Vier Pilger - ein Ziel

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Routenplanung für Jordanien

Für Syrien und Jordanien habe ich nur eine Karte für mein GPS-Gerät gefunden, die ich gratis von „open-streetmap“ Lambertus herunterladen konnte. Diese Karte ist frei zugänglich, und jeder, der dazu fähig und willens ist, kann dort Verbesserungen und Details eintragen. So hängt es von freiwilligen Enthusiasten ab, wie gut die Pläne für bestimmte Regionen oder Städte ausgearbeitet sind und dargestellt werden. Diese Karten sind sehr hilfreich, allerdings keineswegs vollständig. Die zweite Quelle – die aber in Syrien nicht verfügbar war – ist Google-Earth. Da versuche ich, die Wege und Straßen anzuschauen, wo ich durchlaufen möchte. Die Qualität der Fotos ist unterschiedlich, manchmal hervorragend, manchmal sehr grob, sodass Details in der Landschaft nicht immer klar sichtbar sind. Vielleicht liegt das aber zum Teil auch an der mittelprächtigen Bildschirmauflösung meines kleinen Netbooks. Die Route nach Amman hinein und das Durchqueren der Stadt habe ich nur mit Hilfe von Google-Earth im Computer vorgezeichnet, weil auf der GPS-Karte einzig die großen Verkehrsadern und kein Stadtplan angegeben ist.

Sehr spannend ist daraufhin das Nachgehen in der Natur. Bei einem Fehler nämlich, etwa einem unüberbrückbaren Entwässerungskanal oder einem hohen Zaun, der für mich nicht sichtbar war, kann Endstation sein. Was ist dann zu tun ohne genaue Karte? Den Umweg finden oder gar umkehren? So sind solche Tage bei mir am Anfang mit einer gewissen Nervosität verbunden und am Ende des Tages mit großer Dankbarkeit, wenn der Weg im buchstäblichen Sinne gangbar gewesen ist. (fm)

VIERTES KAPITEL:
Pilgeralltag
Immer wieder

Unsere Tage gleichen sich. Immer wieder Rucksack packen, weitergehen, Essen suchen, Unterkunft finden, duschen, Kleider waschen, das Bett bereiten, essen und beten. In all dem werden wir Profis. Kommen wir in ein Zimmer, schweift unser Blick umher, wir ziehen die Schuhe aus und checken ab, wo die Steckdosen sind, ob das Wasser warm wird, wer in welchem Bett schläft, ob es den Schlafsack braucht oder nicht. Und am Morgen haben wir in null Komma nichts gepackt – alles hat seinen Platz. Und ein neuer Tag beginnt.

Ein kleines Beispiel für unseren Alltag ist die Wäscheleine. Von wo bis wo hält sie den nassen Kleidern stand? Passt es von der Schranktüre zum Fensterriegel, oder ist es besser, den Nagel des Bildes mit dem Türschloss oder die Heizröhre mit der Bettkante zu verbinden? Es geht immer irgendwie, oft quer durch das Zimmer. Handwäsche ist etwas Schönes, weil ich den Schmutz des Tages richtig davonfließen sehe. Und doch, mit der Zeit wünschen wir uns eine Tiefenreinigung, suchen am freien Tag eine Wäscherei oder fragen, ob wir privat die Waschmaschine benützen dürfen. Immer wieder staune ich, wie alles klappt, staune, wie es Hildegard gelingt, in einer türkischen Stadt unsere „Nicht-ganz-gleich-wie-man-sie-wäscht-Kleider“ in ein paar Stunden sauber und in der gleichen Größe zurückzubekommen.

