Palast aus Gold und Tränen

Text
Aus der Reihe: Die Hexenwald-Chroniken #2
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Die Hüterin der Toten

Die Baba Yaga galt als eine der mächtigsten Hexen der Welt. Ihre Landsleute fürchteten und verehrten sie gleichermaßen. Angeblich lebte sie tief verborgen in den Wäldern des Zarenreiches. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, als Helferin, Mahnerin oder Strafende in Erscheinung zu treten. Manche berichteten davon, dass sie auf dem Rücken eines Flammenpferdes durch frostklirrende Wälder ritt. Andere behaupteten, sie hätten sie in einem riesigen Mörser über den Himmel fliegen sehen und anderen Unsinn. Ihre Hütte soll auf Hühnerbeinen stehen und sich fortbewegen können. Angeblich besaß sie Zähne aus Eisen und der Brunnen hinter ihrem Haus soll randvoll gefüllt sein mit dem Blut leichtsinniger Jungfrauen. Sie galt als die Torhüterin zur Unterwelt und soll mit den Toten sprechen können. Ich hatte sie bisher für nicht mehr als ein Schreckgespenst gehalten, mit dem man Kindern Angst einjagte.

»Die Baba Yaga gibt es wirklich?«

Irina lächelte. »Oh, es gibt sie wirklich, dessen seid euch gewiss. Ob sie euch helfen wird, steht auf einem anderen Blatt. Wenn die Baba Yaga etwas ist, dann unberechenbar.«

Rose begann, mit ihren Fingern auf der Tischplatte zu trommeln. »Das beruhigt mich nicht gerade.«

»Dann bist du eine kluge Frau.«

»Wie finden wir sie?«, fragte ich.

»Keiner kennt den Weg zu ihr, heißt es. Und niemand wird sie finden, wenn sie nicht gefunden werden will.«

»Das hilft uns nicht weiter«, murrte Rose.

»Anders als hier sind die Hexen im Zarenreich eine eingeschworene Gemeinschaft. Die Baba Yaga ist so etwas wie ihre Anführerin. Sie hält ihre schützende Hand über sie und es heißt, sie genießt das Vertrauen des Zaren.«

Mit der Hand verscheuchte sie die Vögel, die begonnen hatten, sich um die letzten Körner zu streiten. Wild flatternd stoben sie vom Tisch und flogen hinauf zur Decke, wo Blumenkübel mit Schnüren an den Balken angebracht waren.

»Der Zar, so heißt es, fragt sie sogar gelegentlich um Rat – sehr zum Missfallen seiner Minister.«

Rose schien wenig beeindruckt. »Wir können kaum den Zaren bitten, uns zu seiner Hexenfreundin zu führen.«

»Wer weiß, vielleicht hat er sie gar zur Hochzeit seines Sohnes geladen.«

»Deine Landsleute sind verrückt!«

Irina zuckte mit den Schultern. »Und vielleicht sind die Leute hier nur übertrieben misstrauisch.« Ihr Blick fiel auf das Grimoire vor uns. »Vielleicht auch nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Der Punkt ist: Einige Hexen wissen vermutlich, wo die Baba Yaga zu finden ist. Und wenn sie euch den Weg nicht weisen wollen, so besteht immerhin die Möglichkeit, dass sie eine Botschaft von euch übermitteln. Wenn die Baba Yaga gewillt ist, euch zu helfen, wird sie zu euch kommen.«

Hinter meiner Stirn begann ein dumpfer Schmerz zu pochen. »Warum sollte sie uns helfen wollen?«, fragte ich und massierte meine Schläfen.

»Weil sie neugierig ist, jedenfalls sagt man das. Und weil ihr etwas besitzt, an dem sie interessiert sein könnte.« Irina nickte in Richtung des Buches.

»Das Grimoire? Wir sollen es ihr überlassen?«

»Was wollt ihr sonst damit anfangen?«

»Eigentlich hatten wir darüber nachgedacht, es bei dir zu lassen«, sagte ich vorsichtig.

