Schattenwende

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Kapitel 9

Wirren der Vergangenheit

Roter Platz in Moskau, 4. September 1989.

Einige Blätter aus einer Zeitung wurden vom Wind durch die Luft geweht. Es war wie im Leben, manchmal gab es einen kräftigen Windstoß von der Seite und die Blätter schlugen eine ganz neue Richtung ein. Es waren nur wenige Leute da, die dem Treiben der Blätter zuschauten, obwohl es noch das Interessanteste war, was an diesem Morgen auf dem Roten Platz passierte.

Den meisten war es ohnehin egal, ob hier Blätter hin und her flogen oder nicht, sie hielten den Kopf gesenkt und wer einen Schal dabei hatte, hielt ihn schützend vor Mund und Nase. Gemütlicher war es da schon im Café Kathinka an der Ostseite des Platzes. Die komplette Front bestand aus Doppelverglasung und im Sommer konnte man im Freien Kaffee oder Cappuccino trinken. Aber auch jetzt in der kalten Jahreszeit waren viele Gäste gekommen, um sich mit Freunden zu treffen und einen schönen Nachmittag zu verbringen. Das Ambiente war zwar sehr schlicht und die meisten Stühle knarrten verdächtig, aber im Laufe der Jahre hatte sich ein eigenes gemütliches Flair entwickelt. Die Wanduhr zeigte sechzehn Uhr dreißig, das Kuchenbuffet hatte sich bereits geleert und viele ihren Kaffee schon getrunken.

Er war aber nicht in Hektik zu bringen. Er saß nun seit über drei Stunden hier, las seine Zeitung und trank Kaffee oder Tee. Er wird schon kommen, dachte er sich.

Kapitel 10

Kaleb sah sich um, ob ihm etwas Verdächtiges auffallen würde. Im Parkdeck C füllten sich immer mehr Plätze, da das Parkhaus sehr günstig lag und viele Leute, die in der Innenstadt arbeiteten, hier ihr Auto abstellten. Der Eingang zum Treppenhaus und der Fahrstuhl lagen direkt nebeneinander. Eine weitere Möglichkeit, entweder auf das Dach oder in das Erdgeschoss zu gelangen war über die Feuerleiter an der Stirnseite. Kaleb nahm seine Jacke und legte sie auf den Rücksitz. Er hätte gerne auch noch seinen Pulli ausgezogen, da es nicht mehr lange dauern würde, bis die Sonne die Luft auf schwüle fünfunddreißig Grad erhitzt hätte, aber wenn jeder direkt sähe, dass er ein Schulterhalfter mit einer Waffe trug, wäre das nicht gerade vorteilhaft gewesen. Dann hätte er sich genauso gut direkt ein Schild mit der Aufschrift „Polizist oder Gangster – wählen Sie selbst“ um den Hals hängen können. Da nahm er doch lieber in Kauf zu schwitzen.

„Hast du schon die Acht-Uhr-Nachrichten gehört?“

Kaleb drehte sich langsam um. Hinter ihm gingen zwei sich angeregt unterhaltenden Frauen vorbei. Leider bekam er nicht mehr mit, was in den Nachrichten gemeldet wurde, da das Gesprächsthema nahtlos von den Nachrichten auf das blau geblümte Kleid der Frau überging, die sich gerade bemühte, ihr Kind aus dem Kindersitz ihres Autos in den bereitstehenden Kinderwagen zu setzen. Im gleichen Moment fiel der Lichtkegel eines Autos, das die Auffahrt hochfuhr, auf die karge Betonwand vor ihm. Seine Gedanken sprangen zurück zu den Möglichkeiten, die sich ihm boten, das Parkdeck zu verlassen.

Die Frau mit dem blauen Kleid schob nun den Kinderwagen mit dem schreienden Baby an ihm vorbei. Wirklich ein hübsches Kleid, dachte sich Kaleb. Die Spaghettiträger waren auf den gebräunten Schultern kaum zu sehen und das Kleid ging nur bis kurz über die Knie.

