Palast aus Gold und Tränen

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Aus der Reihe: Die Hexenwald-Chroniken #2
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Das Feentor

Der Jungfernfelsen war eine hohe Gebirgsnadel, die sich am Ufer des Mains steil in die Lüfte reckte. Er war weithin sichtbar, weil er hoch über die Wipfel der Laubbäume hinausragte, die den Fluss zu beiden Seiten umgaben. Sein Name mochte romantisch klingen, bekommen hatte er ihn allerdings, weil immer wieder, Generation um Generation, Mädchen auf ihm verschwunden waren.

Verborgen im Felsgestein gibt es ein Tor in die Anderswelt, erzählten die Menschen, die in seinem Schatten lebten. Nur unverheiratete Mädchen finden den Weg dorthin.

Vor drei Jahren hatten Rose und ich allerdings herausgefunden, dass für das Verschwinden der Jungfrauen nicht das Feentor verantwortlich war, sondern ein Wassermann, der an dieser Stelle auf dem Grund des Flusses lebte. Ida, die Tochter eines Knopfmachers aus einem nahen Städtchen, nannte ihn ihren »grünen Prinzen mit den nassen Haaren«. Sie konnte von Glück sagen, dass ihre Tante klug genug gewesen war, zu erkennen, wer Idas Verehrer in Wirklichkeit war. Und dass sie mit der Frau eines Bauern befreundet war, der uns dafür bezahlte, seinen Kornspeicher von einer lästigen Koboldplage zu befreien. So hatten wir Ida retten können, ehe sie ihrem »grünen Prinzen« in sein nasses Reich folgen konnte. Es war uns sogar gelungen, den Wassermann zu vertreiben und dem Jungfernfelsen seinen Schrecken zu nehmen. Für eine Weile. Weder Rose noch ich waren so naiv zu glauben, den Wassermann für immer von seinem Zuhause verjagt zu haben. Aber vielleicht ließ er die Mädchen der Gegend für eine oder zwei Generationen in Ruhe. Ich hoffte, sie würden sich daran erinnern, wie man sich vor einem wie ihm schützen konnte, wenn er zurückkehrte.

Als ich den Jungfernfelsen jetzt vor mir sah, war ich sofort wieder von seiner Schönheit gefesselt. Der helle Schiefer hob sich deutlich vom Dunkelgrün der Wälder ab. Schlank und majestätisch ragte er in den Himmel. Der Fluss zu seinen Füßen schimmerte im Licht der Spätnachmittagssonne wie ein silbernes Band.

Um es schneller hierher zu schaffen, hatten Rose, Björn und ich den Nachmittag auf Pferderücken verbracht, und mir schmerzte gewaltig das Hinterteil. Immerhin lenkte mich das Reiten von den Hexenmalen auf meinen Unterarmen ab. Die Pferde hatten wir von Lennards und Helenes Nachbarn geliehen. Björn begleitete uns, damit er die Tiere zu ihm zurückbringen konnte.

»Seht ihr?« Rose, die ein Stück vor Björn und mir ritt, drehte sich im Sattel um und grinste. »Ich habe euch doch gesagt, wir schaffen es vor Einbruch der Dunkelheit hierher.«

»Freu dich nicht zu früh«, konterte er. »Ich sage euch, es wird heute noch gewittern.«

Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf in den Himmel, über den mehrere graue Wolkenfelder zogen.

»Vielleicht nicht dort, wo wir hingehen«, sagte ich. Björn zuckte nur mit den Schultern.

»So oder so, wir sollten weiter.« Mit einem Schenkeldruck gab ich meinem Pferd zu verstehen, zu Rose aufzuschließen. Björn folgte uns und eine Weile lang schwiegen wir.

»Bist du aufgeregt?«, fragte ich Rose, als wir eine halbe Stunde später vor einem schmalen Spalt im Schiefer standen, aus dessen Tiefe uns ein geheimnisvolles blaues Licht entgegenleuchtete. Es hieß, Feentore schützten sich selbst und hielten sich vor den Augen der Menschen verborgen. Wir beide waren schon einmal hier gewesen und hatten es sofort wiedergefunden. Allerdings hatten wir es noch nie durchschritten.

