Palast aus Gold und Tränen

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Aus der Reihe: Die Hexenwald-Chroniken #2
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Pflanzenmagie

Vor ein paar Monden haben wir den Auftrag angenommen, eine Hexe aufzuspüren und zur Strecke zu bringen. Genauer gesagt, ihren Geist«, begann Rose.

Irina runzelte die Stirn. »Ihren Geist

Ich schob den Stoff meines Hemdes wieder über meine Unterarme. »Zumindest dachten wir das. Wie sich herausstellte, war die Hexe gar nicht tot.«

»Die Dorfbewohner, die uns um Hilfe baten, nahmen das an, weil eines ihrer Opfer, ein Mädchen, ihr entkommen war und behauptet hatte, die Hexe in ihrem eigenen Backofen verbrannt zu haben.«

»Eine Lüge. Margarete konnte die Hexe zwar in deren eigenen Ofen stoßen. Der Hexe gelang es jedoch im letzten Moment, mit Margarete den Körper zu tauschen.« Plötzlich glaubte ich das Fauchen von Flammen zu hören. Einen Moment lang war ich wieder im Backofen der Hexe, zurückversetzt in eine meiner Visionen, in denen ich Margaretes Schicksal teilte. Die Luft um mich herum brannte. Es war fast unmöglich, sie in meine Lunge zu saugen. Mein Haar kräuselte sich in der Hitze, begann zu stinken, und das Eisen unter meinen Händen und Knien versengte mir die Haut. Ich musste mich zwingen, die Augen zu schließen und mir begreiflich zu machen, dass das nicht meine Erinnerungen waren, die mich quälten. Ich atmete langsam ein und aus, die Luft war warm, nicht heiß, und sie duftete nach Blüten und Blattwerk. Mein Herzschlag beruhigte sich, ich blinzelte und befand mich wieder in der lichtdurchfluteten Kräuterkammer.

Irina sah mich beunruhigt an.

»Alles gut«, log ich. »Ich war nur einen Moment … Es war nicht der Geist der Hexe, der im Wald spukte und den Bewohnern der umliegenden Dörfer Angst und Schrecken einjagte. Es waren die Geister der Opfer.«

»Eine von dieser Sorte also.«

»Ihre Opfer: Es waren alles Kinder.«

Irina nickte grimmig. »Das ergibt Sinn.«

Rose und ich starrten sie ungläubig an.

»Was ergibt daran Sinn?«, brach es aus mir heraus. »Sie hat sie in ihre Fänge gelockt und dann in ihrem Keller auf einer Art Stein­altar … Sie hat die Kinder nicht einfach nur getötet, sie hat sie geschlachtet! Wie Vieh. Sie hat sie ausbluten lassen. Sie hat sie zu Pasteten verarbeitet und …« Ich musste würgen.

Irina schüttelte schnell den Kopf. »So meinte ich das nicht. Bitte entschuldigt. Das Blut von Kindern verleiht ihr viel mehr Macht. Die Kraft im Blut von Menschen, die die Schwelle zum Erwachsenenalter überschritten haben, verbraucht sich schnell und nährt Magie kaum. Kinder hingegen – sie haben noch ihr ganzes Leben vor sich.«

»Das ist krank«, sagte Rose angeekelt.

Ich musterte Irina. Wie alt war sie eigentlich? Bis auf ein paar Lachfältchen um die Augen sah ihre Haut glatt und rein aus. Verdankte sie das dem Erbe ihres Vaters? Oder hatte auch sie bereits andere für das Wirken ihrer Zauber bluten lassen?

Das war das Problem, wenn man Hexen jagte. Man konnte sie äußerlich nicht erkennen. Die Schauergeschichten, die man Kindern erzählte, handelten von buckligen alten Frauen mit hervorspringendem Kinn und Warzen auf der Nase. Und tatsächlich sahen einige Hexen auch so aus. Das waren traurigerweise jene, die ihre Zauber nicht mit der Energie anderer, sondern mit der eigenen bezahlten. Gefährlich waren die, die jung und schön aussahen, ganz so, als ob sie kein Wässerchen trüben könnten.

Wie Irina.

Nein. Irina war anders. Es durfte nicht sein, dass …

»Wie habt ihr das alles überhaupt erfahren?«

»Von Margarete.«

»Das Mädchen, das anstelle der Hexe verbrannt ist?«

Ich nickte. »Sie … Auf der Waldlichtung, im Haus der Hexe. Ich bekam Visionen, wenn ich bestimmte Gegenstände berührt habe. Als würde ich durch Margaretes Augen sehen.«

»Ist das schon öfter passiert?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es hat mit meinem Selkieblut zu tun.«

Irina schürzte die Lippen und nickte.

