Von der irrwitzigen Flucht ins Zentrum des Seins

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4.

Karl traf auf einen frostigen Blick, als er dem zuständigen Kriminalbeamten seine Version des Verbrechens erzählte. Die blaue Iris des Beamten hatte die Farbe eines grönländischen Eisberges angenommen. Seine Lippen waren fest zusammengepresst wie eine fachgerechte Nietverbindung. In seinem Gesicht mischten sich Ungläubigkeit, Unwilligkeit und schroffe Ablehnung. Karl las seine Mimik wie ein offenes Buch, und was er las, war nicht schön.

Der Täter hatte gestanden und der Hauptprozess wäre in drei Monaten über die Bühne. Und jetzt kam dieser Vollidiot von der Bank! Meinte wohl den Helden spielen zu müssen! Wen immer dieser sonderbare Kauz damit auch beeindrucken wollte, ihn jedenfalls nicht, dachte der Polizist.

Karl beschwor den Beamten, ihm zu glauben und zählte die technischen Details des Überfalls auf. Aber die passten auch auf die anderen Überfälle und stellten die Täterschaft des Serienbetrügers keineswegs infrage. Karl wurde zunehmend wütend und verzweifelt und brüllte den Beamten an. Dieser ließ den Polizeipsychologen kommen, der mit Karl allein und in Ruhe sprach. Zu ihm hatte Karl Vertrauen, und er erzählte nochmals in aller Gefasstheit, dass er allein der Täter und das Geständnis des anderen ein falsches wäre. Diesen siebten Überfall hätte der andere nicht begangen. Die anderen sechs wolle er ihm ja gerne lassen. Der Psychologe verließ für einige Zeit den Raum und es wurde eine Reihe von ersten Schnell-Recherchen von den Kollegen angestellt.

In der Drogenszene war Karl völlig unbekannt. Das Vorstrafenregister gab nichts her. Auch hatte man ihn bisher nicht in Zusammenhang mit Waffenhändlern bringen können. Einzig die Kollegen von der Spielerszene kannten sein Gesicht und seinen Namen. Da er aber in keinem der Kasinos durch.kriminelle Machenschaften aufgefallen war, lag auch hier nichts gegen ihn vor. Lediglich einige Hinweise aufgrund genauerer Befragungen förderten seine Neigung zum Spielermilieu zutage. Er war des Öfteren gesehen worden. Sonst aber nichts. Niemand wusste etwas Genaueres. Der sichtliche Geldsegen der Familie, über den auch schon die Nachbarn tratschten, war damit schnell erklärt. Ein Spinner! Dem auch noch unverschämtes Spielglück in den Schoß gefallen war. Jetzt drehte er durch. So etwas gab es.

Der Kriminalpsychologe kam mit dem ermittelnden Kommissar zurück. Die Recherchen hätten nichts ergeben, sein Ruf wäre einwandfrei, und ein fehlendes Alibi für die Tatzeit wäre nun wirklich kein Indiz für ein solches Verbrechen. Dann wurden sie weich und freundlich. Fragten, ob er denn sonst irgendwelche persönlichen Probleme hätte? Sich nicht ganz wohl fühlte? Ob man irgendwie helfen könnte?

Plötzlich veränderte sich der Ton. Er wurde sarkastisch und drohend. Oder ob der Herr gerne mal unbedingt ein Bankräuber sein wolle? Der Kommissar versuchte, ihn aus der Reserve zu locken. Dann wäre man ja unzweifelhaft auch viel wichtiger und bekannter als ein kleiner Systemadministrator, dem gerade ein junger Mann vor die Nase gesetzt worden war! Er sei sicher, dass dies ein typischer Fall von männlicher Midlifecrisis in Kombination mit beruflicher Frustration sei.