Was für eine Wohltat ist es jeden Tag, geduscht und in sauberen Kleidern auf dem Bett zu liegen. Die Haare sind gewaschen und die Fußpflege, die viel wichtiger ist als die Gesichtspflege (obwohl ich für alle Fälle einen Kajal mittrage) ist erledigt. Nur etwas kann die Situation noch toppen und zur Vollkommenheit bringen: eine Fußmassage. Etwas Wohltuenderes kann ich mir nicht vorstellen. Nach vielen Stunden Pilgern die Füße einem Masseur hinzustrecken und zu genießen ist wunderbar. Lustig ist auch immer wieder zu sehen, wer zuerst einschläft, der, der massiert, oder die, die es genießt. Bei Franz ist es einfach. Er schläft so oder so meistens ein …

Ich bin in dem ganz Alltäglichen immer wieder überrascht und staune. Denn in all dem Gleichen ist jeder Tag doch anders, ist jeder Tag neu, birgt sein Geheimnis, erzählt seine Geschichte, bringt die kleinen Wunder des ganz Normalen an den Tag. (er)

Pilgeralltag

6 Uhr: Gerne stehen wir bislang um diese Zeit auf. 6:30 Uhr: Frühstück, wenn möglich. 7:10 Uhr: Rucksäcke aufschnallen, in einem Kreis stehen und mit einem Morgengebet den Aufbruch begleiten. In der Folge alle halbe Stunde, wenn es zum Frühstück Kaffee gegeben hat: Biopause für Esther und Hildegard. Nach ein bis zwei Stunden Laufen eine größere Pause, etwas essen und vor allem trinken und Morgenimpuls mit Lied, Bibeltext, einem Anliegen aus dem Pilgerband und den Anliegen auf dem Namenskalender (aufgeschaltet auf dem Blog). Dann Frage von Hildegard: Franz, wie viele Kilometer sind wir schon gelaufen? Ausruf von Esther oder Hildegard: Was, schon so weit? Oder: Was, erst so weit? Weiterlaufen im abgemachten Schweigen, ca. eine bis eineinhalb Stunden. Manchmal sind wir bis hierher schon schweigend gegangen. In dieser Zeit tragen wir die uns mitgegebenen Anliegen besonders mit. Frage von Hildegard: Christian, wie spät ist es? Aha. Franz, wie viele Kilometer sind es bis hierher? Und wie viele bis zum Ziel? Was, noch so weit? Weiterlaufen. Überlegen, ob und wo wir zu Mittag essen. Das sind meistens die beim Frühstück eingepackten Sandwiches. Nach dem Essen gegenseitiges Versichern, dass wir im nächsten Dorf einen Kaffee trinken werden. Oftmals gibt es dann zwar Dörfer, aber kein Gasthaus. Weiterlaufen und dabei nicht an die Kilometer denken, vor allem dann nicht, wenn es über dreißig sind. Frage von Hildegard: Franz, wie weit ist es noch? Ach, dann brauche ich nochmals eine Pause vor dem Schlussstück. Schließlich ankommen, Quartier suchen und beziehen. Esther und Hildegard in einem Zimmer. Franz und Christian im anderen. Duschen und Handwäsche machen, eine Wäscheleine improvisieren. Beine mit Franzbranntwein (Marke Holzhacker) einreiben, ein paar Minuten aufs Bett legen, manchmal unter die Decke, weil wir frieren. Und schließlich Blogschreiben, Telefonieren, SMS schreiben etc. Franz versucht schon vor dem Duschen die gelaufene Strecke vom GPS auf den Blog zu übertragen. Abendessen, am liebsten etwas Warmes, und wenn möglich früh schlafen gehen. (ha)