Irina fuhr zurück. »Auf keinen Fall! Außerdem werdet ihr es brauchen. Wenn sich die Baba Yaga nicht damit bezahlen lässt, dann wird es ihr zumindest Aufschluss über den Zauber geben, mit den du in Berührung gekommen bist.«

Sie massierte sich den Nacken. »Es ist ein schreckliches Buch, das ihr da in eure Obhut genommen habt. Ich mag es nicht länger als nötig hier in der Mühle haben. Nicht nachdem ich mir solche Mühe gegeben habe, sie von allem Bösen zu reinigen. Na ja, von fast allem.«

»Bisher haben wir nichts von seiner ›bösen Aura‹ bemerkt«, sagte Rose. Weder hatte das Buch uns Albträume beschert noch uns Schaden zugefügt – sah man mal von dem missglückten Zauberritual ab, für das ich mir selbst die Schuld geben durfte. Aber dass etwas Unheimliches von dem Folianten ausging, war uns beiden von Anfang an klar gewesen.

Irina blieb unbeeindruckt. »Dann solltet ihr froh sein. Wann brecht ihr auf?«

»Bald.«

»Lasst euch lieber nicht zu viel Zeit. Der Weg ins Zarenreich ist weit.«

»Wir kennen eine Abkürzung«, sagte ich. »Der Jungfernfelsen.«

Irina lächelte kurz, presste dabei jedoch die Lippen so fest aufeinander, dass ich es beinahe nicht erkannt hätte. »Er ist ein Feentor.«

»Ihr überrascht mich«, sagte sie und blickte dabei Rose an. »Seid ihr schon einmal durch die Anderswelt gereist?«

Rose schüttelte den Kopf.

»Ihr müsst vorsichtig sein, und schnell.« Sie riet uns, worauf wir beim Durchschreiten des Tores achten mussten. Es überraschte mich nicht wirklich, dass Irina sich mit den Wegen durch die Anderswelt auskannte.

»Gebt mir eure Dolche«, verlangte sie, nachdem sie uns alles erklärt hatte. Reflexartig hob ich meine Hand an die Lederscheide, in der mein heiß geliebter Silberdolch steckte. Rose besaß den gleichen. Die beiden schmalen Waffen waren einfach gearbeitet. In das Eisen war jedoch Silber gemengt, und dadurch waren die Dolche großartige Verteidigungswerkzeuge gegen schwarze Magie.

»Warum?«, fragte ich.

Irina stand auf und schob sich einen kleinen schwarzen Zopf hinters Ohr, der sich aus ihrer Frisur gelöst hatte.

»Wenn ihr mir die Waffen für eine Nacht überlasst, kann ich sie mit einem Zauber besprechen, der euch schützt. Und ich kann einen Beutel fertigen, in dem ihr das Grimoire verbergen könnt, damit nicht jede Hexe auf zehn Meilen Entfernung wittern kann, was ihr mit euch herumtragt.«

»Du hast es doch auch nicht gewittert.«

»Ich bin auch keine dunkle.«

Ich blickte hinüber zu Rose. Die zögerte einen Moment, dann zog sie zu meiner Überraschung ihren Dolch und legte ihn vor Irina.

Sie lächelte warm. »Danke.« Dann wandte sie sich mir zu. Ich umgriff das kühle Heft meines Silberdolchs und legte ihn neben seinen Zwilling. »Es hat nichts mit dir zu tun«, sagte ich verlegen. »Ich trenne mich nur nicht gern von ihm. Er gibt mir Sicherheit.«

»Mach dir keine Sorgen. Du bekommst ihn morgen Vormittag zurück. Besucht mich auf dem Wochenmarkt.« Sie lächelte verschmitzt. »Vielleicht ist Björn dann ja wieder zu Hause und kann euch begleiten.«

»Vielleicht«, räumte Rose ein, und ich hörte ihr an, dass sie nicht wusste, was sie von Irinas Anspielung halten sollte. Auch ich war überrascht. Björn und Irina?

Ihr nächster Satz ließ mich dieses Thema jedoch vollends vergessen:

»Ich brauche für den Zauber noch etwas von eurem Blut. Und ein paar Haare.«

»Geht jetzt«, forderte Irina uns auf, nachdem wir ihrer Aufforderung folgend tatsächlich ein paar Blutstropfen in eine bronzene Schale hatten fallen lassen, ebenso wie ein paar Haare.

Sie klang nicht unfreundlich, aber bestimmt. »Ich habe noch viel zu tun. Und nehmt das Buch mit. Ich will es nicht um mich haben.«

Das wollte ich inzwischen auch nicht mehr, doch da hatten wir wohl keine Wahl. Rose packte das Grimoire in ihren Beutel und schulterte ihn.