Rose konnte den Blick nicht vom seltsamen Durchgang nehmen. »Ich kann mir durchaus angenehmere Arten zu reisen vorstellen.«

»Jedoch kaum schnellere.«

»Nein.« Sie ließ den Kopf im Nacken kreisen, bis es knackte. Dann drehte sie sich zu Björn um, der mit unseren Pferden ein paar Schritt hinter uns stand. Wir hatten uns bereits von ihm verabschiedet, aber offenbar wollte er warten, bis wir tatsächlich das Feentor durchschritten, ehe er den Heimweg antrat. Rose hob zum Abschied ihren Eschenstab, ich winkte ihm. Björn lächelte uns aufmunternd zu.

»Na komm.« Rose schob sich seitlich durch den Felsspalt. Im himmel­blauen Licht verschwammen ihre Konturen und lösten sich auf. Schließlich war sie ganz verschwunden. Mit gezogenem Silberdolch in der Hand folgte ich ihr. Wäre mir klar gewesen, was dann geschehen würde, hätte ich statt meiner Waffe besser ihre Hand gehalten.

In meinem Geburtsland bezeichnete man Feen als das Volk unter dem Hügel. Deshalb hatte ich mir die Anderswelt immer wie eine riesige Höhle vorgestellt, deren Wände aus wurzeldurchzogener Erde, Flechten und Moos bestanden. Nachdem die Felsen mich verschluckt hatten, betrat ich jedoch ein Plateau, von dem aus ich in ein dicht bewaldetes Tal blicken konnte. Üppig belaubte Bäume strebten dem Himmel entgegen. Wenn ich mich hinkniete und über den Felsrand nach unten griff, konnte ich fast ihre Kronen berühren. Das Blattwerk war jedoch nicht einfach nur grün wie bei den Bäumen in unserer Welt. Zwischen gewöhnlichen Eschen und Tannen, Buchen und Eichen mischten sich Bäume, deren Laubkleider dunkelrot, silbern und sogar golden leuchteten. Der Wind, der durch sie hindurchfuhr, ließ die Blätter nicht bloß rascheln, sondern auch klirren. Dutzende kristallklare Bachläufe schlängelten sich durch den Wald und in der Luft hing der Geruch von Glockenblumen.

Erst nach einem Augenblick begriff ich, dass ich allein war.

»Rose?«, rief ich leise. Meine Stimme verhallte ungehört. »Rose?«

Ich blickte mich nach allen Seiten um, doch da war niemand. Als ich mich umdrehte, um durch das Feentor zurückzugehen, sah ich, dass der Spalt im Felsen sich geschlossen hatte.

»Na großartig.«

Was hatte Irina uns geraten? Das Tor kann euch an viele Orte auf dieser Welt führen. Deshalb ist es so wichtig, dass ihr euch auf euer Ziel konzentriert.

»Ins Zarenreich«, flüsterte ich, während ich mich anschickte, einem schmalen Pfad zu folgen, der sich ins Tal hinunterwand. »Ich will ins Zarenreich.«

Hoffentlich hatte Rose dasselbe getan.

Ob sie schon dort angekommen war?

Meine Unterarme begannen zu kribbeln. Regten sich die Zeichen oder war das Gefühl nur meiner Aufregung geschuldet?

Bleib ruhig, mahnte ich mich, weil ich bemerkte, dass mein Puls sich beschleunigte. Die Symbole auf meiner Haut kribbelten eindeutig. Ich musste all meine Willenskraft aufbringen, um nicht an ihnen zu kratzen.

Mein Weg ins Tal führte an einem kleinen Wasserfall vorbei. Gischt setzte sich wie Tautropfen auf meine Haut. Mit jedem Schritt verstärkte sich der Geruch nach Glockenblumen.