Auf Türkisch waschen

Alle zehn Tage gönnen wir uns den Luxus, unsere verschwitzte Wäsche nicht von Hand, sondern wieder einmal kräftig mit einer Waschmaschine zu waschen. Im Hotel von Edirne gibt es sie nicht. Aber auf einen Zettel schreibt mir der Rezeptionist, wie der Laden heißt, wohin ich die Wäsche bringen kann. Ich will von ihm in Erfahrung bringen, was es denn kosten würde. Er weiß es nicht. Vielleicht 5 Lira das Wäschestück, meint er. Kann nicht sein, denke ich, das wäre pro Socke und Unterhose etc. fast 2,50 Fr. Also gehe ich mit drei Plastiksäcken voll Stinkware über den Platz und zeige meinen Zettel drei Leuten und schon bin ich in der Waschküche, wo für Großbetriebe, wie z. B. Hotels, Bettanzüge, Morgenröcke, Frottéwäsche gewaschen und gebügelt werden. Mit meinem Nateltranslator bin ich ein wenig vorbereitet, weil ich neben dem Preis auch mitteilen will, dass alle Wäsche zusammen nur 40 Grad gewaschen und ja nicht gebügelt werden soll. Der erste Mitarbeiter kann kein Englisch. Ich halte ihm die Säcke hin und frage: Kaç para? Was kostet das? Er nimmt die Säcke und stellt sie auf eine Waage. Es sind 3,8 kg. Dann zeigt er auf eine Liste. Da steht: pro Kilo 7 Lira (ca. 3,50 Fr.). Ich versuche mit Gesten und meinen mageren Türkischkenntnissen zu erklären, dass die Wäsche nicht gebügelt, ja falls möglich nicht einmal getrocknet werden soll. Er versteht nicht. Da kommt der Chef. Mit little english. Yes, yes, good price. I expert here! Ich schreibe auf einen Zettel: 40 Grad. Er sagt. No, not 40 Lira, only 28 Lira. Ich sage: this temperature und zeige nochmals auf den Zettel. Aha. Dann gehe ich zum Bügeleisen und sage: Hayır, nein bügeln. Er rümpft die Nase. I expert here. Evet, evet. Ja, ja, sage ich, aber bitte nicht bügeln, lütfen, bitte. Until when? Bis wann? Tomorrow at 4. Früher nicht. Viel Arbeit. O. k. Weiter komme ich nicht. Ich vertraue ihm mehr als die Hälfte unseres Hab und Gutes an. Von Franz sind alle drei Hemden dabei. Er läuft, bis die Wäsche geholt werden kann, in einer Damenbluse herum. Wir sind gespannt auf den Ausgang unserer Wäschegeschichte.

Und hier ist er: Unsere Wäsche ist tipptopp frisch, ungebügelt, trocken in einem Sack verpackt bereit und wird vor meinen Augen mit einem Feinduftprodukt besprüht. Alle strahlen. Selam. Güle güle. Heißt es zum Abschied. (ha)

Ganz einfache Dinge

Unser Alltag ist geprägt von den ganz einfachen Fragen. Franz fragt sich im Stillen fast täglich, ob wir wohl eine Unterkunft finden werden. Ich mache mir darüber kaum je Gedanken. Die Sorge scheint bei Franz aufgehoben zu sein. Meine Fragen lauten jeden Tag: Wie weit ist es bis zum nächsten Dorf? Gibt es da einen Laden? Wann machen wir Pause? Habt ihr Hunger? Braucht ihr auch einen Kaffee? Ich bin auf die Zwischenmahlzeiten angewiesen. Die Kraftlosigkeit oder Gefühle der Übelkeit können mich blitzschnell überkommen. Für den Notfall haben wir immer Kleinigkeiten im Rucksack. Gesalzene Erdnüsse und eine Tafel Schokolade gehören über weite Strecken zu unseren Vorräten. Keiner von uns ist wählerisch. Wir essen überall das, was es gibt, in einfachsten Lokalen, immer das, was gerade im Angebot steht. Wir essen auch Rohkost. Ich hatte mir vorgenommen, nach der slowenischen Grenze auf Salat zu verzichten, um Darmerkrankungen vorzubeugen. Daran hielt ich mich keinen einzigen Tag. Wie ein Wunder kommt es mir vor, dass nur Christian mal kurz mit Durchfall zu kämpfen hat. Ansonsten bleiben wir vor Krankheiten aller Art verschont. Zum wichtigsten Nahrungsmittel wird für mich die abendliche Suppe. Wärme, Flüssigkeit und Salz bringen den ausgelaugten Körper wieder in Balance. Ich bin erstaunt, dass es in allen Ländern außer Bulgarien immer Suppe gibt. Dass die Çorba, die Linsensuppe, in der Türkei schon zum Frühstück gegessen wird, habe ich nicht gewusst.