Ich trank mit einem kräftigen Zug meinen Becher aus.

Dann traten wir den Heimweg an. An der Türschwelle zum Flur drehte sich Rose noch einmal um. »Ich warne dich. Treib keine Spielchen mit uns.«

Irina breitete die Arme aus und deutete mit einer Geste auf all die Pflanzen, die in Kübeln im Zimmer wuchsen. »Rosalie Lennards­tochter, glaube mir. Wenn ich euch Böses wollte, wärt ihr schon längst nicht mehr am Leben.«

Der Bär auf dem Dachboden

Der Weg nach Hause zog sich. Wie ich hing Rose ihren Gedanken nach. Wie viel Zeit würde mir bleiben, bis sich die seltsamen Male auf meinen Armen wieder zu bewegen begannen? Für die Schönheit meiner Umgebung – das kräftige Grün des Waldes und das Gold der wogenden Getreidefelder – hatte ich keinen Sinn.

Unsere Laune hellte sich erst wieder auf, als wir daheim ankamen. Inzwischen war es Mittag geworden. Björn stand auf dem Hof und unterhielt sich mit seinem Vater. Auf seinen breiten Schultern saß Lasse und trug eine begeisterte Miene zur Schau. Sobald Rose die drei entdeckte, beschleunigte sie ihre Schritte.

Lasse war der Erste, der uns bemerkte. »Rosalie, Muireann! Seht mal, wer wieder da ist!«

Björn drehte sich um und sein ganzes Gesicht begann zu strahlen. In einer fließenden Bewegung griff er nach oben, packte Lasse und hob ihn unter dessen Protesten herunter. »Später«, versprach Björn. »Erst muss ich die beiden begrüßen.«

»Schwesterherz!« Seine muskulösen Arme schlossen sich um Rose, als wollte er ihr die Luft aus dem Leib pressen. Sie beschwerte sich jedoch nicht, sondern drückte sich allenfalls fester an ihn. Rose liebte ihre Familie, aber Björn nahm eine besondere Stellung in ihrem Herzen ein.

Nachdem die beiden sich ausgiebig begrüßt hatten – dabei war es erst ein paar Tage her, dass wir drei uns auf dem Weg hierher begegnet waren –, wandte sich Björn mir zu und drückte mich, deutlich sanfter.

»Muireann.«

Ich umarmte ihn, dann ging ich einen Schritt zurück. »Dein Bart kitzelt.« Amüsiert kraulte ich die struppigen blonden Haare an seinem Kinn. Er hielt sie kurz geschnitten, aber sie bedeckten fast seine ganze untere Gesichtshälfte. »Du solltest dir überlegen, ihn abzurasieren.«

»Welcher Bär schert sich seinen Pelz?«, fragte er empört. Seine Augen blitzten, und ich wusste, dass er mich auf den Arm nahm.

»Wie war es bei Irina?« Lasse hüpfte aufgeregt im Kreis um uns herum.

 

Ich sah, wie Björn die Stirn in Falten legte und zu seiner Schwester hinüberschielte. »Ihr wart bei Irina?«

Rose holte Luft, doch ehe sie antworten konnte, schritt ich dicht an sie heran und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Warum gehst du nicht mit Björn nach oben und ihr unterhaltet euch? Dieser Troll hier«, ich strubbelte Lasse durch die Haare, »und ich sehen mal nach, ob wir eurem Vater helfen können.«

»Ich bin kein Troll!«, protestierte Lasse.

»Da bin ich mir nicht so sicher bei deinen roten Haaren«, widersprach ich.

»Du bist wunderbar«, raunte mir Rose zu, drückte schnell meine Hand und verschwand mit Björn über den Hof, der mir auch noch einmal über die Schulter hinweg dankbar zunickte.

Ich schnappte mir Lasse am Kragen und ging Lennard hinterher, der uns vorhin zwar kurz zugewunken hatte, inzwischen aber im Stall verschwunden war.

Als ich eine halbe Stunde später auf unser Zimmer zuging, hörte ich Rose und Björn bereits diskutieren. Die Tür war nur angelehnt.

»… musst doch zugeben, dass sie seltsam ist.«

»Sie ist nicht seltsam«, protestierte Björn.