Er stocherte mit dem Schlüssel in seinem Fahrerschloss herum. Seit Wochen hakte nun schon das Türschloss, sodass er Probleme hatte, die Tür auf- und zuzuschließen. Wenn er sich nicht bald darum kümmerte, käme der Tag, an dem der Schlüssel abbrechen und im Schloss stecken bleiben würde. Das wäre wesentlich ärgerlicher und auch teurer, als nur das Schloss austauschen zu lassen. Endlich machte es leise klack und die Tür war verschlossen. Wie erwartet, hatte die Frau sich für den Fahrstuhl entschieden, um in eines der unteren Stockwerke zu gelangen. Zum Glück waren Frau und Kinderwagen nicht das schnellste Gespann, sodass er mit ihnen in den Fahrstuhl steigen konnte. Es war schwer einzuschätzen, aber er hatte das Gefühl, dass die Frau besonders langsam machte, vielleicht, damit er mit ihr in den Fahrstuhl kommen konnte. Oder war es nur das Kleid, das ihn fast schon magisch anzog?

Höchstens zweieinhalb Quadratmeter, mehr Platz bot der Fahrstuhl nicht, in dem er sich nur Sekunden später befand.

Viel Zeit für ein Gespräch hatte er nicht, da die Lampe des ersten Stocks leuchtete und dies darauf hinwies, dass Kleid, Frau und Kinderwagen ihn dort wieder verlassen würden.

„Wirklich interessant, was in der Welt so passiert.“

„Ich finde es nicht wirklich interessant, sondern eher merkwürdig, dass zwei Minister am selben Tag Selbstmord begangen haben sollen.“

Das war wirklich interessant.

Die Frau bückte sich nach vorne und schob dem quengelnden Kind den Schnuller in den noch zahnlosen Mund zurück. Dabei wurden die bisher so gekonnt vom Kleid verdeckten Kurven sichtbar. Die Frau trug zu Recht ein hübsches Kleid.

Es war so weit, der Fahrstuhl drosselte seine Geschwindigkeit und es konnte nicht mehr lange dauern, bis sich die Türen zum ersten Stock öffneten. Geräuschlos schob sich die silberne Fahrstuhltür nach links in den dafür vorgesehenen Spalt.

„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!“

Mit Kinderwagen voraus, schritten die Frau und das hübsche blaue Kleid mit Mohnblumen wieder aus seinem Leben. Wie lange blieb so eine Tür wohl offen? Drei, vier oder gar fünf Sekunden? Auf alle Fälle lange genug, um in seinem Blickfeld wahrzunehmen, was dort passierte. Die Frau, deren Namen er nicht wusste, die sich aber gerade von ihm verabschiedet hatte, ging nach rechts – genau dorthin, von wo der langsam fahrende grüne BMW heranfuhr. Kaleb machte einen Satz in die rechte Ecke des Fahrstuhls, in der Hoffnung, dass die Tür zuging, bevor – wer auch immer – einen Blick in den Fahrstuhl werfen konnte. In der sich schließenden Tür spiegelte sich auf dem glänzend polierten Silber die Frau mit dem Kinderwagen. Sie war anscheinend von dem BMW-Fahrer angehalten worden und zeigte nun mit dem linken Arm in seine Richtung.

Hier entwickelte sich gerade ein Katz-und-Maus-Spiel der ganz besonderen Art. Im Moment war Kaleb die Maus und saß in einer fahrenden Mausefalle. Bevor die Rollen getauscht würden, galt es, sich eine Zeitung zu besorgen und endlich den Inhalt der letzten beiden Mails zu erfahren.

Eine Maus entkommt der Katze nur, wenn sie entweder nicht aus dem Loch kommt oder Wege geht, die die Katze nicht kennt. Für ihn galt beides, er musste aus dem Loch hier raus und Wege gehen, die er bisher so nicht geplant hatte.

Die Decke des Fahrstuhls bestand aus locker aufgelegten, schwarz eingefärbten Gipsplatten. Es war ein Leichtes, sie zur Seite zu schieben und sich an der Fahrstuhlwand abgestützt auf dessen Dach hoch zu schwingen, während die Fahrstuhltür wieder zurückglitt und der Aufzug sich in Bewegung setzte.