Karl bebte. Das Beben suchte verzweifelt einen Ausgang im Labyrinth seiner sich steigernden Verzweiflung. Seine innerlich aufgestaute Wut verlagerte sich in seinen rechten Fuß. Damit trat er dem Beamten heftig ans Schienbein. Gleichzeitig griff er sich blitzschnell einen Stapel polizeilicher Akten. Diese schleuderte er schreiend durch das offene Fenster auf die belebte Straße. Hunderte von losen Papieren mit brisanten kriminalistischen Inhalten flatterten hinab auf eine sich sehr interessiert bückende Passantenschar. Das alles geschah blitzschnell und war selbst für die hartgesottenen Beamten ein Schock.

Wie paralysiert starrten sie diesen Verrückten an. Völlig außer sich, dieser Kerl! Karl ergriff als nächstes die gefüllte, heiße Glaskanne aus der Kaffeemaschine der Abteilung und bedrohte damit eine junge Polizistin, die gerade ihren morgendlichen Dienst antrat. Sie war zwar auf Nahkampf trainiert – allerdings hatte sie nirgends etwas über die Bedrohung mit heißem Kaffee gelernt. So zweifelte sie mangels Training nun an der Realität dieser aktuell erlebten Szenerie. Wie ihre Kollegen starrte sie ungläubig auf dieses männliche Bündel Wut, bar jeder Vorstellung, dass kochend heißer Kaffee als Waffe durchaus tauglich war.

Nicht einschätzbare Randalierer aus dem Milieu waren ihr täglich Brot. Man sah es diesen Typen schon von weitem an, was ihre Unberechenbarkeit fast berechenbar machte. Sie stanken häufig nach Drogen und Alkohol, Schweiß, Brutalität, Verzweiflung und Vergessen. Der polizeilich gut geschulte Verstand wusste hier blitzschnell seine Intuition zu Rate zu ziehen und zu reagieren. So war es normalerweise. Aber das hier war völlig anders.

Das war keiner aus dem Milieu, sondern lediglich ein normaler verzweifelter Mensch, der nach einem Kaffee griff. Vielleicht hatte er tatsächlich Durst und musste sich beruhigen. Das auf typische Ereignisse gut trainierte Gehirn der Polizistin kam sekundenlang einfach nicht klar. Für diese Situation gab es kein Regelwerk, das binnen kurzer Momente für sie abrufbar war.

Der brühend heiße Kaffee ergoss sich über die Bluse der jungen Frau. Sie schrie entsetzt auf, als das schwarze Nass sich mit einer Temperatur um die 87 Grad plötzlich auf ihr zartes Dekolleté ergoss. Ihre beißend brennende Haut bestätigte den geschätzten Hitzegrad blitzschnell ihrem Schmerzzentrum im Gehirn. Entsetzte Schreie waren die unvermeidliche Folge. Jetzt war aber Schluss mit lustig!

Jan Treblinksi, einen jungen und zielstrebig aufsteigenden Ermittlungsbeamten, hatte man in der Zwischenzeit zu Viktoria geschickt. Sie sollte zuerst ohne Beisein ihres Gatten über die Situation befragt werden. Danach würde man sie mit ins Präsidium nehmen. Vielleicht war es ihr möglich, sachlich aufzuklären und beruhigend auf ihren Mann einzuwirken. Noch war den Beamten und dem Polizeipsychologen völlig unklar, ob sie es mit einer spontanen Psychose eines unbescholtenen Bürgers zu tun hatten oder mit einem ernster zu nehmenden Psycho-Fall, der sich zu einer Bedrohung auswachsen könnte. In jedem Fall musste man diesen Menschen vor sich selbst schützen.

