, prüft man zum einen, ob es sich um Kernwaffenstaaten handelt oder nicht. Zum anderen gilt es, die Höhe der Verteidigungsausgaben sowie die Mannschaftsstärke der Streitkräfte zu ermitteln (Pastor 1999). Diese Kennzahlen kann man entweder auf ihren Anteil an den weltweiten Potentialen beziehen oder zwei oder mehr Staaten einander gegenüberstellen.

Messung von Macht

Das Machtpotential von Staaten genauer zu bestimmen als nur grob zu schätzen (Sullivan 1990), ist dagegen schwierig. Dazu müssten viele verschiedene Faktoren von den militärischen Fähigkeiten über wirtschaftliche Kapazitäten bis hin zur Innovationsfähigkeit erfasst und auf einheitliche Maßstäbe gebracht werden, mit denen man verschiedene Staaten beurteilen und vergleichen kann. Noch schwieriger erweist sich die Messung von »weicher Macht« (Nye 2004). Darunter versteht man die Fähigkeit von Staaten, beispielhaft zu wirken, und zwar in dem Sinne, dass andere Staaten dieses Beispiel nachahmen. Dieser von Konstruktivisten bevorzugte Machtbegriff bezieht auch immaterielle Faktoren (s. u.) ein. Neorealisten lehnen ihn eher ab.

Latente vs. tatsächliche Macht

Mearsheimer (2001: Kap. 3) oder Beckley (2011/12) haben sich zumindest bemüht, die Machtpotentiale von Staaten mit Hilfe von materiellen Maßstäben näher zu bestimmen.11 Mearsheimer unterschied dabei zwischen latenter Macht (Wohlstand) und tatsächlicher Macht (militärischen Fähigkeiten). Er legte dar, dass die Messung von Wohlstand unterschiedlich ausfallen müsse, je nachdem, in welcher Geschichtsperiode man sich befinde. Für die Bestimmung von Wohlstand seien also periodenspezifische Faktoren ausschlaggebend. Für die Zeit von 1816 bis 1960 zog er den Anteil jedes Staates an der weltweiten Eisen- und Stahlproduktion ebenso heran wie den Anteil am Energieverbrauch. Für die Machtmessung von 1960 bis heute benutzte er den Anteil der Staaten am Weltbruttosozialprodukt.

Zur Messung und den Vergleich der militärischen Stärke von Staaten schlug Mearsheimer drei Schritte vor (Mearsheimer 2001: 135–137). Er räumte jedoch ein, dass dies ebenfalls eine schwierige Unternehmung sei. Daher gäbe es keine Untersuchung, in der die militärische Stärke von Staaten systematisch und über längere Zeiträume gemessen worden wäre. Erstens müssten Größe und Qualität von Landstreitkräften bestimmt werden. Jedoch sei die Bestimmung von Qualität nicht einfach. Zweitens müsste untersucht werden, wie sehr Luftstreitkräfte die Bodentruppen unterstützen könnten. Drittens müsste geprüft werden, in welchem Maß große Distanzen zu Wasser oder in der Luft überwunden werden können, damit Streitkräfte am richtigen Ort zum Einsatz gebracht werden könnten. Dieser letzte Schritt erfasst also die Fähigkeit zur Machtprojektion.

Machtverschiebung über Zeit

Wenn es gelingt, diese Schwierigkeiten bei der Bestimmung von Macht zu überwinden; so kann man die relative Macht von Staaten gegenüber anderen Staaten zu einem bestimmten Zeitpunkt feststellen. Aus der Sicht des Neorealismus ist aber fast noch wichtiger, wie sich diese Machtverhältnisse zwischen Staaten über Zeit verändern. Denn der Aufstieg oder Fall von Großmächten sind jeweils kriegsträchtige Entwicklungen. Es zeigt sich, dass die wissenschaftlichen Debatten über Machtverschiebungen, die z. B. Kennedy (1989) mit seinem Werk über den Aufstieg und Fall von Großmächten zwischen 1500 und 2000 ausgelöst hat, vorwiegend entlang der Frage geführt werden, wie man Macht und Machtveränderung eigentlich bestimmen kann (Nye 1990).

Zusammenfassung

Neorealismus

Staaten sind primäre und einheitliche Akteure Internationaler Beziehungen. Ihr vorrangiges Interesse ist Sicherheit, d. h. das eigene Überleben als Staat. Internationale Beziehungen sind von Anarchie gekennzeichnet. Sie zwingt nach Sicherheit strebende Staaten zur Selbsthilfe. Das Streben nach Sicherheit im anarchischen Selbsthilfesystem führt zum Sicherheitsdilemma. Konflikte sind deshalb die häufigsten Politikergebnisse. Kooperation in internationalen Beziehungen ist selten. Sie ist an die Bedingung relativer Gewinne geknüpft: Nur wenn jeder der beteiligten Staaten denselben Gewinn aus der Kooperation zieht wie alle anderen, werden sie sich darauf einlassen.