Alle Fahrstühle sind nach dem gleichen Prinzip gebaut, während der Fahrstuhl nach oben oder unten fährt, bewegt sich mit gleicher Geschwindigkeit ein Stahlseil mit Gegengewicht in die andere Richtung. Mit einem kurzen Ruck stoppte der Fahrstuhl im Erdgeschoss. Kaleb kniete auf dem Dach und ein gleitendes Geräusch zeigte ihm, dass die Tür sich öffnete. Stimmen waren keine zu hören, sondern nur die Schritte einer einzelnen Person. Gerne hätte Kaleb gewusst, ob es der Fahrer des BMW war, aber es war zu gefährlich, die Deckenplatten zur Seite zu schieben und zu schauen. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Aber es war nur eine kurze Reise, denn nach einem Stockwerk war schon wieder Schluss. Die Tür öffnete sich und wieder hörte Kaleb nur einzelne Schritte, die in die Ebene des zweiten Stockes traten, ohne dass eine andere Person den Fahrstuhl betrat. Kaleb schob die Gipsplatte zur Seite und ließ sich genauso geschmeidig wieder nach unten gleiten, wie er sich zuvor auf dessen Dach geschwungen hatte. Wenn er dieses Katz-und-Maus-Spiel beenden oder gar vom Gejagten zum Jäger werden wollte, musste er hier raus. Das Parkhaus hatte drei Stockwerke. Den BMW hatte er im ersten Stock gesehen und sein Auto stand auf Deck C. In solchen Situation half Kaleb nur eins und das war der Bauch. Der sagte ihm, er solle zum Auto zurück. Die kleine Handfeuerwaffe aus dem Halfter am Fuß ließ sich am besten unauffällig in die Hosentasche stecken. Er ging vor der Fahrstuhltür in die Hocke um im Fall der Fälle nicht mit der ganzen Körpergröße als Zielscheibe zu dienen. Wieder schob sich die Tür zur Seite auf und gab langsam den Blick auf das Parkdeck C frei. Es war nichts zu sehen oder zu hören. Entweder war sein Auto schon entdeckt worden oder es konnte nicht mehr lange dauern. Möglichkeiten, Deckung zu suchen, bot das Parkdeck genügend. Jedes der parkenden Autos oder auch die Betonpfeiler, die das Dach des Parkhauses trugen, waren Möglichkeiten, Schutz zu finden. Zwei Parkplätze von seinem Auto entfernt war einer dieser Pfeiler. Er bot ausreichend Schutz und einen freien Blick auf das Coupé. Minute um Minute verstrich, ohne dass etwas passierte. Sogar der Fahrstuhl blieb mit geschlossener Tür stehen und die Anzeige in der Wand zeigte an, dass dieser noch nicht nach unten bestellt worden war. Die Tür zum Treppenhaus konnte er von hier aus auch beobachten, sie war höchstens fünf Meter vom Fahrstuhl entfernt. Vielleicht war derjenige, der ihn verfolgte ja schon am Auto gewesen, aber er konnte nichts sehen. Wenn er ein Profi war, dann war ein Peilsender oder eine kleine Sprengladung auch nicht am Nummernschild oder der Antenne befestigt worden, sondern so, dass sie nur bei genauerer Untersuchung gefunden werden konnten. Er wendete seinen Blick wieder vom Auto zum Fahrstuhl und auf die Tür des Treppenhauses. Die Tür befand sich immer noch im Dornröschenschlaf, aber die Anzeige des Fahrstuhls stand nicht mehr auf drei, sondern blinkte auf der zweiten Etage. Kaleb hatte die Waffe ruhig in der Hand und konzentrierte sich mit allen Sinnen auf die beiden einzigen Zugangsmöglichkeiten zum Parkdeck.

 

Kapitel 11

Die Vergangenheit nimmt ihren Lauf

Roter Platz in Moskau, 4. September 1989, 17:22 Uhr.

„Darf ich Ihnen noch einen Kaffee bringen?“

Die Stimme des Obers hatte einen sehr ruhigen Klang.

„Nein danke.“

Er hatte schon so viel Kaffee getrunken, dass sein rechtes Augenlied bereits angefangen hatte, zu zucken.

Das normale Verhalten des Obers wäre es wohl gewesen, auf dem Absatz umzukehren und wieder in die Küche zu gehen. Aber er schien wie vom Blitz getroffen zu sein. Er stand einfach nur da. Seine Lackschuhe waren schon ein wenig abgetragen, aber für einen Ober in Russland sehr schick. Seine schwarze Hose schien maßgefertigt zu sein.

Der Ober hatte ihn schon die ganze Zeit bedient. Allerdings stand er nun zum ersten Mal mit einer Hand in der Hosentasche vor ihm und bewegte sich nicht.

Nun war auch klar, weshalb er eine ordentliche Hose aus einem ordentlichen Stoff mit einem guten Schnitt trug. Diese Hosentaschen boten mehr Platz.

Es war auch sicher, dass der Mann nicht mit dem Finger auf ihn zeigte.