Der junge Ermittler konfrontierte Viktoria mit der Selbstanzeige ihres Gatten. Sie bekam einen Lachanfall. Das machte die attraktive Frau dieses merkwürdigen Mannes noch attraktiver. Plötzlich wurde Frau Sandhauser ernst. Es wäre geradezu absurd, einen Überfall auch nur in Erwägung zu ziehen. Dazu sei Karl aus vielen Gründen niemals in der Lage. Er brächte es ja nicht einmal fertig, die Brötchen beim Bäcker eine Stunde später zu bezahlen, wenn ihm ein paar Cent fehlten. Solch ein Mensch sollte einen Banküberfall begehen können? Viktoria verzog verächtlich die Lippen. Er sollte sich doch umschauen: Sie lebten in wirklich sehr guten Verhältnissen und ihr Mann hätte einen festen Job. Aber das wäre ihm ja sicher bekannt. Mal im Ernst, glaubte er tatsächlich, dies wäre das klassische Profil eines Bankräubers? Hätte er das etwa auf der Polizeiakademie gelernt?

Jan Treblinski war von der klugen und etwas ungestümen Rede durchaus beeindruckt. Was diese Frau sagte, hatte Hand und Fuß. Nichts, was hier auch nur ansatzweise den Anschein von krimineller Energie erweckt hätte. Und Jan hatte eine gute Nase für Täter. Davon war er selbst fest überzeugt. Durchaus auch einen Riecher für Täter in Nadelstreifen, die noch ganz andere Dinger drehten. Letzte Sicherheiten gab es natürlich nie, und alle Indizien mussten sauber geprüft werden. Der private Anteil seiner Person prüfte sich selbst und bemerkte, dass er dieser Frau gerne zuhörte. Sie hatte eine Art Temperament und Kampfeslust in ihrer Stimme, die irgendetwas in ihm auslösten. Irgendetwas Reizvolles, auf das er stand. Schade, dass solche Begegnungen unter solchen Umständen stattfinden mussten. Und noch viel bedauerlicher, dass dieses Vollblutweib offenbar nicht nur Mutter von drei Kindern war, sondern dazu auch noch ihren Mann liebte und eine standhafte Verteidigungsrede hielt. In festen Händen, in festen Verhältnissen. Wirklich sehr schade.

Urplötzlich wehte in Treblinskis Kopf ein Gedankenfetzen vorbei, den er an seinen ausgefransten Rändern gerade noch erhaschte, während er weiter mit Viktoria die Befragung durchführte. Er kam sich als frei lebender Single plötzlich mickrig und verlassen vor.

Ihr Mann wäre psychisch kerngesund, meinte seine Frau. Jedoch wäre aus ihm in den letzten Monaten wie aus dem Nichts heraus ein Spieler geworden. Treblinskis Augenbrauen wölbten sich. Nein, keiner von der pathologischen Sorte, konstatierte sie mit gehobener Stimme, damit es ja keine Missverständnisse gäbe. Ihr Mann wäre von jener seltenen Sorte, die nicht nur wusste, wann man aufhören sollte, sondern zudem von einer irrwitzigen Glücksträhne heimgesucht wurde. Wohlan! So ein Glück aber auch. Wirklich beneidenswert. Wann gäbe es das schon! Damit wiederum hatte sie Recht. Außerdem wäre diese Spielerei schon wieder Vergangenheit. Aha! Treblinskis Zweifel schienen sich zu bestätigen. So schnell also. Trotz der Gewinne.

Sie würde es fast bedauern, dass er ausgestiegen war, da das Spielen ja legal wäre. Und wenn er ihr nicht glaubte, bräuchte er doch nur die Bänder der Überwachungskameras in den umliegenden Kasinos zu sichten. Es wäre ja geradezu unvermeidlich, dass er darauf zu sehen war. So was täte die Polizei doch immer. Sichten, alles sichten. Überall diese Kameras. Also in den Freitagabend-Krimis jedenfalls würde das immer so dargestellt. Immer und überall Überwachungen. Und überhaupt wäre man doch schon längst in einem totalen Überwachungsstaat. Ob er das nicht auch fände. Selbst, wenn er als Polizist da rein beruflich voreingenommen wäre. Also, so ganz allgemein gesprochen, politisch und so. Ob er verstehe, was sie meinte. Alles hätte doch auch eine politische Dimension. Da ginge doch kein Weg dran vorbei. Man müsse die Dinge nur einmal konsequent zu Ende denken. Überhaupt läge das Desaster der Welt am nicht ausreichend gründlichen Denken. Oder ob er das anders sehe? Und Glücksspiel wäre ja nicht nur legal, sondern würde doch staatlich betrieben. Steuereinnahmen! Letztlich würde auch sein Kommissarsgehalt davon bezahlt. Ob er sich das denn eigentlich mal klar gemacht hätte? Ihr Mann sorgte sozusagen in besonderer Weise für die Sicherheit seiner Beamtenbezüge. Insofern würde gerade er doch besonders viel für Polizisten tun, ganz legal. Und voll cash.