»Sie ist sogar reichlich seltsam! Sie bewahrt ihr Vogelfutter in einer Schatulle auf.«

Aha, es ging also um Irina. Ich drückte die Tür auf und schlüpfte in den Raum. Beide hatten nur kurze Blicke für mich übrig.

»Vielleicht ist es magisches Futter«, fuhr Björn an Rose gewandt fort, während er aufstand und mir das Tablett abnahm.

»Danke«, murmelte ich.

»Ist das dein Ernst?!« Rose angelte sich einen der drei Becher heißen Minztees. Danke, formten ihre Lippen und ihre Züge wurden weich. Dann verzog sich ihre Miene sofort wieder angriffslustig und sie starrte Björn direkt ins Gesicht. Der ließ sich vor der Truhe auf dem Boden nieder und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Rose und ich setzten uns ihm gegenüber, ungefähr an der Stelle, an der ich in der Nacht zuvor den Salzkreis gezogen hatte.

»Könnte doch sein, dass es magisch ist«, sagte Björn, nachdem er an seinem Becher genippt hatte.

Rose schnaubte. »Wer bitte füttert seine Vögel mit magischem Futter?!«

»Ich weiß nicht, ob es magisch ist. Es war nur eine Vermutung. Du hast mit der Schatulle angefangen.«

»Sie ist aus Ebenholz! Mit einem Edelstein im Deckel!«

»Na und, sie mag eben ihre Vögel!«

»Und mag sie auch dich?«

»Und wenn es so wäre?« Björns Stimme klang lauernd. Rose stierte ihn wütend an.

Ich ergriff die Gelegenheit. »Dann würden wir uns für euch freuen. Magst du sie denn?«

Beide blickten mich erstaunt an, als ob ihnen meine Anwesenheit erst jetzt wirklich klar geworden wäre. Trotz des Tees.

Björn konzentrierte sich auf den dampfenden Becher in seiner Hand. Wurden seine Ohren tatsächlich rot?

»Wir verstehen uns gut.« Er hob den Kopf. »Ich kann wunderbar mit ihr reden. Sie ist witzig, schlagfertig. Und sie hat keine Angst vor dem Bären.«

Rose’ Miene wurde weicher.

Vor vier Jahren war Björn bei einem seiner Aufträge als Hexenschlächter in die Falle eines Schwarzalben geraten. Der Zwerg hatte ihn in einen Bären verwandelt. Damals hatten Rose und ich das erste Mal Irina um Hilfe gebeten. Gemeinsam war es uns gelungen, den Schwarzalben zur Strecke zu bringen und den Zauber, den er über Björn verhängt hatte, zu schwächen. Ganz brechen konnten wir ihn jedoch nicht. Björn hatte sich in einen Menschen zurückverwandelt. Doch jeden Winter, sobald der Schnee zu fallen begann, wurde er bis zum Frühling wieder zu einem Bären. Bis jetzt hatten wir keine Möglichkeit gefunden, daran etwas zu ändern. Björn trug sein Schicksal mit Fassung, obwohl sich dadurch so vieles für ihn geändert hatte.

»Und es ist nicht nur das«, fuhr er fort. »Sie mag mich wirklich, Schwesterherz. Aufrichtig. Vielleicht wird daraus sogar mehr. Kannst du mir das nicht gönnen?«

Rose holte Luft, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Mir ist bewusst, dass ich niemals so ein Glück haben werde wie ihr beide.« Er senkte den Teebecher. Seine traurige Miene versetzte meinem Herz einen Stich. Ich griff nach Rose’ Hand und wir ließen ihn seine Gefühle von der Seele reden. »Überall, wo ich hinsehe, erblicke ich verliebte Pärchen. Euch beide. Mutter und Vater. Leni wird im nächsten Frühjahr heiraten. Selbst Eckhart und die Ziege, was auch immer er an ihr findet … Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich noch einmal verlieben könnte. Nachdem Therese …«

»Scheiß auf Therese«, unterbrach ihn Rose heftig. »Ja, wirklich! Sie hat dich nicht verdient, und das weißt du.«

»Sei nicht ungerecht.«

»Verteidige sie nicht auch noch! Ihr wolltet heiraten, Björn. Ihr wolltet euer Leben zusammen verbringen. In guten wie in schlechten Zeiten. Das wirft man nicht einfach weg.«