Der Wind wehte immer noch die Blätter über den Roten Platz und nun waren auch die Leute unterwegs, die morgens oder nachmittags noch hatten arbeiten müssen.

Es war bedeutend mehr los als noch vor einigen Stunden. Es sah fast so aus, als ob sich halb Moskau auf den Beinen befand.

In einer Ecke trafen sich die ersten Jugendlichen, die abends dort die Zeit totschlugen und wenn sie sie nicht einfach nur mit Nichtstun vergeudeten, dann pöbelten sie vorbeikommende Passanten an.

Der Ober sah Kaleb weiter an.

Das weiße Hemd ließ erahnen, dass er vermutlich ziemlich durchtrainiert war.

„Naja, wenn Sie darauf bestehen, trinke ich doch noch einen Kaffee und Sie können mir dann auch noch ein Stückchen von dem Kirschkuchen bringen, der war sehr lecker!“

Der Ober reagierte nicht.

Die Wanduhr im Café Kathinka sprang auf siebzehn Uhr zweiundzwanzig.

Hinter der Theke stand noch eine weitere Bedienung. Eigentlich hatte er die ganze Zeit darauf gehofft, dass er von ihr bedient werden würde. Denn ihre langen roten Haare leuchteten wie Feuer und außerdem hatte sie eine tolle Figur.

„Sehen Sie, wenn man nur lange genug darüber nachdenkt, bekommt man auch wieder Hunger – ich werde Ihnen zu dem Kaffee und dem Kuchen auch noch eine neue Serviette bringen.“

Die Jungs auf dem Roten Platz wurden immer mehr. Bei den Ersten schien sich auch schon der billige Wodka im Blut bemerkbar zu machen. Aber was sollten sie auch tun? Ihr Leben war bedauernswert. Viele wohnten in hässlichen, kleinen Wohnungen und hatten oft kein eigenes Zimmer. Die Wände der Häuser waren dünn und man hörte immer wieder Dinge, die man eigentlich nicht hören wollte.

Und ihr Blick in die Zukunft sah genauso grau aus wie die ungestrichenen Betonwände der Wohnungen, in denen sie lebten. Also halfen der Wodka oder auch der Klebstoff, das Elend zumindest ein wenig zu verdrängen.

Allein wegen diesen Jungs musste der Deal über die Bühne gehen.

Denen, die da draußen mit ihrer Wodkaflasche saßen, war mit Sicherheit nicht klar, dass keine hundert Meter von ihnen entfernt die Weichen für ihre Zukunft gestellt wurden.

„Hier, Ihr Kaffee und der Kirschkuchen.“

Der Ober nahm das benutzte Service und stellte es auf sein braunes Tablett.

„Ich hoffe, Ihr Aufenthalt in Moskau hat Ihnen gefallen und Sie müssen uns für lange Zeit nicht mehr besuchen kommen.“

Während er dies sagte, legte er die Serviette neben den Teller.

Kaleb nahm einen Schluck von dem frischen Kaffee und fuhr sich anschließend mit der Serviette über den Mund. Die Serviette war wesentlich fester als die, die er zuvor gehabt hatte. Es fühlte sich an wie ein kleiner Umschlag, der zwischen den dünnen roten Blättern lag.

Die beiden Männer schauten sich eine Zeit lang in die Augen.

Die rechte Hand des Obers war wieder in seiner Hosentasche verschwunden. Aber keiner ließ mit seinem Blick von dem anderen ab.

„Wenn alles in Ordnung ist, dann können Sie bestimmt bald in Berlin oder Hamburg Ihr eigenes Lokal aufmachen.“

Kaleb holte aus seiner Geldbörse fünfzig Rubel. Das war mehr, als er vertrunken oder gegessen hatte.

Hoffentlich geht das hier gut, dachte er sich.

Noch einmal schaute er in das markante Gesicht des Obers. Dann verließ er das Café und würde es vielleicht auch nie wieder betreten.

Kapitel 12

Kaleb schaute immer noch auf die blinkende Anzeige des Fahrstuhls. Jetzt musste er sich entscheiden. Es galt, in die Offensive zu gehen. Das Treppenhaus war einfach zu riskant. Dort konnte sich jederzeit jemand hinter einer der Türen zu den Parkdecks verstecken.