Ins Zarenreich, beschwor ich meinen Wunsch innerlich wieder und wieder. Nichts geschah.

Plötzlich hörte ich ein Rascheln, als würde man schnell durch die Seiten eines Buches blättern. Die Temperatur sank schlagartig und die Tropfen auf meiner Haut gefroren zu Eis.

Ich verharrte in der Bewegung und packte den Silberdolch fester. War dies normal? Irina hatte nichts dergleichen erwähnt.

Die Male des Hexenfluchs begannen zu brennen. Ich ballte die Finger meiner linken Hand zur Faust, ignorierte das Gefühl und beschleunigte meine Schritte.

»Ich muss ins Zarenreich«, sagte ich erneut.

»Wo bist du?«, hörte ich plötzlich den Ruf einer Frau. Es war nicht Rose’ Stimme, aber ich kannte sie. »Wo versteckst du dich?« Die Frau klang sanft und freundlich.

Margarete, schoss es mir durch den Kopf. Natürlich sagte ich nichts. Die Stimme klang älter als das Mädchen aus meinen Visionen. Sie klang wie die der jungen Frau, zu der Margarete herangewachsen wäre. Hätte die Kindsmörderin sie nicht getötet. Hätte sie nicht Margaretes Körper gestohlen.

Ich wusste, wer mich rief. Entschlossen reckte ich mein Kinn vor. Vielleicht mussten Rose und ich uns gar nicht bis ins Zarenreich durchkämpfen. Vielleicht konnte ich all das, was mich umtrieb – der Fluch, die Kindsmörderin, Rache für Hans und Margarete –, bereits hier und jetzt erledigen.

Die Haut an meinen Unterarmen brannte inzwischen, als hätte ich sie in den Bau von Feuerameisen gestoßen. Die immer stärker werdende Kälte setzte mir zusätzlich zu.

»Du hast etwas, das mir gehört!« Mit einem Mal war die Stimme nicht lockend und sanft, sondern schneidend scharf wie der Winter.

Rose, rief ich stumm. Ich könnte ein bisschen Unterstützung gebrauchen.

Die Hexe würde sich nicht einfach einen Dolch ins Herz stechen lassen. Ich bezweifelte ohnehin, dass sie eines besaß. Wenn ich ihr nun entgegentrat, wie konnte ich sie besiegen?

Für gewöhnlich versuchten Rose und ich, so viel wie möglich über unsere Gegner in Erfahrung zu bringen. Welche Schwächen besaßen sie? Wie äußerten sich ihre Stärken? Wie konnte man sie in eine Falle locken?

»Bring mir das Buch!«, verlangte die Hexe.

Vorsichtig drehte ich mich im Kreis, um herauszufinden, aus welcher Richtung ihre Stimme kam. Noch immer war ich allein.

»Bring mir das Buch, oder es wird dich umbringen. Ich werde dich umbringen.«

Etwas biss mich in den Unterarm, so fest, dass ich zusammenzuckte und alle Mühe hatte, nicht vor Überraschung und Schmerz aufzuschreien. Als ich den Blick auf meinen Unterarm richtete, blickte mich die Kreuzotter, die sich von den Seiten des Buches auf meinen Arm geschlängelt hatte, bösartig an.

Zeig dich, hätte ich der Hexe am liebsten entgegengeschleudert. Dann bring ich dir dein verdammtes Buch. Aber ich hielt mich zurück.

»Wie heißt du?«, fragte die Hexe, jetzt wieder lockend. »Verrat mir deinen Namen.«

Plötzlich wuchs eine Wand aus Eis vor mir aus den Felsen und versperrte mir den Weg ins Tal. Überall um mich herrschte Sommer, doch vor mir erstreckte sich über die ganze Breite des Pfades eine glatte Eisfläche, die mehrere Mannslängen hoch war. Durch ihre durchscheinende Oberfläche glaubte ich einen dunklen Schemen zu erkennen. Die Gestalt einer Frau, die sich auf mich zubewegte. Die Hexe.