Therese hatte ihre Verlobung gelöst und Björn verlassen, weil sie nicht mit dem Bärenzauber zurechtgekommen war. Der Morgen vor ein paar Monden im Garten der Hexe kam mir in den Sinn, an dem Rose herausgefunden hatte, dass Selkieblut in mir floss und ich Magie wirken konnte. Das hatte sie so geschockt – ich hatte wirklich geglaubt, sie würde mich verlassen. Doch unsere Liebe war stärker gewesen. Vielleicht dachte sie auch daran, denn sie sagte: »Von mir aus triff dich mit Irina. Meinen Segen brauchst du zwar nicht, aber du hast ihn.«

Mit einem breiten Grinsen stürzte Björn zu uns und zog uns beide in eine Umarmung. »Danke, Rosalie. Ich wusste, auf dich ist Verlass.«

»Du sollst mich doch nicht so nennen«, maulte sie und löste sich langsam von ihm. »Mutter habt ihr beide ohnehin schon um den Finger gewickelt, oder?«

Björns Augen funkelten fröhlich. »Irina und sie kommen gut miteinander aus.«

Ich griff nach Björns Hand und drückte sie fest. »Das ist schön, wirklich. Ich wünsche euch nur das Beste.«

Björn grinste mir verlegen zu. »Genug von mir«, sagte er dann. »Meine Schwester behauptet, ihr wollt tatsächlich ins Zarenreich reisen?«

Ich warf Rose einen Blick zu. Diese nickte. »Dann weißt du auch weshalb.« Nervös zupfte ich an meinem Ärmelsaum.

»Ich würde euch ja begleiten, doch der Winter kommt früh im Zarenreich.«

Davon hatte ich gehört. Oft setzte schon im Herbst Schneefall ein, und Björn konnte nicht riskieren, sich fernab der Heimat in einen wilden Bären zu verwandeln. Die kalte Jahreszeit verbrachte er seit dem Tod des Zwerges immer auf dem Hof seiner Eltern. Mir fielen die ganzen Tiere in und um Irinas Mühle wieder ein. Vielleicht würde er ja dieses Jahr den Winter bei ihr verbringen.

Mir fiel ebenfalls wieder ein, dass ich in der Nacht zuvor von Schnee geträumt hatte.

»Wann brecht ihr auf?«, fragte Björn.

»Morgen gegen Mittag. Zuvor müssen wir noch auf den Markt«, antwortete Rose und warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf das Bett.

Björn seufzte. »Dann heißt es also schon wieder Abschied nehmen.«

Markttag

Irinas Heiltrank schmeckte bitter. Nachdem ich wie von ihr angeordnet drei Tropfen davon auf meine Zunge hatte fallen lassen, wartete ich gespannt ab, ob etwas passierte oder ich mich anders fühlen würde. Als nichts geschah, verkorkte ich das Fläschchen wieder und stellte es auf das Schränkchen neben unserem Bett. Die Symbole auf meinen Armen blieben weiterhin zu blassen Tätowierungen erstarrt.

Es beruhigte mich, dass sich daran auch nichts änderte, nachdem ich am nächsten Morgen mit Rose eine große Runde gelaufen war und meine Unterarme beim Waschen nicht aussparte. Wir waren mit der Sonne aufgestanden, weil wir an unserem letzten Tag auf dem Hof noch so viel erledigen wollten. An meine Träume in dieser Nacht konnte ich mich nicht erinnern.

Der Markt auf dem Dorfanger fand nur einmal alle sieben Tage statt. Helene begleitete uns dorthin. Normalerweise bot auch sie an einem der Stände Waren feil. Am Morgen hatte sie jedoch erklärt, sie würde heute nicht verkaufen, sondern die Zeit mit uns verbringen. Nun schleppten Rose und ich üppig beladene Flechtkörbe, gefüllt mit Eiern, Milch und allerlei Eingekochtem, zu einem winzigen Tisch direkt am Dorfbrunnen, um den im Kreis herum die Händler ihre Stände aufgebaut hatten. Wir stellten sie bei der Fischer-Anni ab, die heute Helenes Ware für diese mitverkaufen würde. Helene selbst besuchte gerade die Dorfbewohner, für die sie gestern frisches Brot in ihrem großen Backofen hinter dem Haus mitgebacken hatte. Gemeinsam mit Rose schlenderte ich währenddessen die Stände entlang, um das einzukaufen, was wir für unsere anstehende Reise benötigten. Beim hübschen Johann kauften wir zwei Dutzend Streifen getrocknetes Rindfleisch und bei Wilhelm Ledermacher eine neue Halterung für Rose’ Wasserflasche sowie mehrere Ersatzriemen für unsere Schnürstiefel. Mir waren einmal die Bänder mitten in einer Berggegend gerissen, die nächste Ortschaft meilenweit entfernt, und ich legte keinen gesonderten Wert darauf, noch einmal eine ähnliche Erfahrung zu machen.