Machtausstattung von Staaten und Machtverteilung im internationalen System bestimmen, welche Strategien Staaten zur Herstellung von Sicherheit wählen können. Konflikte aufgrund von Machtverschiebungen zwischen Hegemonen und Aufsteigern werden häufig gewaltsam ausgetragen. Kleinere und weniger mächtige Staaten müssen sich entweder für balancing oder bandwagoning entscheiden.

2.2 | Institutionalismus

Ideengeschichtlich knüpft der Institutionalismus an die klassische liberale Volkswirtschaftstheorie an. Adam Smith (1723–1790) und John Stuart Mill (1806–1873) können als Vordenker gelten. Der Institutionalismus reicht jedoch über die Teildisziplin Internationaler Beziehungen hinaus, weil auch in anderen politikwissenschaftlichen Teildisziplinen die Wirksamkeit von Institutionen erforscht wird (Hall/Taylor 1996; March/Olsen 1989; North 1990; Steinmo/Thelen/Longstreth 1992). In den modernen Internationalen Beziehungen sind insbesondere Robert O. Keohane, Joseph S. Nye Jr., Lisa Martin, Kenneth Oye und Arthur A. Stein die wichtigsten Vertreter. In Deutschland wird diese Theorie vor allem von der Tübinger Schule um Volker Rittberger, Andreas Hasenclever, Michael Zürn und Bernhard Zangl sowie von Otto Keck vertreten.

Übereinstimmung der Grundannahmen

Interessenmix

Institutionalisten12 stimmen mit den Neorealisten darin überein, dass Staaten die wichtigsten Akteure in Internationalen Beziehungen sind und dass Anarchie ein wesentliches Merkmal des internationalen Systems ist. Sie teilen jedoch keineswegs die von Neorealisten daraus gezogenen Schlussfolgerungen, dass Staaten vorrangig nach Sicherheit und Überleben streben müssen und dass sie deshalb in einen unauflöslichen Konflikt miteinander geraten. Neben dem Streben nach Sicherheit vereint Staaten aus der Sicht der Institutionalisten auch das Interesse an Wohlstandsmehrung. Es kann vor allem dann erreicht werden, wenn sie miteinander kooperieren. Internationale Beziehungen werden also nicht vorrangig von Konflikten beherrscht, wie Neorealisten behaupten, sondern von einer Mischung aus gemeinsamen und trennenden Interessen. Größerer Wohlstand für alle Staaten ist dann zu erreichen, wenn es zu einer Spezialisierung und Arbeitsteilung zwischen Staaten kommt ( Kap. 5.1), aus der jeder einen absoluten Gewinn zieht (vgl. Abb. 2.1, rechts). Es muss allerdings sichergestellt werden, dass Staaten fair miteinander umgehen und nicht versuchen, sich gegenseitig zu übervorteilen. Dem stehen jedoch konkrete Kooperationshindernisse im Weg.

Überblick

Kooperationshindernisse

Betrug, Übervorteilung und Sorglosigkeit sind die Haupthindernisse, die Staaten davon abhalten, Vereinbarungen zu treffen und/oder einzuhalten. Um diese zu überwinden, muss sichergestellt sein, dass

alle Beteiligten einen Nutzen aus einer Kooperation ziehen, d. h. einen absoluten Gewinn (vgl. Abb. 2.1, rechts) erzielen;

alle Beteiligten die Regeln einhalten; wenn einem Staat aus der Regelverletzung Vorteile entstehen könnten, müssen Vorkehrungen für die Überwachung und nötigenfalls Bestrafung getroffen werden;

Vereinbarungen nicht dazu genutzt werden, sorglosen Umgang z. B. mit der gemeinsamen Sicherheit zu pflegen, weil die Risiken von den anderen Vereinbarungspartnern mitgetragen werden. Dieses Kooperationshindernis nennt man mit dem englischen Begriff moral hazard. Ein Beispiel: Ein Staat geht eine Allianz mit anderen ein, weil er militärischen Schutz gegenüber einem Nachbarstaat sucht. Mit dieser Allianz im Rücken fühlt er sich so sicher, dass er den Nachbarstaat ständig provoziert oder sogar selbst angreift. Seine Alliierten werden dadurch unbeabsichtigt in einen Konflikt hineingezogen.