 

»Da bist du«, sagte die Fremde, und ich konnte sehen, wie sie eine Hand auf ihre Seite der Eiswand legte. Sie schien groß zu sein, größer als ich, und schlank. Mehr konnte ich nicht erkennen. Das Eis war dick und verzerrte die Konturen der Hexe. Ich erkannte nur undeutlich ihre Gestalt, jedoch keine Gesichtszüge.

»Das Buch gehört dir nicht«, sagte die Hexe. »Gib es mir, und ich mache dich reich.«

Ich tat ihr noch immer nicht den Gefallen, zu antworten. Stattdessen holte ich ein kleines Beutelchen aus meinem Ranzen, in dem ich Salz aufbewahrte.

»Du musst mir nur verraten, wo du bist«, lockte die Hexe, ganz so, als hätte sie mir nicht erst vor einem Augenblick mit dem Tod gedroht.

Sie kann nicht zu mir kommen, erkannte ich. Das Eis schützt nicht nur sie, es schützt auch mich.

Das war seltsam. Wir starrten uns an, auch wenn wir uns nicht richtig erkennen konnten. Aus dem Nichts erblühten Blumen in der durchsichtigen Wand. Zuerst hielt ich sie für Rosen. Dann erkannte ich, dass es Blut war, erstarrt im kalten Griff des Eises. Die Symbole aus dem Grimoire umschlangen meine Arme inzwischen wie glühender Draht. Die Hand, mit der ich den Dolch hielt, zitterte.

Silber tötet Hexen, versuchte ich mich zu beruhigen. Falls sie die Eiswand durchbricht, ist sie geliefert. Aber ich wusste, so einfach würde es nicht werden.

»Verrat mir deinen Namen«, forderte die Hexe.

Ich schnaubte. »Verrat du mir erst deinen.«

Wieder musterten wir uns und selbst die Zeichen auf meiner Haut erstarrten für einen Augenblick, als wollten sie abwarten, was als Nächstes geschah.

»Margarete«, flüsterte die Hexe.

Zorn durchflutete mich, heißer und heftiger als der Biss der Hexenmale.

»Du hast kein Recht auf diesen Namen!«, fauchte ich, hob den Arm und stieß die Spitze des Dolches direkt ins Eis. Als das Silber das gefrorene Wasser berührte, verwandelte es sich in einen Spiegel. Plötzlich sah ich nicht mehr den Schemen meiner Gegnerin, sondern mich. Ausgehend von der Stelle, auf die ich mit dem Dolch eingestochen hatte, zogen sich haarfeine Risse über die Oberfläche. Gleichzeitig trug mich mein eigener Schwung nach vorn. Während um mich herum Teile des Spiegels in einem Splitterregen zu Boden fielen, machte ich einen Ausfallschritt.

Und plötzlich, von einem Augenblick auf den anderen, befand ich mich nicht mehr auf einem Bergpfad in der Anderswelt, sondern auf einem bewaldeten Hügel. Die Bäume um mich herum waren einfache Bäume, in deren Unterholz Wildtiere raschelten. Es roch auch nicht mehr nach Glockenblumen, sondern nach Pilzen, Holz und Erde. Und neben mir stand Rose.

Ich befand mich im Zarenreich. Von der Hexe war weit und breit nichts zu sehen.

»Na, das ging ja wirklich schnell«, sagte Rose und wandte sich mir zu. Als ihr Blick auf mich fiel, riss sie die Augen auf. »Geht es dir gut?«

Ehe ich antworten konnte, hörten wir hohe, klagende Laute.