Noch einmal schaute er sich nach allen Seiten um, aber es war niemand zu sehen. Selbst Vögel waren keine unterwegs. Denen war es vermutlich auch schon zu heiß und sie hielten sich lieber in den Wipfeln und Ästen vom Bäumen auf anstatt auf einem Parkdeck.

Mit einem kurzen Sprint gelangte er zu seinem Auto, wo er einen kleinen Spiegel neben den linken Hinterreifen legte. Wenn alles passte, müsste dieser ihm einen Blick in den Fahrstuhl gewähren, sobald der sich öffnete. Von seinem Auto aus waren es dann nur noch wenige Meter bis zum nächsten Betonpfeiler. Von hier aus konnte er auf den Spiegel schauen. Außerdem war der Pfeiler nah an der Feuerleiter und er konnte das Parkhaus an der Nordseite verlassen oder gegebenenfalls auf das Dach flüchten.

Die Sekunden verstrichen. Das Blinken der Anzeige im zweiten Stock hatte aufgehört und es leuchtet nun die Anzeige von Parkdeck C.

Kein Windhauch, kein Vogel, der zwitscherte, keine Sirene und keine Stimmen waren zu hören, nur das metallene Geräusch der sich öffnenden Fahrstuhltür.

Wenn es jemand eilig gehabt hätte, wäre er längst herausgetreten. Aber es war nichts zu sehen und auch nichts zu hören.

Die Fahrstuhltür blieb offen. Dort handelte jemand auf alle Fälle überlegt und nicht überhastet. Der Spiegel zeigte den Innenraum, dort war nichts zu sehen. Aber wieso blieb dann die Tür offen?

War es möglich, dass jemand in so kurzer Zeit etwas an der Elektronik manipuliert hatte? Ausschließen konnte er das nicht.

Kalebs Blick blieb fest auf dem Spiegel, da es fast unmöglich war, dass sich nichts tun würde. Aber die Sekunden verstrichen weiter und nichts passierte.

Kaleb wagte es kaum, sich zu bewegen, das war alles sehr mysteriös. Aber er musste: Sein Blick wanderte vom Spiegel zum Fahrstuhl und von dort aus weiter zur Tür, die zum Treppenhaus führte.

Eins war klar, hier war jemand unterwegs, der seine Sache wirklich verstand. Die Tür zum Treppenhaus war nur noch angelehnt und Kaleb hätte wetten können, dass sie, als er vorhin dort hingeschaut hatte, geschlossen gewesen war.

Aber er war auch noch nicht entdeckt worden.

Im Spiegel war immer noch nichts zu sehen. Er hielt in seiner rechten Hand ruhig die Waffe, die er in der Zwischenzeit aus seinem Schulterhalfter gezogen hatte.

Kaleb sah im Spiegel, dass die Tür des Aufzugs sich schloss und nach unten fuhr.

Die Sekunden verstrichen. Der Fahrstuhl war vermutlich bereits im ersten Stock angekommen. Aber es waren immer noch keine Stimmen zu hören. Von der Straße kam das Hupen eines Autos.

Dann war es wieder still. Wo war –.

Ja wo war wer?

Wer war hier hochgekommen und wo war er?

Kaleb hätte jetzt einen zweiten Spiegel gebraucht, um zu besser sehen zu können, was hinter ihm passierte. Ab und zu drehte er den Kopf über die linke Schulter in Richtung der Feuerleiter, aber auch dort war nichts. Nun surrte ein Motor und ein B-Corsa fuhr die Auffahrt zum Parkdeck hoch. Der Fahrer sah aus, als ob er entweder bei einer Bank oder einer Versicherung arbeitete und vermutlich war sein Leben genauso spannend wie sein Auto.

Die ruhige Zeit auf dem Parkdeck schien zu Ende zu gehen. Denn auch der Fahrstuhl hatte sein Ziel erreicht und der Mann, der ausstieg, ging zu seinem Auto, das direkt neben dem Coupé stand. Kaleb wandte seinen Kopf wieder nach hinten. Alles ruhig. Ein Blick zum Auto. Alles ruhig.

Der Corsafahrer hatte einen Parkplatz gefunden. Eigentlich hätte er sein Auto gar nicht abschließen müssen, denn wer Corsas klaut, dem muss es wirklich schlecht gehen.

Der Mann aus dem Corsa ging auf die Tür zum Treppenhaus zu. In der einen Hand hatte er ein dunkles Sakko und in der anderen eine Aktentasche. Von dem Jeep waren inzwischen nur noch die Hinterreifen zu sehen. Dafür war nun die Betonsäule ganz in seinem Blickfeld, die bisher zum größten Teil von dem Jeep verdeckt worden war und das war gut.