Irinas Tisch stand im Schatten eines mächtigen Ahorns. Darauf befanden sich zahlreiche Schälchen, in denen getrocknete Pflanzen lagen, zusammengebundene Kräutersträuße, verschlossene Tiegel und schlanke, mit Wachs versiegelte Tonflaschen. Als Irina uns kommen sah, strahlte sie übers ganze Gesicht.

»Selbst hier hüpfen Vögel um sie herum«, murmelte Rose.

Ich stieß ihr den Ellenbogen in die Rippen.

Wir warteten, bis Irina einer Kundin eine Salbe gegen Gelenkschmerzen verkauft hatte.

»Wie geht es dir?«, fragte sie mich, nachdem wir uns begrüßt hatten.

»Gut.« Das entsprach größtenteils der Wahrheit. Rein körperlich spürte ich vom Hexenfluch nichts. Es beunruhigte mich schlicht, dass die Symbole nicht verschwinden wollten – und dass uns die Zeit davonlief. Nicht zu wissen, was passieren würde, wenn die Symbole wieder zu wandern begannen, half nicht gerade dabei, ruhig zu bleiben.

»Hast du Eberesche da?«, fragte ich, um mich abzulenken. Irina nickte. »Und ich brauche auch noch etwas getrockneten Klee.« Ich holte eine Glasphiole aus meiner Umhängetasche. Irina nahm sie entgegen und deutete mit dem Kopf nach rechts, wo eine große Weidenschale mit einem Tuch abgedeckt war. »Dort. Und Johanniskraut müsstest du auch finden. Ich habe es an Sonnwend geerntet.«

Begeistert schlug ich das Tuch beiseite und betrachtete die Pflanzenbüschel, die darunter zum Vorschein kamen. Sowohl die roten Beeren der Eberesche als auch die gelben Blüten des Johanniskrauts versprachen Schutz gegen Geister, Elfen und allerhand anderes dunkles Gelichter. Ich wusste nicht genau, welche Wesen sich in den östlichen Wäldern herumtrieben, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Ganz sicher waren es nicht bloß Einhörner.

»Wir sollen dir schöne Grüße von Björn ausrichten«, sagte ich möglichst beiläufig, während ich nach einem kleinen Sträußchen Lavendel griff. Er duftete nach Sommer und Frieden. Irina ging nicht darauf ein, doch ihr ganzes Gesicht begann zu strahlen.

»Hast du gestern Nacht daran gedacht, den Trank zu nehmen?«, fragte sie, nachdem sie mir meine Einkäufe vorsichtig in ein Leinentuch eingewickelt und über den Tisch gereicht hatte.

»Ja.« Beim Gedanken an den bitteren Geschmack der türkis­farbenen Flüssigkeit zog sich mein Mund zusammen.

»Gut.«

Rose half mir, das Bündel in meiner Tasche zu verstauen, während Irina begann, in der Weidenkötze zu wühlen, die neben ihr auf dem Pflaster stand.

Als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie ein dunkelgrünes Tuch in den Händen, das mit allerlei seltsamen Symbolen bestickt war – schlanke Runen, jedoch keine Insekten und Schlangen, wie ich erleichtert feststellte.

»Schlagt das Buch darin ein«, wies sie uns an, als sie das Tuch Rose in die Hand drückte. »So oft wie möglich. Und passt auf, dass keine Ecke daraus hervorspitzt. Schnürt das Bündel damit zusammen.« Sie holte eine gedrehte Kordel aus hellen Wollfäden hervor. Ich war gespannt, wie lange sie auf der Reise, die uns bevorstand, sauber bleiben würde.