Schwanensee

Was ist das?«, fragte ich. Die Geräusche klangen surrend, eindeutig nicht menschlich, doch voller Emotion. Die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf. Rose umgriff ihren Kampfstab und zuckte mit den Schultern. »Sehen wir nach.«

Zügig schritten wir zwischen den Bäumen hindurch, meine Finger schlossen sich fest um den Dolchgriff – Rose’ Dolch. Als wir in der Abenddämmerung aus dem Schatten der Bäume traten, bot sich uns ein seltsamer Anblick. Ein See lag wie ein glitzernder Lapislazuli im Talkessel. Der Abhang vor uns war, anders als die anderen um das Wasser herum, völlig frei von Baumbestand und mit Gras bewachsen. Am Ufer des Sees, wo der Boden abflachte, hatte jemand einen notdürftigen Lagerplatz aufgeschlagen: eine kleine Gruppe Männer und Frauen in kostbaren Gewändern, die um eine Feuerstelle herumstanden und mit in den Nacken gelegten Köpfen in den Himmel starrten. Dort kreisten sieben Schwäne in der Luft. Sie waren nicht weiß wie die meisten ihrer Artgenossen, und auch nicht schwarz wie manche von ihnen, sondern silbern. Die Strahlen der untergehenden Sonne glänzten auf ihren Federn und verwandelten die Vögel in gleißende Lichtgeschöpfe. Sie streckten die langen Hälse aus und stießen mit ihren Schnäbeln jene Geräusche aus, die wir als klagende Laute wahrgenommen hatten. Das Seltsamste an ihnen war jedoch weder die Färbung ihres Gefieders noch ihre schaurig-berührenden Rufe, sondern die ungewöhnlich langen Schnäbel, die sie im Flug leicht geöffnet hatten. Sie waren fast so lang wie die von Störchen und ich fragte mich, ob sie ebenso lange Beine hatten oder wie sie sonst ihr Futter suchten. Dann jedoch war dieser Gedanke vergessen und ich verlor mich in der Schönheit des Augenblicks, im Anblick dieser majestätischen Vögel, die fliegenden Edelsteinen gleich über dem Wasser kreisten.

Wie die Menschen am Ufer, standen Rose und ich einfach nur da und lauschten ihrem seltsamen Gesang. Tränen stiegen mir in die Augen. Ob das daran lag, dass ich so berührt von der Begegnung mit den wilden Tieren war oder am strahlenden Licht, das ihre Federn reflektierten, wusste ich nicht.

Erst als dieses Strahlen langsam nachließ, wurde mir bewusst, dass die Sonne bereits fast hinter den Bäumen untergegangen war.

Ohne Vorwarnung wurde das Klagen der Schwäne schriller. Einer der Vögel löste sich aus der Kreisformation und flog im Sturzflug auf die Wasseroberfläche zu. Die anderen schlossen sich ihm an. Ihr Gesang verstummte. Im ersten Moment glaubte ich, sie wollten sich wie Taucher aus großer Höhe in den See stürzen. Dann wieherten Pferde erschrocken auf und ich begriff, dass die Vögel nicht auf das Wasser zustürzten, sondern die Menschen dort anvisierten.

»Muireann!« rief Rose in diesem Moment.

Sie hatte bereits ihren Kampfstock in beide Hände genommen und rannte den Abhang hinunter.

Die Schwäne stürzten sich auf die Menschen. Ihre langen Schnäbel erinnerten mich plötzlich an Schwerter. Die Fremden schienen noch immer wie in Trance, begriffen nicht, was um sie herum wirklich geschah.

»Achtung!« brüllte ich, doch sie hörten mich nicht. Wie der Wind flog auch ich bergab. Ich musste den Drang unterdrücken, Rose’ Dolch aus der Scheide zu ziehen. Stattdessen angelte ich nach der Schleuder und dem kleinen Säckchen, die Seite an Seite an einer meiner Gürtelschlaufen angebracht waren. Noch im Laufen löste ich den Verschluss und holte eine Handvoll spitzer Steine hervor. In die Menschen am Ufer kam endlich Bewegung.