Es herrschte wieder Stille.

Manchmal muss man auch Glück haben. Kaleb konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wenn der Jeep nicht weggefahren wäre und der Corsa nicht so günstig geparkt hätte, dann hätte er noch lange warten und suchen können. Denn wen auch immer er suchte, er hockte ziemlich sicher hinter der Betonsäule neben seinem Mustang, um dort auf ihn zu warten.

Kaleb lächelte und entsicherte seine Waffe.

Kapitel 13

- Deutschland einige Tage zuvor -

Jörn setzte sich auf den Beifahrersitz des Audis. Das Auto war höchstens ein Jahr alt. In der kalten Jahreszeit würde die Sitzheizung dieses modernen Autos bestimmt gut tun und seine durchgefrorenen Glieder würden gleich wieder auftauen.

Nathan Sieben, der eben in sein Leben getreten war, ließ den Motor an und legte den Schalthebel auf D.

„Naja, ein Automatikgetriebe“, dachte Jörn, aber er behielt seine Gedanken für sich.

Jörn wollte das Gespräch ohnehin nicht beginnen. Der Mann vom BND hatte ihn aufgesucht und so wollte er bestimmt etwas von ihm.

Der Wagen schwebte mehr über die Straße, als dass er fuhr, und auch wenn er ein Automatikgetriebe hatte, machte er einen recht sportlichen Eindruck und lag ruhig und sicher auf dem Asphalt.

„Sie fragen sich bestimmt, was hier vor sich geht?“

„Nein, wie kommen Sie darauf? Eigentlich ist das ja alles ganz normal und ich fahre jeden Abend mit jemandem vom BND durch die Gegend!“

„Dann wird es Sie nicht wundern, wenn ich Ihnen sage, dass sich für Sie ab heute einiges ändern wird.“

„Was meinen Sie mit ändern? Ändern im Sinn von besser werden oder ein Ändern wie bei einem Chamäleon, dass mich ab morgen keiner mehr erkennt?“

„Eher die zweite Möglichkeit.“

„Darin bin ich aber nicht so gut.“

„Keine Angst, dafür werden wir schon sorgen. Wir brauchen Sie.“

„Was heißt ‚wir brauchen Sie‘?“

„Wir brauchen Sie, das ist alles, was ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann.“

„Dann sagen Sie mir wenigstens, wo wir hinfahren.“

Aus dem Fenster sah Jörn die Lichter von Lichtach. Am Ortsrand konnte man die Bäckerei erkennen und im Gewerbegebiet zeigten die hell erleuchteten Hallen an, dass die Arbeit dort noch lange nicht zu Ende war.

„Wir fahren ins Ungewisse. Zumindest was so manche Dinge angeht und im Moment fahren wir erst mal zum nächsten Drive-in, denn ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht – ich jedenfalls habe einen Mordskohldampf.“

„Aber Sie zahlen – denn wie ich die Bundesbehörden kenne, können Sie das doch sowieso alles als Spesen absetzen.“

Lichtach verschwand im Hintergrund. Jörn versuchte noch einmal, seine Gedanken zu sortieren und überlegte, was hier vor sich ging. Aber wann würde er weitere Informationen erhalten?

„Darf ich rauchen?“ Jörn drehte den Kopf leicht nach links.

„Ja, machen Sie aber das Fenster auf!“

Die elektrischen Fensterheber ließen die Scheibe fast geräuschlos in der Tür verschwinden.

Bis zum Drive-in herrschte Schweigen im Auto. Im Fast-Food-Restaurant war nicht viel Betrieb. Die zwei Frauen, die hinter der Theke die Bestellungen entgegen nahmen, sahen aus wie Studentinnen. Die eine hatte einen Ohrring, der aussah als stamme er aus einem Esoterikshop – vermutlich studierte sie Pädagogik. Die andere war dezent geschminkt und ihre Haare waren streng nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. So wie sie aussah, studierte sie bestimmt Jura. In dem Fast-Food-Laden liefen mehrere Fernseher und eine der Leuchtreklamen flackerte.