»Hast du gewusst, dass Muireann eine Magische ist?«, fragte Rose angriffslustig. Ich hielt den Atem an. Aber Irina schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich habe gespürt, dass etwas an ihr anders ist.« Sie sah mich direkt an. »Ich dachte, das läge daran, dass sie aus dem Norden stammt. Albion und die Inseln sind von Magie durchdrungen. Sie klebt an allen, die von dort kommen, egal ob sie Zauber wirken können oder nicht.«

Nicht in allen Teilen der Welt wurden Hexen verfolgt. Der Zar im Osten hielt seine schützende Hand über sie – oder sie über ihn, je nachdem, wie man das sehen wollte. In Albion saß sogar eine Hexe auf dem Thron. Stolz trug Morgan den Beinahmen Hexenkönigin. Man sollte meinen, dass ich aufgrund der Tatsache, von dort zu stammen, schon immer eine freundlichere Gesinnung zur Zauberkunst gehabt hätte. Orkney, wo ich zur Welt gekommen war, lag jedoch so weit von Morgans Herrschersitz Camelot entfernt, dass die Menschen dort nach ganz anderen Sitten und Gebräuchen lebten.

»Und dort im Wald habt ihr dieses Buch gefunden?«

»Im Keller der Hexe«, sagte Rose.

Irina stand auf und ging wieder um den Tisch herum, den Blick nicht vom Buch nehmend. »Warum sie es wohl zurückgelassen hat?«

»Die Geister haben sie vertrieben.« Eine Spur Genugtuung stahl sich in meine Stimme. »Die Geister ihrer Opfer. Die Kinder. Sie haben uns geholfen, Margaretes gefangenen Geist zu befreien und sie mit ins Jenseits zu nehmen.«

»Dort spukt es jetzt nicht mehr.« Auch Rose klang stolz.

Irina schüttelte ungläubig den Kopf. »Ihr beide müsst mehr Glück als Verstand gehabt haben. Dass ihr überhaupt in Betracht gezogen habt, euch mit einer untoten Hexe anzulegen.«

Rose reckte entschlossen das Kinn nach vorn. »Was hätten wir denn tun sollen? Die Menschen, die uns um Hilfe gebeten haben, im Stich lassen?«

»Ihr hättet die Hexenschlächter rufen können.«

»Was hätte das genutzt? Sie wären nicht gekommen.«

Das hatten uns die Dorfbewohner damals erzählt. Hexen­schlächter nannten sich jene Dämonenjäger, die im Dienst der Krone standen und im Auftrag der Könige durch die Lande zogen, um Trolle, Alben und Werwesen zur Strecke zu bringen. Auch Rose und ich hatten einmal darüber nachgedacht, uns ihnen anzuschließen. Heute war ich froh, dass wir das nicht getan hatten. Wir waren frei, dorthin zu gehen, wohin es uns trieb, und die Aufträge anzunehmen, die wir wollten. Seit über vier Jahren taten wir das bereits und ich liebte unser Leben. Als Hexenschlächter wären wir nicht so frei gewesen.

»Es war leichtsinnig, den Auftrag nur zu zweit anzunehmen«, schalt uns Irina dennoch. »Stellt euch vor, es wäre wirklich der Geist der Hexe gewesen, mit dem ihr es zu tun bekommen hättet.«

Ich schluckte, Rose rollte mit den Augen. »Es ist doch alles gut gegangen, oder etwa nicht?«

Irina warf einen bedeutungsschwangeren Blick auf meine Unterarme und ich fühlte mich ertappt wie ein kleines Kind beim Stehlen einer Süßigkeit.

»Das ist böse Magie, auf die ihr euch eingelassen habt. Rabenschwarze.« Sie seufzte und griff wieder nach Mörser und Stößel, um das Blattgemisch, das sich darin befand, zu einem klebrigen Brei zu verarbeiten. »Und sie ist mächtig. Weit mächtiger als ich.«

»Das heißt, du kannst uns nicht helfen?«, fragte ich leise.

»Oder willst es nicht?!«, setzte Rose hinzu.

Irina begann, an ihrem Ohr herumzuzupfen. »Das habe ich nicht gesagt.« Sie sah uns an. »Es gibt nur nicht sonderlich viel, was ich tun kann.«

Rose stellte sich hinter mich und nahm mich in die Arme.