 

Für uns alle erstaunlich ist, dass wir punkto Wasser kaum Probleme haben. Es gibt einen oder zwei Tage, an denen die Route durch menschenleere Gegenden führt. In der Regel aber taucht alle paar Kilometer ein Dorf auf. Wir können einkaufen oder bei Menschen anklopfen und unsere Flaschen auffüllen. Wir tragen selten mehr als einen Liter Wasser mit uns. Solange wie möglich trinken wir es aus dem Hahn. Als eines Tages, wieder in Bulgarien, an der Hotelrezeption eine Flasche Mineralwasser ins Zimmer mitgegeben wird, stellen wir um. Von jetzt an kaufen wir auch Wasser ein.

In den ersten Monaten des Pilgerns halten wir morgens immer Ausschau nach einer Tasse Kaffee. Wir freuen uns, ja lechzen an etlichen Tagen danach. Es scheint uns, dass wir gar nicht richtig wach werden, wenn in der morgendlichen Pause dieses Getränk fehlt. In Serbien wird uns dadurch bewusst, dass einige Dörfer als Folge des Krieges keine funktionierende Infrastruktur mehr haben. Wir müssen auf unseren Kaffee verzichten, weil die Bar geschlossen ist. Die Arbeitslosigkeit hat die Menschen aus den Dörfern vertrieben. Dafür – welche Überraschung – wird uns in Serbien der beste türkische Kaffee gebraut. In Lokalen und bei Straßenhändlern wird er angeboten und genau so, wie es sein muss, wird er auf einer Gasflamme im Alutopf gebraut. In der Türkei wird der Verzicht auf Kaffee fast selbstverständlich, weil wir alle mit der Nescafé-Welle, die gerade vorherrscht, nichts anfangen können. Dafür werden wir im anatolischen Hochland mit den Ernteerträgen verwöhnt. Wir essen im Oktober noch frische Erdbeeren, stopfen uns in der Nähe von Bursa mit Qualitätsfeigen voll, knacken Nüsse und haben oft die Hände voller Tomaten. Wir lernen Kornelkirschen in Salz getunkt kennen, tragen schwere Melonengeschenke über Land und halten frisch gebackenes Brot in Händen. Einzig mit den frisch gepflückten und uns geschenkten Quitten können wir nichts anfangen. Später, in der Mittelmeergegend, lernen wir Granatäpfel öffnen und schauen immer wieder den Olivenpflückerinnen zu, die uns ohne Umstände an ihrer Pausenmahlzeit teilhaben lassen. (ha)

Vom Essen

Esther: Sie klappert jede Speisekarte auf eventuelle Peperoni ab. Die mag sie nicht. Dann hat sie die Gabe, genau das aus der Speisekarte auszuwählen, was es nicht gibt. Ihr Volltreffer der ungenießbaren Sorte waren Spaghetti Milanese. Es kam ein Teller mit etwas weißlich Verkochtem plus Unmengen Ketchup. Einfach grässlich, selbst für das Auge.

Christian: Er ist kein Frühstücker. Findet sich aber irgendwo frisches, süßes Hefegebäck, dann schlägt er zu. Es darf auch mal ein Eis zwischendurch sein. Der Balkan mit seinen üppigen Fleischgerichten ist für ihn nicht ganz das Wahre, also schlägt er sich tapfer mit allerhand Salaten durch. Leider ist die Radlerphase vorbei. Dieses Limobier kennt in Bulgarien keiner mehr.

Franz: Seine Essenspause beginnt immer damit, dass er für uns andere die Speisekarte zu entziffern und zu übersetzen beginnt. Ohjee, wenn dann was anderes kommt, als er uns gesagt hatte. Zum Glück hat er eine Elefantenhaut. Er selber pflegt aus der Karte das auszuwählen, was er nicht kennt. Lieben tut er Fisch.