 

Jan Treblinski holte tief Luft. Er hoffte, damit zugleich Viktorias Lungen zu füllen, die doch komplett leer sein mussten, so wie dieses Stakkato von Argumenten über ihn hereinbrach. Aber sie redete immer weiter, so dass es ihm vorkam, als wäre er nun der Verhörte und Viktoria nähme ihn ordentlich in die Zange. Unter anderen Umständen durchaus eine reizvolle Vorstellung, hier jedoch unangebracht bis gefährlich. Er musste seine Sinne zusammenhalten. Was war nur los mit ihm?

Jetzt erwähnte sie die Schlafstörungen ihres Gatten, die zwar mit seiner sonstigen Gesundheit nichts zu tun hätten, ihr aber schon seit einiger Zeit Sorgen machten. Auch wäre nach dem Überfall in der Bank für ihn alles anders geworden, was man sich ja nun auch leicht vorstellen könne. Er könne sich das doch wohl leicht vorstellen!? Eine fast drohende Nachfrage, die Jan sicherheitshalber schnell mit Kopfnicken beantwortete. Ihr Mann wäre mit den vielen Eindrücken der letzten Monate, der Glücksträhne, dem Überfall auf der Arbeit, dem häuslichen Alltagsstress mit den drei Kindern einfach überfordert gewesen und lediglich einem ganz natürlichen und quasi unvermeidlichen Überlastungssyndrom anheimgefallen. Er wäre in einer kleinen Lebenskrise und bräuchte vermutlich nur Urlaub und Ruhe. Nur so wäre sein Wunsch nach Verhaftung zu deuten. Eine reine Projektion. Sie kenne sich aus mit Projektion. Ihre Freundinnen litten auch darunter. Abwehrmechanismen. Nicht nur gegen die Frauen. Nein, schlimmer, gegen sich selbst. Das wäre das Ärgste. Oh, die Projektionen, wenn sie unerkannt blieben! Dann würde es gefährlich. Und die Nerven! Ob er sich auch mit den Nerven auskenne? Überall gab es Paranoia. Das musste ihm doch schon aufgefallen sein. Er käme doch viel herum. Aber sie wolle sich hier und jetzt erst mal kurz fassen. Im Präsidium könne sie ihm gern ausführlich Auskunft geben. Und er solle sich doch jetzt endlich einmal dazu äußern. Er schweige und schweige. Das käme ihr ja schon wie ein Verhör vor. Warum er denn überhaupt nichts sage?

Oh, diese Frau! Welch ein Weib, welch eine Kanaille und Kämpferin! So würde er auch einmal gerne geliebt werden. Dafür lohnte sich tatsächlich ein Verbrechen. Soweit seine rechte Hirnhälfte. Seine linke dachte: Alles, was die Schöne hier schildert, klingt glaubwürdig. Unabhängig davon, dass sie.ein wenig gaga ist. Ihre Attraktivität schmälerte dies keinesfalls, wenngleich ihr Wesen auf Anstrengung hindeutete. Vielleicht war alles viel einfacher als gedacht! Ein spontaner psychotischer Ausraster eines überlasteten Angestellten in einer komplex und anstrengend gewordenen Welt.

Vermutlich würde man diesen Fall schnell abschließen können. Eigentlich schade. Dann würde er auch Frau Sandhauser nicht mehr sehen. Aber so war das Leben.