»Was immer es ist«, sagte sie versöhnlich. »Wir wären dir dafür dankbar.«

Irina holte tief Luft, nickte einmal und sah uns mit einem schwachen Lächeln an. »Also gut. Ich denke, ich kann dir zumindest dabei helfen, dass du diese roten Bänder nicht mehr brauchst.«

Die nächste halbe Stunde verbrachten Rose und ich damit, durch den Garten vor der Mühle zu spazieren, während Irina sich in ihrer Hexenküche einschloss, um an einem Zauber zu arbeiten. Sie kam nur einmal kurz heraus, um eine weiße Fingerhutblüte zu pflücken.

»Das ist eine Giftpflanze«, protestierte Rose.

Irina erstarrte in der Bewegung. »Wenn es um Riesen, Trolle oder Wassermänner geht, magst du die Kundige sein. Bei dem hier«, sie hielt den Blütenkelch hoch in die Luft, »müsst ihr mir schon vertrauen, oder wir lassen es. Eure Entscheidung.«

»Danke, Irina«, antwortete ich. »Ich weiß zu schätzen, dass du mir hilfst.«

Als sie nach drinnen verschwunden war, wandte ich mich an Rose. »Musst du sie zusätzlich reizen? Du siehst doch, was sie aus der Mühle gemacht hat. Fällt es dir da so schwer zu glauben, dass sie eine der Guten ist?«

»Sie ist trotzdem noch eine Hexe.«

Ich verdrehte die Augen. »Dein Bruder vertraut ihr. Und deine Mutter auch.«

»Wir werden sehen«, sagte sie grimmig. Dann ging sie in die Hocke und streichelte eine kleine Katze, die unter einer Brombeer­hecke hervorgekrochen war und sich an ihrem Bein rieb.

Das Ritual

Eine halbe Stunde später saß ich auf einem aufwendig gedrechselten Stuhl in der Hexenküche und ließ zu, dass mir Irina eine glitzernde türkisfarbene Paste auf den Arm pinselte. Obwohl ich selbst mit Pflanzen gut vertraut war, konnte ich nicht herausriechen, aus welchen Bestandteilen das Gemisch genau bestand. Es roch erdig und schwer wie ein Acker nach einem Regenguss.

Rose stand hinter dem Stuhl und ließ uns keinen Moment aus den Augen. Irina nahm sich Zeit, meine Unterarme mit der Paste zu bestreichen. Sie benutzte dazu ein großes Efeublatt. Ob der Grund dafür war, dass sie nicht mit ihrem selbst gebrauten Mittel in Berührung kommen wollte oder aber mit den Symbolen auf meinen Armen, wusste ich nicht. Obwohl sie so stark glitzerte, wurde die Paste durchsichtig wie Wasser, sobald sie mich berührte. Fast augenblicklich sog meine Haut sie auf.

 

Fasziniert beobachtete ich, wie die Bewegungen der Tinten­symbole langsamer wurden und schließlich erstarrten. Jetzt schienen sie nur noch seltsame Tätowierungen zu sein. Waren sie sogar ein bisschen blasser geworden?

Erleichtert stieß ich die Luft aus – ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich sie angehalten hatte.

»Danke.« Rose drückte Irina tatsächlich kurz am Oberarm. Die zog eine Augenbraue hoch, lächelte jedoch.

»Das sollte eine Weile halten. Du kannst die Bänder abnehmen.« Sie drehte sich um und ging zu ihrem Arbeitstisch zurück, der jetzt über und über mit Pflanzenresten bestreut war. »Dass du rote genommen hast, war eine gute Idee.«

Ich grinste, während Rose damit begann, Knoten um Knoten zu lösen.

»Ich dachte mir, was gegen Kreaturen aus der Anderswelt hilft, kann bei einem Hexenfluch nicht verkehrt sein.«

Mit einem Glasfläschchen in der Hand kam Irina zu uns zurück. Es war nicht größer als mein kleiner Finger und mit einem Korken verschlossen. »Hör mir bitte gut zu. Ich mag dich, und deshalb sage ich dir: Mit Magie spielt man nicht.«

Rose, die gerade das letzte Band von meinem Unterarm löste, richtete sich triumphierend auf. »Da sind wir doch tatsächlich einmal einer Meinung.«