Hildegard: Sie liebt Fleisch. Die Dauergrilladen werden ihr nicht zuviel. Die Suppen, die es bis an die serbisch-kroatische Grenze gab, machten ihr gleichermaßen Freude. Auf das Süße kann sie interessanterweise gut verzichten, ganz entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten. (ha)

Der Blog

Am Anfang ist es schwer für mich, jeden Tag den Blog zu füttern. Ich gerate unter Druck, denn die andern schreiben aus meiner Sicht so locker und frei. Ich kämpfe mit Minderwertigkeitsgefühlen. Meine Texte sind zu banal, zu einfach, zum Teil fehlerhaft. Immer wieder drängt sich der Miesmacherdämon in mein Bewusstsein und lacht mir ins Gesicht. Aber mit der Zeit, auch durch die Reaktionen der Leserschaft, treten die schlechten Gefühle in den Hintergrund und Freude macht sich breit – die Freude darüber, das Alltägliche zu teilen, das in Worte zu fassen, was mich an diesem Tag beschäftigt: von den Gesprächen, vom Gebet, von den Begegnungen, von dem, was in mir ist. Es ist wunderbar, die Menschen zuhause mitzunehmen, stellvertretend für die zu gehen, denen es nicht möglich ist, sich so auf den Weg zu machen, sie Anteil nehmen zu lassen. Durch die liebevolle Bestätigung der vielen Leser und Leserinnen, ihr ehrliches Mitleben, Mitgehen, das Sich-Freuen und Leiden mit uns und immer wieder die Zusage des Gebets für uns tragen dazu bei, dass ich schreiben will. Ich sehe es als unsere Aufgabe, nicht nur für uns zu sein, sondern unsere Erfahrungen fruchtbar zu machen für viele. Es ist für mich erstaunlich, in wie vielen Familien plötzlich über Gott und das Gebet, über Jerusalem und den Frieden in der Welt, über das Christentum, das Judentum und den Islam geredet wird. Kinder fragen nach, Eltern suchen nach Antworten. Sie gehen mit ihren Sprösslingen in die Kirchen, um für uns eine Kerze anzuzünden. Durch unsere Erfahrungen und durch die Selbstverständlichkeit, mit der wir berichten, bekommen Glaube, Kirche, Pilgern, Gott eine neue Farbe. Wir sind Stellvertreterinnen für viele, nehmen ihre Anliegen mit, gehen für ihre Bitte, beten mit ihren Worten. Wir sind auch Motivatoren, zum Beispiel für Eva, die sich zuhause auf den Weg macht. Obwohl es für sie körperlich eine große Anstrengung ist, geht sie ein Stück für uns als Stärkung und Begleitung – sie trägt mit. Natürlich dringen auch kritische Stimmen zu uns: Das ist gar nicht richtiges Pilgern mit Laptop und Telefon und immerwährender Erreichbarkeit. Es geht doch um das Alleinsein, darum, von Zuhause mal richtig weg und auf sich gestellt zu sein.

Was heißt Pilgern eigentlich? Ich wusste es nicht. Ich habe mich drauf eingelassen. Ich spüre, das Wesentliche des Pilgerns ist, mich jeden Tag dem Ungewissen auszuliefern, aufzubrechen, das Gewohnte hinter mir zu lassen und mich darin zu erleben. Es tut mir gut, davon zu erzählen und damit nicht alleine zu sein. Ich bin froh, dass wir uns entschieden haben, Blog zu schreiben und unsere Erfahrungen zu teilen. (er)

Ein wichtiges Fenster

Das Blogschreiben ist eine wunderbare Sache. Ich lerne es als kreatives Fenster schätzen. Der Blog fordert mich heraus, die Ereignisse eines Tages unter dem Aspekt der kleinen Besonderheiten anzuschauen. Ich überlege, was ich gerne berichten möchte, was es im Alltag des Pilgerns Neues gibt, was die zuhause Gebliebenen interessieren könnte. Ich genieße es abends, den Computer von Franz für 20 Minuten oder sogar eine halbe Stunde für mich beanspruchen zu dürfen. Jetzt schreibe ich von unserem Tag und verantworte diesen Text allein. Ich fülle diesen Freiraum, ohne ihn mit den andern zu besprechen. Das tönt vielleicht eigenartig. Während der sieben Monate, in denen ich kaum eine halbe Stunde allein bin, ist diese Zeit am Blog ein echtes und wichtiges Fenster, das ich ohne Rücksprache und Entscheidungsfindung gestalten kann. Wenn ich rückblickend daran denke, fällt mir ein, dass für mich das Schreiben eine Art des Gebets der liebenden Aufmerksamkeit darstellte. Dieses Abendgebet, das Ignatius von Loyola sehr empfiehlt, leitet auch an, den Tag Revue passieren zu lassen und ihn liebevoll zu bedenken.