Kooperationsanreize

Schatten der Zukunft

Mit Hilfe der Spieltheorie haben Institutionalisten herausgefunden, dass Akteure nur unter bestimmten Voraussetzungen versuchen, sich gegenseitig zu betrügen oder zu übervorteilen (Axelrod 1988; Oye 1986). Eine dieser Voraussetzungen ist, dass Kooperation nur einmalig stattfindet. Wenn Staaten aber mehrfach miteinander kooperieren, sinkt der Anreiz für einen Betrug, weil man damit rechnen muss, auch die andere Seite könnte die Kooperationsbeziehung zum eigenen Vorteil ausnutzen oder sogar ganz beenden. Auf dieses Weise wäre der durch Betrug erzielte Nutzen geringer als der durch mangelnde Kooperation entstandene Schaden. Übervorteilung und Betrug lohnen sich also dann nicht, wenn Staaten langfristig mit einander kooperieren. Über einer unbefristet angelegten Kooperationsbeziehung liegt also der »Schatten der Zukunft«. Die Beziehung ist so wertvoll, dass man sie nicht leichtfertig einem nur kurzfristig durch Betrug erzielbaren Nutzen opfert.

Linkage

Eine weitere Kooperation fördernde Voraussetzung ist, dass Staaten nicht nur in einem Politikfeld zusammenarbeiten, sondern auf vielen. Je vielfältiger und dichter die wechselseitigen Beziehungen werden, d. h. je höher der Verflechtungsgrad steigt, desto schädlicher ist es, einen Betrugsversuch zu unternehmen. Die Verbindung von Interaktionen in verschiedenen Politikfeldern wird mit dem englischen Wort linkage bezeichnet. Je mehr linkage besteht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Kooperation.

Die kooperationsfördernde Wirkung von linkage kann außerdem dadurch verstärkt werden, dass Staaten eine »wie du mir, so ich dir« Strategie anwenden. Sie besteht darin, dass jede Aktion eines Akteurs mit der gleichen Aktion des anderen Akteurs beantwortet wird. Betrug wird mit Betrug, Kooperation mit Kooperation beantwortet. Auf diese Weise können Staaten lernen, dass Betrug schadet und Kooperation lohnt.

 

Wirksame Selbstregierung

Kollektiv handeln

In ihren bahnbrechenden Studien fand Elinor Ostrom heraus, dass Individuen tatsächlich in der Lage sind, ohne staatliche Hilfe Lösungen zur Überwindung von Kooperationshindernissen zu finden. Bergbauern in der Schweiz verständigten sich beispielsweise gemeinsam auf Regeln, mit denen die Überweidung gemeinschaftlich genutzter Wiesen wirksam verhindert wurde; Fischer verständigten sich auf Übereinkünfte, mit denen die Überfischung von Meeren verhindert und der natürliche Bestand erhalten werden konnten; in Nepal gelang es den Bürgern, wirksame Regeln für den Wasserverbrauch zu vereinbaren, mit denen dem Wassermangel begegnet wurde. Diese und zahlreiche andere Beispiele, die Ostrom erforschte, zeigen, dass die Betroffenen vor Ort häufig in der Lage sind, ihre Kooperationsprobleme durch Übereinkünfte selbst zu lösen (Cox et al. 2009; Ostrom 1999; 2010a; b). Besonders wichtig ist: Sie sind dabei nicht auf eine übergeordnete Regierung d. h. einen Staat angewiesen. Gesellschaften können auch ohne Regierung kollektiv handeln. Für ihre Arbeiten erhielt Ostrom zusammen mit Oliver Williamson 2009 den Nobelpreis für Ökonomie.

Wenn es Bürgern in ihren lokalen Gemeinden gelingt, Kooperationshindernisse durch Selbstregierung wirksam zu überwinden, können Staaten dies in internationalen Beziehungen nicht auf ähnliche Art und Weise erreichen?13 Wenn dies gelingt, so die institutionalistische Denkschule, stellt Anarchie kein unüberwindliches Hindernis für Kooperation in den internationalen Beziehungen mehr dar. Es kommt lediglich darauf an, den Akteuren dabei zu helfen, die resultierenden Dilemmata zu lösen, d. h. die weiter oben erläuterten Kooperationshindernisse ( Überblick) zu überwinden.

Institutionen

Dies kann am besten dadurch erreicht werden, dass gemeinsame Regeln vereinbart und eingehalten werden. Solche Regeln werden »Institutionen« genannt. Institutionen bieten erhebliche Vorteile für Akteure. Der wichtigste Vorteil ist, dass die sogenannten Transaktionskosten gesenkt werden.

Exkurs

Transaktionskosten

Transaktionskosten sind ein Begriff aus den Wirtschaftswissenschaften. Sie entstehen, wenn zwei oder mehr Akteure ein Geschäft abschließen. Wer z. B. einen Handyvertrag mit einem Mobilfunkanbieter abschließt, muss glaubhaft machen, dass er die monatlichen Rechnungen bezahlen wird. Der Mobilfunkanbieter überprüft die Kreditwürdigkeit des Handykäufers jedoch nicht selbst, weil das sehr aufwendig wäre. Vielmehr nutzt er dafür z. B. die Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung (Schufa). Die Schufa sammelt Informationen über die Kreditwürdigkeit nahezu aller Bürger in Deutschland. Ihr Urteil zur Kreditwürdigkeit stellt sie Banken und Firmen gegen Gebühr zur Verfügung.