»Deckung!«, rief einer der Männer und griff in die Lagerfeuerstätte, um einen schweren Ast emporzureißen. Ein anderer zerrte derweil ein Kurzschwert aus der Scheide und stellte sich schützend vor eine hochgewachsene Frau in einem atemberaubenden Gewand. Da waren die Schwäne allerdings auch schon heran. Der erste stürzte sich auf den dritten Mann, der wie vom Donner gerührt dastand. Verzweifelt beobachtete ich, wie der Schwan seinen Schnabel tief in seine Brust stieß und wieder herausriss. Blut spritzte in pulsierenden Strömen aus dem Oberkörper des Mannes und er sank wie ein Stein zu Boden. Zwei junge Frauen, die etwas abseits von den anderen standen, schrien laut und das Gras färbte sich um den Gefallenen herum rot, während der Schwan sich mit kräftigen Flügelschlägen in den Himmel erhob. Auch sein Schnabel glänzte rot. Das sollte gar nicht möglich sein! Woher nahm der Vogel die Kraft, seinen Schnabel so tief in den Brustkorb eines ausgewachsenen Mannes zu stoßen, das Leder und den Stoff seines Hemdes und die Haut zu durchstoßen, Fleisch, Sehnen und Muskeln zu durchdringen und dann aus eigener Kraft den Schnabel wieder zurückzureißen?

Der halbe Abhang lag zwischen mir und der Stelle, an der der Mann gestürzt war, aber ich blieb stehen. Schnell verlagerte ich mein Gewicht auf mein hinteres Bein und packte den ersten Stein in die Schleuder. Mit kräftigen Armbewegungen brachte ich sie zum Kreiseln und konzentrierte mich auf eine der mörderischen Bestien, die von dem Mann mit dem Kurzschwert verjagt worden war und gerade zu einem Sturzflug auf die beiden kreischenden Frauen ansetzte.

Ich ließ den Stein fliegen.

Ich hatte auf die Brust des Vogels gezielt, das Geschoss schlug jedoch zu weit rechts ein. Der Schwan wurde aus seiner Flugbahn gerissen und sackte nach unten. Einer seiner Flügel hing kraftlos herunter, der Vogel trudelte hilflos dem Boden entgegen. Der erste Kämpfer fackelte nicht lange. Kaum war das Tier auf dem Boden aufgekommen, packte er den Ast, den er aus der Feuerstelle gezogen hatte, mit beiden Händen und schlug der Bestie kräftig auf den Kopf. Das Knacken konnte ich bis hier hören. Der Vogel regte sich nicht mehr.

Inzwischen war Rose am Ufer angelangt und stellte sich neben den Schwertträger und die prächtige Dame, hinter deren Rücken die beiden anderen Frauen geflüchtet waren. Drohend hielt sie ihren Eschenstab erhoben und wehrte damit einen der Silberschwäne ab. Der Schwertkämpfer trennte derweil einem anderen den Kopf vom schlanken Hals. Das Blut, das diesmal das grüne Gras verdunkelte, stammte von einem der Monster. Stumm zollte ich dem Fremden meinen Respekt. Es konnte gar nicht so einfach gewesen sein, die kurze Schwertklinge am langen Schnabel des angreifenden Vogels vorbeizumanövrieren und dem Biest den Garaus zu machen.