Jan bat Viktoria mit aufs Präsidium und machte ihr Hoffnung, dass durch ihre Aussagen, die sie aber nochmals schriftlich zu Protokoll geben müsste, eventuell ihr Mann sogar direkt entlassen werden könnte. Er glaubte nicht, dass er dem Haftrichter vorgeführt würde, obschon seine Selbstanzeige ein schwerwiegendes Vergehen beinhalten würde.

5.

Karl wurde überwältigt und man ging nicht zimperlich mit ihm um. Er lag keuchend, verschwitzt und mit zerzaustem Haar auf dem Boden und hatte Handschellen an, als ein Paar ihm sehr bekannte knallrote Pumps vor die Augen kamen. Sein Blick wanderte an schlanken Beinen entlang nach oben. Dann starrte er in die entsetzt aufgerissenen Augen von Viktoria.

Was um Himmels Willen war hier eigentlich los? Auch ohne die Frage verbalisieren zu müssen, stand sie wie ein großes Fragezeichen in Viktorias Augen. Was immer auch los war, es war grässlich. Karl strampelte hilflos wie ein Käfer, was der gesamten Situation etwas Peinliches gab, wäre da nicht diese stöhnende Frau mit aufgerissener Bluse am Waschbecken. Sie sah, wie sich in aller Öffentlichkeit drei Polizisten an ihrem Oberkörper zu schaffen machten, was Viktorias Sinne für den Augenblick überforderte. Diese Situation wirkte weder eindeutig noch zweideutig auf sie, sondern einzig undeutbar, was das unausgesprochene Fragezeichen auf ihrem Gesicht kursiv unterstrich.

Sekunden später wurde Viktoria von hinten fast umgerannt, als vier Sanitäter sich der Sache mit dem Oberkörper der halbentblößten Frau annahmen, die ein merkwürdiges Stöhnen von sich gab. War sie in eine interne obsessive Situation bei der Polizei hineingeraten? Gab es so etwas hier auf diesem Präsidium? War Karl am Ende Zeuge einer versuchten Vergewaltigung geworden und man wollte ihn jetzt mundtot machen? Was hatte er gesehen, das er nicht hätte sehen sollen? Man wusste doch, dass die armen jungen Dinger unter den männlichen Polizeikollegen einen schweren Stand hatten.

Inzwischen kümmerten sich zwei Polizisten um den immer noch strampelnden Karl, den sie vom Boden aufklaubten wie einen faulen Apfel. Die beiden Sanitäter wiederum verdrängten die Schar der Polizisten um das Busenzentrum der jungen Kollegin, öffneten ihre Koffer und begannen ihr christliches Werk. Die tiefen Seufzer der Frau durchstießen die Stille im Raum, und kein barmherziges Klingeln der sonst nie stillstehenden Telefone erlöste sie.

Karl wurde abgeführt und in einem Auto fortgebracht. Aber wieso war der Wagen nicht blau, sondern weiß? Und wieso waren die Ausnüchterungszellen nicht hier im Präsidium, falls man annahm, dass Alkohol im Spiel war?

Viktoria war schon während der Fahrt mit dem netten jungen Beamten klar gewesen, dass hier Einiges nicht stimmte. Sie war mit der Gewissheit aufs Präsidium gekommen, mit ihrer Aussage die Sache kurzerhand klären zu können und ihren Karl mit nach Hause zu nehmen. Und nun dieses Desaster!