 

Die Bestellungen landeten auf den Tabletts. Die Pädagogikstudentin machte den Eindruck, als ob ihr der Job wenigstens ein wenig Spaß machte. Die angehende Staatsanwältin dachte sich vermutlich, dass sie etwas Besseres verdiente, als Burger zu wenden, an einer Kasse zu stehen und Kleingeld zu zählen – aber wer hat nicht etwas Besseres verdient?

Der Tisch ganz hinten in der Ecke war genau der Richtige, um alles im Blick zu haben und sich trotzdem ungestört unterhalten zu können.

Nathan Sieben schaute Jörn direkt in die Augen, ohne zu zwinkern oder zu lächeln, er schaute ihn einfach nur an.

„Können Sie sich noch an den fünften September neunundachtzig erinnern?“

Jörn hielt Nathans Blick Stand.

„Können Sie sich noch an den siebzehnten März zweiundneunzig erinnern?“

Nathan reagierte nicht. Er zwinkerte nicht mit den Augen oder schaute zur Seite. Er schaute Jörn weiter intensiv an.

Die beiden Studentinnen an der Theke hatten diesen Abend nicht viel zu tun. Eine ging nach hinten in den Bereich, in dem Burger und Pommes vorbereitet wurden. Vermutlich gab es eine Anweisung vom Chef, dass, wenn nicht so viel zu tun war, hinten die Fliesen geschrubbt oder die Dunstabzugshaube vom Fett befreit werden musste.

Das Reklameschild mit dem flackernden Licht hatte nun ganz den Geist aufgegeben und war ausgegangen.

Nathan nahm seine Cola und zog kräftig am Strohhalm. Das schwarze, koffeinhaltige Getränk machte sich auf den Weg aus dem Becher, befeuchtete nur ein wenig die Lippen und landete dann im Mund. Dann stellte er den Becher wieder auf das Tablett vor sich.

„Ich muss mich nicht an den siebzehnten März zweiundneunzig erinnern, und Sie sollten sich auch nicht an den fünften September neunundachtzig erinnern können.“

In seinem rechten Augenwinkel konnte Jörn sehen, wie die Tür zu dem Restaurant aufging.

„Wieso fragen Sie mich dann danach?“

Eine Gruppe Jugendlicher tummelte sich nun vor der Jurastudentin, und die Pädagogikstudentin war auch wieder nach vorne geeilt, um bei den Bestellungen zu helfen. Sie waren vermutlich auf dem Weg zu einer Party und ihre ersten Angrabopfer waren diese beiden jungen hübschen Mädchen.

Die Augen von Nathan ruhten jetzt wieder auf Jörns Gesicht und es war ihm anzusehen, dass er mit sich rang, ob er etwas sagte oder nicht.

„Sie waren am fünften September neunundachtzig in München.“

Jörn sah ihn erstaunt an.

„Ich – in München?“

„Ja, Sie waren in München und zu dieser Zeit waren Sie auch noch einer der Top Agenten des BND.“

Jörn hatte schon immer gedacht, dass er zu mehr berufen sei als in Lichtach kleine Verbrecher zu jagen. Allerdings war die Hoffnung gewesen, dass seine Zukunft spannender sei. Nun stellte sich heraus, dass die großen Erlebnisse seines Lebens in der Vergangenheit lagen.

„Ich – ein Topagent des BND?“

„Richtig.“

Einer der Jugendlichen probierte anscheinend, die Telefonnummer von der Jurastudentin zu bekommen. Seine Bestellung stand längst auf seinem Tablett. Er hatte einen Stift in der Hand und grinste sie an.

Der Jurastudentin schien der Flirt zu gefallen.

„Ich will Ihnen einen Zeitungsartikel von damals geben.“ Nathan holte eine Zeitung aus seiner schwarzen Tasche, die neben ihm auf dem Boden stand.

„Oh, da bin ich aber gespannt. Vielleicht war ich in dem Jahr ja nicht nur Geheimagent wie James Bond, sondern habe auch noch im Jahr davor mit der Fußballnationalmannschaft in der Europameisterschaft gekickt.“

„Sie hätten vielleicht besser mitgespielt. Dann hätten wir im Halbfinale nicht gegen die Holländer verloren und unsere orangefarbenen Freunde wären nie Europameister geworden.“

Die Zeitung lag mit dem Leitartikel nach oben vor ihm und war vom fünften September 1989. Auf der Titelseite waren zwei Männer zu sehen. Beide trugen dunkle Anzüge und standen vor dem ehemaligen Bundestagsgebäude auf dem Hardtberg in Bonn.