Diese Gebühren sind wichtige Transaktionskosten beim Abschluss etwa eines Handyvertrages, um zu unserem Beispiel zurückzukommen. Sie sind weitaus geringer, als wenn Mobilfunkanbieter die Kreditwürdigkeit jedes einzelnen Kunden selbst überprüfen müssten. In diesem Fall würden die Kosten für Handyverträge in erheblichem Maße steigen. Viele Bürger könnten sich keine Handys mehr leisten. Transaktionskosten wurden also dadurch gesenkt, dass man die Beurteilung von Kreditwürdigkeit gewissermaßen in eine Hand — die Schufa — gelegt hat. Auf diese Weise werden Handyverträge für weit mehr Kunden bezahlbar als ohne Schufa. Sowohl Handykäufer als auch Mobilfunkanbieter profitieren deshalb davon, dass sehr viel mehr Geschäfte abgeschlossen werden, weil Transaktionskosten ge senkt wurden. Zusammengerechnet bilden diese Vorteile auf beiden Seiten den Wohlfahrtsgewinn aus der Kooperation.

Transaktionskosten fallen natürlich auch in internationalen Beziehungen an. Man denke z. B. daran, dass die eigene Währung umgetauscht werden muss, wenn man im Ausland einkaufen will, weil sie dort nicht als Zahlungsmittel für Transaktionen akzeptiert wird. Die Umtauschgebühren stellen also Transaktionskosten dar. Wer sie nicht bezahlen möchte, kann im Ausland nicht einkaufen. Hinzu kommt, dass die Berechnung von Umtauschkursen aufwendig ist. Dies erschwert den Preisvergleich von Waren, die nicht in der eigenen Währung ausgezeichnet sind. Auch diese Mühen können als Transaktionskosten bezeichnet werden. Auch hier gilt: Wenn Bürger die Übernahme von Transaktionskosten scheuen, kommt kein Geschäft zustande. Der Kunde bekommt keine Ware, der Verkäufer kein Geld; weniger Geschäft bedeutet einen Wohlfahrtsverlust für alle.

Die gemeinsame Währung Euro ist z. B. vor allem deshalb wohlstandsfördernd, weil die Transaktionskosten für Geschäfte im gesamten Euroraum erheblich gesenkt werden. Man muss weder Geld in eine andere Währung umtauschen und dafür Gebühren entrichten, noch entsteht ein Aufwand beim Preisvergleich. Vielmehr besteht Preistransparenz.

Internationale Organisationen

In internationalen Beziehungen wird die Überwachung der Regeleinhaltung oftmals in die Hände von internationalen Organisationen gelegt. Sie überwachen, ob Staaten vereinbarte Regeln einhalten oder nicht. So prüft z. B. die Internationale Energieagentur (IAEO), ob Staaten die aus dem Vertrag über die Nicht-Verbreitung von Kernwaffen (Kernwaffensperrvertrag) resultierenden Verpflichtungen erfüllen; das Sekretariat der United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) sammelt und veröffentlicht Informationen, in welchem Maße die Vertragspartner die Auflagen des Kyoto-Protokolls erfüllen; die Europäische Kommission ist beauftragt, die Einhaltung der Verträge durch die Mitgliedstaaten zu überwachen. Dadurch, dass internationale Organisationen mit der Überwachung betraut sind, werden Transaktionskosten erheblich gesenkt, denn andernfalls müssten alle Vertragsstaaten jeden anderen Vertragsstaat selbst überwachen – eine sehr teure Angelegenheit.

Zusammenfassung

Institutionalismus

Institutionen verändern das Verhalten von Staaten in Richtung Kooperation dadurch, dass sie deren Kosten-Nutzen-Kalkül verändern. Die Kosten von Kooperation werden geringer und ihr Nutzen steigt. Auf diese Weise helfen Institutionen Staaten dabei, Kooperationshindernisse zu überwinden. Daher wird die kooperationshemmende Wirkung der Anarchie in internationalen Beziehungen beschränkt. Institutionen wirken jedoch nur kooperationsfördernd, wenn eine Mischung von gemeinsamen und trennenden Interessen besteht. Wenn Staaten keine gemeinsamen Interessen haben, also keine Interessenüberschneidung besteht, spricht man von Nullsummen-Situationen. In diesen Situationen ist der Gewinn eines Akteurs der Verlust eines anderen Akteurs mit gleichem Betrag. Kooperation wird verhindert.