Irina ignorierte sie. »Manchmal ist Wissen gefährlich. Aber meistens ist es gefährlicher, nichts zu wissen und trotzdem mit Dingen herumzuexperimentieren. Das war ein mächtiger Fluch, der auf dem Grimoire dieser Hexe lag, und du hast ihn mit deinem Zauber entfesselt. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn du die Zeichen nicht rechtzeitig gebannt hättest. Ich fürchte, es wäre schlimm für dich ausgegangen. Vielleicht für euch beide.«

Ich senkte betreten den Kopf. »Dann war es doch richtig, den Schutzzauber zu wirken.«

»Ja und nein. Am besten wäre gewesen, du hättest dich dem Buch gar nicht erst genähert. Offensichtlich möchte seine Besitzerin nicht, dass es in falsche Hände gerät. Hier.« Sie drückte mir das Glasfläschchen in die Hand. »Nimm davon jede Nacht vor dem Einschlafen drei Tropfen. Du kannst sie in Wasser auflösen, aber besser ist es, wenn du sie direkt auf die Zunge träufelst.«

Fasziniert betrachtete ich den türkisfarbenen Inhalt des Fläschchens. Es glitzerte wie die Paste, die Irina auf meinen Arm gestrichen hatte, war aber flüssig.

»Was ist das?«

»Du willst lernen, gut. Das ist jedoch nichts, was ich dir in ein paar Stunden beibringen kann.«

Ich spürte, wie Rose’ Griff um meine Schultern fester wurde. Irina bemerkte das offenbar auch. »Das ist etwas, was dir Zeit erkauft. Vielleicht einen Mondzyklus lang, vielleicht etwas weniger. Heilen kann ich dich nicht. Du musst woanders Hilfe suchen. Doch dazu kommen wir später.« Sie richtete sich an Rose. »Wie sehr liebst du deine Freundin?«

»Was ist das für eine Frage?«

»Eine ernst gemeinte.« Sie fixierte Rose regelrecht mit ihrem Blick. »Es gibt eine Möglichkeit, wie du Muireann helfen kannst. Dafür brauche ich dein Blut.«

Rose schluckte.

Ich konnte mir denken, was in ihr vorging.

»Wenn du sie wirklich liebst«, sagte Irina unbarmherzig, »kannst du den Zauber stärker machen.« Sie deutete auf das Glasfläschchen in meiner Hand. »Wir müssen nur ein, zwei Tropfen deines Blutes mit hinzugeben.«

Nach einem Augenblick nickte Rose. »Na gut.«

»Rose, nicht!«, bat ich, während Irina die Schublade der Anrichte öffnete und eine lange, spitze Nadel hervorholte. Mit einer Hand­bewegung entzündete sie den Docht einer Kerze, die auf der Anrichte stand, und hielt die Spitze der Nadel in die Flamme.

»Ihr müsst keine Angst haben«, sagte sie. »Das ist keine schwarze Magie. Im Gegenteil. Die Macht, die die Wirksamkeit des Trankes stärken wird, kommt von hier.« Sie legte eine Hand auf ihre Brust und lächelte uns an. »Hat deine Familie immer noch Schwierigkeiten damit, dass du dich in eine Frau verliebt hast?«

Rose zuckte mit den Schultern. »Eigentlich haben sie sich ganz gut daran gewöhnt.«

»Sehr gut sogar«, bekräftigte ich und griff nach ihrer Hand. Ich fühlte mich bei ihr zu Hause mehr willkommen, als das es jemals im Haus meiner Tante der Fall gewesen war.

»Bis auf meinen Bruder und seine Frau«, ergänzte Rose.

»Die Ziege …«, sagte Irina und verdrehte die Augen.

Ich blickte sie überrascht an. »Wer hat dir verraten, dass wir sie so nennen?«

»Björn hat es erwähnt.« Sie streckte Rose die Hand entgegen. »Gib mir deinen Zeigefinger. Ich schwöre, es wird dir nicht schaden.«

Während Rose tat, worum Irina sie bat, entkorkte ich das kleine Fläschchen, um es bereitzuhalten. Dann stach Irina Rose mit der Nadel in den rechten Zeigefinger. Zwei Tropfen Rot fielen in die grünblaue Flüssigkeit und wurden von ihr absorbiert.

»Mach die Flasche wieder zu und schüttle sie ein paarmal hin und her, bis sich das Blut mit dem Trank vermischt hat«, wies mich Irina an.