»Da ist noch etwas«, murmelte Irina leise, während sie mit gesenktem Kopf die getrockneten Pflanzenstängel auf dem Tuch vor sich sortierte. »Wenn … Falls ihr der Baba Yaga wirklich begegnet …«

»Ja?«

»Sagt ihr …« Irina holte tief Luft. »Sagt ihr, Vasilisas Enkelin schickt euch.«

Ich hob eine Augenbraue, sagte allerdings nichts. Ebenso wenig Rose. Wir warteten beide geduldig, bis Irina weitersprach. »Es gibt zahlreiche Geschichten über Menschen, die die Hexe aufgesucht und um Hilfe gebeten haben. Die meisten davon gehen nicht gut aus. Meiner Großmutter hat sie allerdings kein Haar gekrümmt. Sie hat ihr aus großer Not geholfen.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und ihr Blick verlor sich in der Vergangenheit. »›Sie ist mächtiger, als du dir jemals vorstellen kannst, Irinuschka‹, hat sie immer gesagt. ›Sie kann sehr grausam sein, aber sie schadet nie jenen, die mutig und reinen Herzens sind. Und das ist das Wichtigste: Zeig niemals Angst! Die Baba Yaga labt sich an ihr. Wenn du der Hexe begegnest, tritt ruhig und selbstbewusst auf. Sie hat eine Schwäche für mutige Mädchen.‹«

 

Irina blickte uns wieder direkt an. »Ich glaube nicht, dass ich der Baba Yaga je begegnen werde. Und ich weiß nicht, ob euch der Name meiner Großmutter schützen wird. Einen Versuch ist es jedoch wert.«

Aus einem Impuls heraus griff ich über den Tisch hinweg und drückte ihre Hand. »Danke. Wir können jeden Schutz gebrauchen, den wir bekommen können.«

Irina lachte bitter auf. »Das befürchte ich auch.«

Noch einmal griff sie in ihre Kötze. Diesmal fischte sie ein braunes Ledertuch hervor. Als sie es aufwickelte, kamen unsere Waffen zum Vorschein. Liebevoll betrachtete ich die winzige Scharte am Knauf meines Silberdolchs. Als ich nach ihm griff, hielt Irina mich auf. »Nimm den anderen.«

»Warum?« fragte Rose sofort misstrauisch.

Irina kam um den Tisch herum. »Weil ich eure Dolche mit einem Zauber belegt habe.«

Wirkte meine Klinge deshalb matter als sonst? Sie reflektierte kaum die Morgensonne. Rose’ Dolch hingegen glänzte silbern wie eh und je.

Ich ignorierte Irinas Einwurf und griff nach meiner Waffe. Es fühlte sich gut an, sie in den Händen zu halten. Nicht anders als sonst. Neugierig drehte ich ihn hin und her. Das einzig Seltsame war die Färbung der Schneide.

»Was hast du damit gemacht?«

Irina trat einen Schritt näher. »Es ist ein Zauber, den mir ein Geister­heiler in der Heimat meines Vaters beigebracht hat. Durch euer Blut und euer Haar sind eure Dolche jetzt mit euch verbunden. Sie spiegeln eure Verfassung. Solange die Klingen silbern glänzen, ist alles in bester Ordnung. Falls ihr euch trennen müsst, könnt ihr die Waffen tauschen und seht so immer, wie es der jeweils anderen geht.«

Ich hob meinen Dolch in die Höhe. »Seine Klinge ist matt«, sagte Rose. »Liegt das an dem Hexenfluch?«

Irina nickte. »Sorge dich deshalb nicht zu sehr. Solange die Klinge nur matt ist, heißt das, du bist krank. Wenn sich die Klinge allerdings rostbraun färbt, schwebst du in ernsthafter Gefahr.« Irina blickte Rose an. »Wenn das geschieht, weißt du, dass Muireann umgehend Hilfe braucht. Dann dürft ihr nicht aus falschem Stolz zögern, eine Hexe um Hilfe zu bitten.«

Rose nickte ernst und streckte mir die Hand entgegen, damit ich ihr meinen Dolch geben konnte. Aufmerksam musterte sie das angelaufene Silber.

Irina trat zu uns. »Wenn die Klinge schwarz wird …«

»Ja?«, fragte ich. Ich ahnte ihre Antwort bereits, aber ich musste es hören.

Sie holte tief Luft. »Dann kommt jede Hilfe zu spät.«