Hatte Karl am Ende etwa die Frau tätlich angegriffen und irgendwie nach ihrem Busen gegrabscht? Das war doch nicht Karls Stil! Aber einen nicht begangenen Banküberfall zu gestehen, ebenfalls nicht. Alkoholische Exzesse waren ihm immer zuwider gewesen. Also blieben nur Drogen. Irgendeiner seiner neidischen Bankkollegen musste ihm etwas in den Morgenkaffee gemischt haben. Und dann musste irgendetwas passiert sein, was ihn ins Präsidium geführt hatte. Es gab keine andere Erklärung. An die, die sie schnippisch und schnell dem sehr netten Beamten gegeben hatte, glaubte sie ja nicht wirklich. Das mit der psychischen Belastung war doch nur eine taktische Ausrede von ihr. Ihr Karl war kerngesund. Er hatte doch sie! Seelsorgerin, Hausärztin, Gespielin und Mutter seiner begabten Nachkommen. Karl war mitnichten in einer Midlifecrisis, sondern im Gegenteil in einer enormen Glückssträhne. Die Polizei war dabei, durch schiere Überreaktion ihr Leben zu zerstören. Wie war noch der Name des freundlichen Polizisten? An ihn würde sie sich wenden. Er konnte gut zuhören. Und endlich mal einer, der sie ausreden ließ!

Als sie von Jan Treblinski zwecks Protokollierung ihrer Aussagen vernommen wurde, hatte sie das Gefühl, von ihm sehr wohlwollend und äußerst zuvorkommend behandelt zu werden. Ihr Mann, so sagte er ihr, wäre vorübergehend in der Psychiatrie, wo man ihn gründlich untersuche. Dann würde man weitersehen. Er hätte mit heißem Kaffee einen tätlichen Angriff auf die junge Beamtin ausgeführt. Sie läge nun mit Verbrennungen zweiten Grades im Krankenhaus. Keine lebensgefährliche, aber eine sehr schmerzhafte Verletzung für die Kollegin, die ihr Mann wohl juristisch zu verantworten hätte – falls man ihn nicht für unzurechnungsfähig erklärte.

Viktoria, die ewige Siegerin, begann die Fassung zu verlieren und weinte leise. Der junge Beamte sah ihr schweigend zu, stand dann auf, ging um den Schreibtisch herum auf sie zu und legte tröstend seine Arme um sie. Diese Berührung jedoch erschütterte sie erst recht, und sie begann hemmungslos zu schluchzen.

6.

Karl wurde zunächst durch Medikamente ruhig gestellt. Sein Einzelzimmer in warmen Farben war nicht nur sonnendurchflutet, sondern bot zugleich einen freien Blick auf einen wunderbaren alten Park. Die Pfleger und Ärzte waren freundlich zu ihm. Vielleicht auch verordnet freundlich. Man konnte seinen eigenen Urteilen in solchen Anstalten ja nicht wirklich trauen. Viktoria brachte ihm am nächsten Tag Kleidung, einen dicken Packen Papier und Stifte, Bücher, Zeitschriften und dicke Küsse von den irritierten und etwas verängstigten Kindern zu Hause.

Sie hatte ihnen noch nicht das ganze Ausmaß der Ereignisse geschildert. Aber sie fühlten, dass da noch mehr sein musste, als das, was man ihnen sagte. Nathan meinte, scheinbar cool, der Alte solle in der Klapse einfach mal ein wenig rumchillen, das würde ihm sicher guttun. Und Mikosch pfefferte, leiser als sonst, dazwischen, dass er es voll krass fände, dass Papa einen Bankraub gestehen würde, den er gar nicht begangen hatte. Das wäre echt mal ‘ne Neuigkeit für seine Freunde. Aber Viktoria verbot ihm, das jetzt weiterzutragen. Es würde sich hier um eine sehr ernste Sache handeln, und die Situation wäre schon schwierig genug.

Karls Erinnerungen an die gestrigen Vorkommnisse lagen hinter einer dichten Nebelwand. Bilder stiegen auf, vermischten sich mit Szenen, die er nicht zuordnen konnte. Es musste an den Spritzen liegen, die man ihm gab. Bei all dem fühlte er sich nicht schlecht. Nur müde und benommen war er. Da waren Gespräche, fremde Menschen, schreiende Polizisten. Einmal sah er eine rote Bluse, über die weißer Kaffee lief. Und dabei lachte eine junge Frau. Dann regnete es Papiere auf die Straße und Viktoria sah ihn ganz böse an. Er wusste nicht wirklich, was los war, ahnte nur, dass all diese merkwürdigen Bilder mit einem gescheiterten Plan zu tun haben könnten. Nach einer kurzen Zeit fiel er wieder in traumlosen Schlaf.