Rose steckte derweil die Fingerkuppe zwischen die Lippen und saugte daran. Sie beobachtete, wie Irina die Spitze der Nadel erneut in die Kerzenflamme hielt. »Siehst du«, erklärte sie dabei. »Ich verbrenne die Blutreste, die sich noch auf der Spitze befinden. Ich bin nicht daran interessiert, dir und den Deinen zu schaden.«

Sie blies die Kerze aus und streckte uns die Nadel entgegen. »Wenn ihr euch wohler damit fühlt, könnt ihr sie mitnehmen.«

Rose schüttelte verlegen den Kopf. »Es tut mir leid, dass ich vorhin so misstrauisch war.«

»Schon gut. Was kann man auch sonst von einer Hexen­schlächterin erwarten? Willst du jetzt etwas Apfelsaft?«

Rose nickte. Ich seufzte erleichtert auf. Dass sich die Situation ausgerechnet durch dieses Ritual so entspannte, damit hätte ich nicht gerechnet. Unwillkürlich fragte ich mich, ob Irina mit Rose’ Blut doch einen kleinen Zauber gewirkt hatte.

»Das Blut in dem Trank.« Ich hob das Fläschchen. Sein Inhalt wirkte jetzt eine Spur dunkler als zuvor. »Funktioniert es genauso wie Blutmagie?«

Irina reichte Rose den Tonkrug und wandte sich mir zu. »Im Grunde ja. Aber das, was du als Blutmagie bezeichnest, ist etwas ganz anderes. Jede Art von Magie wird durch Energie gespeist. Durch die Energie, die aus dir selbst kommt. Durch Energie, die freiwillig gegeben wird, um zu behüten und zu beschützen. Blut ist nur ein Magieträger. Was die Dunklen tun, die Abtrünnigen wie jene, die die Kinder getötet hat – das ist nicht, wie Blutmagie sein sollte. Sie haben sie pervertiert. Sie wollen Macht, ohne den Preis dafür zu zahlen. Ohne etwas von sich selbst zu geben. Blut ist jener Energieträger, den sie am einfachsten stehlen können. Sie betrügen und verderben, um das Gleichgewicht zu halten.« Sie drehte den Kopf und sah Rose sehr ernst an. »Ich möchte nie wieder erleben, dass du mich mit einer von ihnen vergleichst. Hexe ist nicht gleich Hexe. Das solltest du wissen, wenn du auf uns Jagd machst.«

Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Rose’ Gesicht war unbewegt, doch ich vermutete, dass ihre Gedanken rasten. Ehe sie etwas sagen könnte, ging Irina zum Tisch zurück und ließ sich auf ihrem Platz nieder. »Setzt euch. Wir haben noch einiges zu besprechen.«

Während wir an unseren Getränken nippten, segelten drei Blau­meisen im Sturzflug durch die offene Tür in den Raum und umkreisten die Gastgeberin mit schrillem Gezwitscher. Irina hörte ihnen einen Moment aufmerksam zu, dann verdrehte sie die Augen. »Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt sie in Ruhe lassen.« Sie griff über den Tisch, zog eine reich verzierte Schatulle zu sich und öffnete sie.

»Eine der Katzen«, erklärte sie uns mit vielsagendem Blick. »Sie wollen sie einfach nicht in Ruhe lassen.« Sie griff in das Kästchen, holte eine Handvoll Körner daraus hervor und streute sie direkt auf die Tischplatte. Die Vögel ließen sich flatternd nieder und begannen, nach dem Futter zu picken. Aus dem Gebälk flog auch die Bachstelze wieder herunter und gesellte sich zu den Meisen.

»Zurück zu deinem Problem.« Irina deutete demonstrativ auf meine Unterarme. »Wie ich bereits sagte, habe ich dir nur Zeit erkauft. Die Hexe, der das Grimoire gehört, ist bedeutend mächtiger als ich. Ihren Fluch kann ich nicht brechen.«

Ich stellte die Ellenbogen auf den Tisch und stützte das Kinn in meine Hände. »Und was kann ich dann tun?«

»Wir«, korrigierte Rose und rückte näher an mich heran. »Was können wir tun?«

Irina begann damit, die Pflanzenreste vor sich einzusammeln und in einen Tonkrug zu werfen, der neben ihr auf dem Boden stand.

»Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Zunächst einmal könntet ihr nach der Hexe suchen, die den Fluch ausgesprochen hat, und sie dazu bringen, ihn aufzuheben.«

»Wir haben ohnehin vor, dieses Monster zur Strecke zu bringen.« Rose deutete mit ihren Fingern einen Kehlenschnitt an.