Das Wichtigste aber ist für mich die Erfahrung geworden, wie unterstützt ich und wir alle durch jene werden, die unsere Einträge lesen und kommentieren. Es gibt keinen einzigen Tag, an dem aufmunternde Worte fehlen würden. Für mich ist diese Unterstützung maßgebend. Sie trägt dazu bei, dass ich es schaffe, in Jerusalem anzukommen. Die Botschaften und Kommentare meiner Eltern und Geschwister sind Balsam. Die Treue von Lausa, einer Freundin, die wohl jeden meiner Blogeinträge mit Herzblut und Anteilnahme bedachte, ist unvergleichlich. Die Freundschaft zu D., die sich über den Blog entwickelt, ist kostbar. Und all die vielen, die täglich lesen und an uns denken, ohne zu schreiben, bilden ein bergendes Netz um uns. (ha)

Gut erzogen

Das bin ich! Ich weiß, dass die Kirschen, die mir fast in den Mund wachsen oder ganz einfach zu pflücken wären, nicht mir gehören. Wo kämen die Bauern hin, wenn jede Wanderin auch nur zwei von ihnen nehmen würde! Aber ehrlich, Lust auf sie habe ich immer. Jeder einzelne Baum lockt mich mit seinen roten Früchten. Gut Ding will Weile haben! Und am erstbesten Stand kaufen wir ein Kilo. Wie fein, prall, süß und – ehrlich erworben. Und bald sind die Marillen reif und dann die Pflaumen, irgendwann die Äpfel und Trauben. Noch aber sind die Früchte in den von uns durchwanderten Plantagen Gott sei Dank grün – wir warten. (er)

Wallfahren heißt für mich: Große Dinge werden klein und kleine werden groß

Große Dinge werden klein: Wenn wir gegen Ende unseres Tages nach einer Unterkunft fragen, bekommen wir wiederholt die Antwort: Es sind nur 6 km oder es sind nur 10 km bis zu einem Hotel. Oder manchmal will uns jemand einen Tipp geben, welche einmalige Sehenswürdigkeit wir unbedingt anschauen sollten, denn es sind ja „nur“ 30 oder 40 km bis dahin. Solche Auskünfte werden sofort sehr klein, denn sie haben keine Bedeutung für uns. Wir können keine 10 km weiterlaufen, wenn wir schon annähernd 30 km in den Beinen haben. Und: Wir wollen auf unserer Route bleiben, und zu Fuß sind Umwege mit zig Kilometern nicht zu machen; daher solche Vorschläge zur Seite legen, jetzt sind sie irrelevant.

Kleine Dinge werden groß: Eine Heuschrecke, ein Käfer oder eine Raupe auf der Straße finden meine Aufmerksamkeit. – Eine Flasche Wasser oder ein Brunnen mit Trinkwasser wird lebensnotwendig, ein Restaurant oder ein Laden sind begehrt. Am Abend beim Ankommen sich gründlich waschen oder duschen zu können ist reine Freude. Ebenso wenn es einen sauberen Teppich gibt zum Schlafen oder frische Bettwäsche und genügend Decken. Meistens können wir unsere verschwitzte Wäsche im Lavabo mit der Hand waschen. Nur auf 1400 m über Meer und bei einer Temperatur nahe am Gefrierpunkt trocknet sie dann nicht mehr über Nacht. – Alltägliches wird wesentlich.

Großartiges am Wegrand (das kann z. B. ein Strandbad sein, an dem wir nicht mehr vorbeikommen werden) muss sich unserem Ziel unterordnen oder ganz übergangen werden, da Umweg und Aufwand zu hoch sind. Und scheinbar weniger Bedeutendes erhält seinen Wert zurück. Ich erlebe, dass wir auf Selbstverständlichkeiten bisweilen sehnsüchtig oder gar schon aufgeregt warten. Der Blick wird klar für das, was notwendig ist (vgl. Lk 10,42) und worum wir beten sollen (Lk 11,3). (fm)

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