In meiner Hand kreiselte unterdessen die Schleuder, beladen mit einem weiteren Stein. Der Schwan, auf den ich zielte, hatte einen rot glänzenden Schnabel. Ich ließ den Stein fliegen, als sich der Schwan auf die Gruppe am Seeufer stürzte. Ich traf ihn nicht. Stattdessen musste ich hilflos beobachten, wie sich ihm zwei seiner Gefährten anschlossen. Ihre messerscharfen Schnäbel durchschnitten surrend die Luft. Der Schwertträger und Rose kämpften mit einem weiteren Vogel, der abwechselnd auf sie einstach. Der Mann mit dem Ast sprang zu den Frauen. Mit seiner provisorischen Waffe gelang es ihm, zwei der Vögel abzuwehren, aber der dritte fand ein Ziel. Eine der Frauen schrie auf. Ihr erschreckter Ruf wurde jedoch bald zu einem Gurgeln und verstummte dann ganz. »Veronique!« Ihre Gefährtin sank verzweifelt auf die Knie, während die Dame zu ihnen herumfuhr. Blut strömte in solchen Mengen aus dem Hals der verwundeten Frau, dass klar war, dass jede Hilfe zu spät kommen würde. Wenigstens gelang es dem Kämpfer mit dem Ast, dem Schwan den Garaus zu machen. Leider waren immer noch drei weitere übrig. Rose wirbelte wie ein Derwisch am Ufer entlang und hieb immer wieder mit ihrem Eschenstab nach den fliegenden Bestien. Ich war froh, dass ihre Waffe lang genug war, um die Vögel mit den langen Schnäbeln auf Abstand zu halten. Die Biester wichen allerdings gekonnt ihren Stockschlägen aus. Mit dem Kampfstab würde sie nicht viel ausrichten können. Als mein dritter Stein sein Ziel verfehlte, stieß ich einen Fluch aus und huschte näher ans Ufer heran. Es sah nicht gut für uns aus. Unweit der Feuerstelle lag zwar ein Jagdbogen und ein Köcher mit Pfeilen. Die Männer und Rose waren allerdings so sehr damit beschäftigt, die Schwäne auf Abstand zu halten und die Frauen zu beschützen, dass sich niemand von der Gruppe lösen konnte, um danach zu greifen. Die Frau kniete heulend neben ihrer Gefährtin, die sich nicht mehr regte. Die Dame beugte sich schützend über sie und suchte hektisch den Himmel ab. Inzwischen war auch der Mann mit dem Kurzschwert in die Knie gegangen. Er blutete aus einer Wunde. Die verbliebenen Schwäne schienen hingegen fast unverletzt.

Mein vierter Stein fand endlich ein Ziel. Ich hatte sogar einen Volltreffer gelandet und einen der Vögel am Kopf getroffen. Wie ein Felsbrocken stürzte er aus dem Himmel und kam mit einem lauten Platschen auf der Seeoberfläche auf, wo er noch einen Moment lang trieb, ehe er in der dunkelblauen Tiefe versank. Noch drei, dachte ich, und dann zwei, als ich sah, dass die Männer sich gemeinsam auf eines der Tiere gestürzt hatten und mit ihren Waffen darauf einhackten. Der Mann mit dem Ast musste lebensmüde sein. Er hatte die Kreatur an den Füßen gepackt und ließ nicht los, bis sie sich nicht mehr regte. Mein fünfter Stein flog durch die Luft, als die letzten beiden Schwäne auch endlich meiner gewahr wurden. Sie flogen direkt auf mich zu. Mist, dachte ich, und nestelte so schnell ich konnte einen weiteren Stein aus meinem Beutel. Jetzt musste jeder Wurf sitzen. Gleichzeitig konnte ich mir nicht die Zeit nehmen, genau zu zielen, denn wenn ich zu lang wartete, wären die Biester heran und dann würde mich zumindest ein Schwan erwischen. Ich spürte, wie mir Schweiß in die Augen lief.

 

Da gab es diesen Spruch, den meine Mutter mir als Kind beigebracht hatte. Eigentlich war er dazu gedacht, Muscheln zum Tanzen zu bringen.

»Lauf weg!«, hörte ich Rose schreien.

Meine Konzentration war unterbrochen.

Die Vögel setzten bereits zum Sturzflug an.

Ich ließ meinen Stein fliegen. Er traf sein Ziel und warf einen der Schwäne aus der Flugbahn.