Irina lächelte säuerlich. »Das wäre die andere Möglichkeit. Ein Vorhaben, das leicht nach hinten losgehen kann. Die Zauber einer Hexe sterben zwar für gewöhnlich mit ihr, aber bei Flüchen muss man vorsichtig sein. Es gibt welche, die bereits mehr als ein Jahr­hundert überdauert haben.«

Mein Mund wurde trocken. »Wir wissen ohnehin nicht, wo sie sich aufhält. Wir suchen bereits seit mehreren Monden nach ihr, ohne auch nur eine Spur zu finden.«

»Sie zu finden ist auch nicht, was ich euch raten würde. Statt­dessen solltet ihr zu einer Hexe gehen, die ebenso mächtig ist wie sie. Oder mächtiger.« Sie legte die Hände vor sich auf die Tischplatte. Eine der Meisen begann, auf ihrem Arm herumzuspazieren, doch das störte Irina nicht. »Ich fürchte, davon gibt es nicht viele. Und noch weniger, die auch bereit wären, euch zu helfen.«

»Ich hasse Magie«, entfuhr es Rose. »Das wird ja noch komplizierter, als ich bereits dachte.«

Bisher hatten wir nur selten Hexen gejagt, und wenn, dann waren das immer solche gewesen, auf die man uns angesetzt hatte. Solche also, die sich nicht darum scherten, dass andere Leute wussten, was sie waren.

»Wo finden wir die, die stark genug sind?«, fragte ich deshalb.

Irina zögerte. »Die Königin von Albion würde mir zwar sicher widersprechen, aber die mächtigsten Hexen der Welt leben in meinem Heimatland.«

Rose verschluckte sich fast an ihrer Antwort. »Wir sollen nach Afrika reisen?«

»Nicht nach Afrika«, widersprach Irina. »Obwohl es dort auch einige sehr mächtige Magiewirker gibt. Ich meine das Land meiner Mutter. Ich mag so manches bei den Geistheilern aus Nubien gelernt haben, die Wurzeln meiner Kräfte liegen jedoch im Zarenreich.«

Na wunderbar!

Rose warf mir einen bedeutungsschwangeren Blick zu. Ich seufzte. »Das trifft sich gut.«

Irina schürzte überrascht die Lippen. »So?«

»Wir denken darüber nach, dorthin zu reisen.«

»Was wollt ihr im Zarenreich? Ihr wisst, solche wie euch sieht man dort nicht gern.«

Damit meinte sie nicht unsere Arbeit als Dämonenjägerinnen.

»Die Suche nach der Kindsmörderin. Gerüchten zufolge hat sie es geschafft, einen Prinzen zu verführen.«

Irina nickte versonnen. »Die anstehende Hochzeit des jungen Zarewitsch. Aber er heiratet die Häuptlingstochter eines Steppen­kriegerstammes.«

»Das haben wir auch gehört. Da uns das Grimoire allerdings nicht weiterhilft«, verlegen zupfte ich an meinen Ärmelsäumen, »hielten wir es für das Beste, uns bei der Hochzeit einzuschleichen, um die adeligen Gesandten aus den anderen Königreichen genauer in Augenschein zu nehmen.«

»Fast alle werden da sein, heißt es«, fügte Rose hinzu. »Es wird ein großes Hochzeitsfest.«

»Hexen sind im Zarenreich hoch angesehen. Kaum jemand dort hängt dem neuen Glauben an, der sich hier überall breitzumachen scheint und die Alte Kunst dämonisiert. Es ist ein gefährlicher Ort aus vielerlei Gründen. Aber ein guter, um Hilfe bei Muireanns Problem zu finden.«

Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder beunruhigt sein sollte. »Können wir uns einfach an den ersten Stadtwächter wenden, dem wir dort begegnen, und ihn fragen, wo wir eine Hexe finden?«

»O nein. So einfach wird das nicht werden. Und wie ich bereits sagte, auch nicht ungefährlich.«

»Wir lassen uns nicht so schnell Angst einjagen.« Rose gab sich selbstbewusst wie immer.

 

Irina beugte sich vor und lächelte. Sie zeigte dabei alle Zähne. Sie blitzten weiß wie Schnee in ihrem dunklen Gesicht. »Oh, vielleicht solltet ihr das. Es gibt nur eine Hexe im Zarenreich, von der ich mit Sicherheit weiß, dass sie die Macht besitzt, euch zu helfen.« Sie machte eine kunstvolle Pause. Dann fügte sie mit gesenkter Stimme hinzu: »Habt ihr je von der Baba Yaga gehört?«