Sie waren sich von ihren Rednerpulten aus entgegengekommen und reichten sich symbolisch die Hände. Einer der beiden Männer war der Altbundeskanzler Helmut Kohl, der Zweite war Michail Gorbatschow, der zu diesem Zeitpunkt noch Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion war und erst zwei Jahre später der Präsident der Sowjetunion werden sollte.

Jörn schaut auf das Datum der Zeitung. 5. September 1989. Also genau aus der Zeit, in der er als Geheimagent tätig gewesen sein sollte.

„Habe ich damit etwas zu tun?“

Langsam brannte es Jörn doch unter den Nägeln. Er hatte ja anscheinend doch einmal ein Leben gehabt, das wirklich spannend war.

„Sie haben dort nicht die Stühle gestellt und auch keinem der Männer das Wasser gereicht.“

Nathan nahm die Zeitung und steckte sie wieder in seine Tasche. Nun legte er einen großen schwarzen DIN-A4-Umschlag auf den Tisch und schaute Jörn ruhig, aber bestimmt an.

Der Flirt an der Theke schien ein Ende gefunden zu haben und dem Gesicht der Beiden nach zu urteilen, würden sie sich vermutlich noch einmal an einem Ort treffen, an dem es nicht nach Pommes und Burgern roch.

Sowohl Jörn als auch Nathan hatten ihre Menüs aufgegessen und die Pappbecher, die eben noch mit Cola gefüllt waren, waren auch leer.

„Bevor Sie mir sagen, was in dem Umschlag auf mich wartet, möchte ich wissen, wer ich wirklich bin und was an diesem fünften September neunundachtzig geschehen ist.“

Da keine anderen Kunden außer ihnen da waren, hatten sich beide Studentinnen von der Theke entfernt und waren entweder eine rauchen gegangen oder in der Küche die Fliesen putzen.

Auf den Fernsehern lief gerade ein altes Video von Guns N' Roses. Slash und Axl Rose gaben wie immer alles. Von Slash war nicht einmal das Gesicht zu sehen und die Finger huschten wie eine flinke Eidechse über den Hals der Gitarre. Diese Band mit ihren großen Erfolgen in den Achtzigern und Neunzigern gehörte zu einer langsam verblassenden Rock-and-Roll-Kultur.

„Sie möchten also wissen, was damals geschehen ist?“

„Ja.“

Nathan spielte mit seiner Hand an dem schwarzen DIN-A4-Umschlag und einer seiner Füße schien im Rhythmus von Knockin' on Heaven's Door zu wippen.

„Sagt Ihnen der Name Kaleb Geidi etwas?“

„Nein.“

„Mit ihm waren Sie zusammen in München haben dort Dinge entdeckt und herausgefunden, die von nationaler Bedeutung sind.“

Sanft glitt die Tür des Fast-Food-Restaurants auf und der Jugendliche, der eben vermutlich nach der Telefonnummer gefragt hatte, trat wieder an die Theke.

„Glauben Sie mir, daran könnte ich mich erinnern, ich weiß ja sogar noch, wie ich mit fünf Jahren mit meinem Fahrrad gegen einen Baum gefahren bin.“

Jörn grinste und überlegte, ob heute der erste April sei. Oder war er bei Versteckte Kamera?

Er schob seinen Müll auf dem Tablett zusammen und wollte aufstehen.

„Sie sind mit fünf Jahren mit keinem Fahrrad gegen einen Baum gefahren.“

Jörn stand auf und legte die Fäuste geballt auf den Tisch. Mit seinem Gesicht ging er ganz nah an das von Nathan Sieben.

Ihre Augen waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt und Jörn konnte sehen, wie sich Nathans Nasenhaare beim Atmen bewegten.

„Sie sagen mir jetzt, was hier läuft oder ich bin weg.“

In diesem Satz lag viel Nachdruck. Jörn meinte es ernst.

„Sie sind ein ehemaliger Spitzenagent des BND und seit neunundachtzig sozusagen im Ruhestand, und wenn wir nicht auf Sie aufpassen würden, dauerte es keine vierundzwanzig Stunden mehr, und Sie wären tot. Sie werden gesucht und mit Sicherheit nicht von einem Wohltätigkeitsverband.“

Von den beiden Studentinnen war nichts mehr zu sehen, aber man hörte sie noch lachen und kichern. Vermutlich unterhielten sie sich über den Jungen, der nach der Telefonnummer gefragt hatte.

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