Ich fingerte nach einem weiteren Stein, wusste jedoch bereits, dass es zu spät war. Also hob ich den Silberdolch aus dem Gras, während sich der Schwan mit ausgestreckter Schnabelspitze auf mich stürzte. Ein dumpfes Geräusch ertönte und der silberne Körper vor mir wurde in die Höhe gerissen. Ungläubig sah ich, wie der lange Schwanenhals zur Seite geschleudert wurde. Etwas Heißes tropfte mir ins Gesicht. Der Vogelkörper flog über mich hinweg und landete hinter mir im Gras, von einem Pfeil durchbohrt, aber noch flatternd. Überrascht keuchte ich auf und wandte den Kopf. Rose kniete neben dem Lagerfeuer, den Bogen in der Hand. Hinter ihr stand die schöne Dame in ihrem hellgrünen Kleid. Das blonde Haar hing ihr wirr in die Stirn, die Hände umschlossen fest Rose’ Eschenholzstab. Sie sah nicht so aus, als ob sie wirklich wüsste, was sie damit anfangen sollte, wirkte jedoch entschlossen, den Stab einzusetzen, wenn von irgendwoher noch ein Schwan auftauchen sollte. Als Rose erkannte, dass es mir gut ging, ließ sie erschöpft den Bogen fallen und drehte sich zu dem Schwertkämpfer um, der von dem anderen Mann gestützt neben der weinenden Frau stand und sich einen abgerissenen Stoffärmel auf die Schulterwunde presste. Er schwankte gefährlich.

Grimmig presste ich die Lippen zusammen, drehte mich um und stieß den Silberdolch mit kalter Wut in die Bestie vor mir. Der Schwan öffnete seinen gewaltigen Schnabel wie zu einem letzten Schrei, doch kein Laut erklang mehr. Warmes Blut quoll zwischen den silbernen Federn hervor, als ich meine Waffe wieder herausriss. Endlich trübten sich die Augen des seltsamen Wesens und sein Zittern erstarb. Der Schwan war tot.

Als ich zu den anderen rannte, begriff ich erst, dass die Schlacht geschlagen war. Vor den Männern auf dem Boden lag ein toter Schwan. Sein Kopf war eine breiige Masse, wo der Ast ihn in die Erde gestampft hatte. Sie hatten dem Monster zusätzlich mit dem Kurzschwert den Hals durchtrennt.

Bis auf unser Schnaufen und Keuchen und das Weinen der Frau war es still. Der Schreck saß allen tief in den Knochen. Die fremde Dame gab Rose den Kampfstab zurück und kniete sich neben ihre Gefährtinnen.

»Sie ist tot.« Zärtlich strich sie der Leiche über die Wange.

»Claude auch«, murmelte der Astträger geschlagen und die Dame stöhnte auf.

Rose kam bis auf Armlänge auf mich zu und sah mir fest in die Augen. »Das war knapp.«

»Danke«, sagte ich schlicht. Mehr nicht.

Gern wäre ich ihr sofort in die Arme gefallen und hätte mich versichert, dass es ihr auch gut ging. Aber wir waren nicht allein.

»Wer seid ihr?«, fragte der Schwertträger, legte seine Waffe zu Boden und presste sich die Hand auf die blutende Wunde. »Danke für eure Hilfe.« Er redete in der Gemeinen Zunge, eine Sprache, die über die Ländergrenzen hinweg verwendet wurde. Vielleicht stammte er auch nicht aus dem Zarenland. Er war ein Hüne mit schulter­langem Haar und gestutztem Bart, die Verletzung beeinträchtigte ihn, aber er wirkte wachsam.

»Mein Name ist Rosenrot«, sagte Rose und deutete dann auf mich. »Das ist Schneeweißchen. Wir sind … Kämpferinnen.«

Der Mann hob eine Augenbraue. Ehe er antworten konnte, trat die schöne Dame neben ihn. »Auch ich danke Euch sehr für Eure Hilfe. Seid Ihr Reisende?«

Wir nickten.

»Dann seid heute Nacht an unserem Lagerfeuer willkommen, wenn Ihr mögt.« Sie lächelte verhalten. »Ruht Euch aus und pflegt Eure Wunden.«

»Wir sind nicht verletzt.«

»Dann esst zumindest mit uns und stärkt Euch.«

Rose und ich blickten einander an. Hinter den Baumwipfeln im Westen ging die Sonne unter.

»Verratet Ihr uns Eure Namen?«, fragte ich und die Fremde nickte.

»Mein Name ist Ilena. Ich bin die Königin von Burgund.«

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