Ein Pfleger weckte ihn und brachte das Essen. Karl war froh, es in seinem Zimmer einnehmen zu dürfen. Die Gesellschaft fremder Menschen wäre ihm im Moment unerträglich gewesen. Er konnte sich selbst so viele Menschen sein, wie er nur wollte. Sein altes Spiel, das er schon bei seinen Hüttenträumen und früher als Kind gespielt hatte. Er war, was er fühlte. Mit der Vorstellung, ein Afrikaner oder ein Chinese zu sein, ließ sich die Form seiner Lippen oder die Augenstellung von einem Augenblick zum anderen verändern. Er konnte sich die jeweilige Menschengattung bis in die feinsten Nuancen der Hautbeschaffenheit und des Teints fühlbar machen. Diese wunderbare Magie beschäftigte ihn im Moment besonders intensiv. Der Pfleger kam wieder herein und sah, dass er das Essen nicht angerührt hatte und offenbar schon wieder eingeschlafen war.

Für den Pfleger Sven war dies eine alltägliche Situation, vor allem dann, wenn sediert werden musste und diese Menschen vorher clean waren. Da wirkte alles im Organismus noch stärker und Appetit war in der Regel das letzte, was man in dieser Phase hatte. Der Appetit kam bei der Gesundwerdung. Und dann häufig in einem fast beängstigenden Maße. Karl hörte eine Stimme seinen Namen sprechen, öffnete die Augen, sah einen freundlichen Jüngling mit einem blonden Pferdeschwanz. Dann glitt er zurück in seine soeben neu erschaffene Menschheit. Dort hatte er gerade Wichtiges zu tun, und der Pfleger aus der anderen Welt sollte sein eigenes Werk weiter verrichten. Mit einer schwachen Geste der rechten Hand winkte er ihn freundlich von dannen, in der Art, wie Könige dies mit ihren Bediensteten tun. Dass Sven mit dem Tablett leise verschwand und die Tür verriegelte, bekam Karl nicht mehr mit. Er hatte gerade ein neues Amt als Häuptling der Cayuse übernommen, einem Volksstamm der Penutis im wilden, wenig frequentierten Teil der Rockys.

Ein anderes Mal kam die Sonne Karl besuchen. Sie hüpfte an der rechten Seite des Fensters herein auf den Stuhl. Dabei federte sie leicht ab und sprang direkt vor seine Füße. Sie war 15 Zentimeter groß. Dann plusterte sie sich auf, bis sie so breit war wie das ganze Bett. Wollte sie damit etwa angeben? Sie war jetzt zirka 1,80 m groß. So ungefähr wie er, wenn er keine Schuhe anhatte. Karl lag ganz still und blinzelte. Er merkte, dass sie etwas vorhatte. Einfach nur so in seinem Zimmer herumzuscheinen, schien ihr nicht zu genügen. Wie von Zauberhand hob sie langsam die Bettdecke am Fußende hoch und wärmte seine kalt gewordenen Fußsohlen und kitzelte sie dabei. Das war wunderschön. Karl wollte sich bedanken, aber seine Augenlider fielen zu. Als Karl wieder wach wurde, war es dunkel. Es klopfte an der Tür. Sven kam mit Saft, Obst und Medikamenten. Karl war alles recht, und er griff zu. Hier war es schön. Hier wollte er bleiben. Am besten sollte ihn nur niemand ansprechen. Sven sprach nicht viel, das machte ihn sehr sympathisch. Er lächelte nur und half ihm zur Toilette. Ob er Gedanken lesen konnte? Nach dem Toilettengang war Karl erschöpft und schlief wieder ein.

 

Dann war die Sonne wieder da. Diesmal schien sie ordentlich durchs Fenster und benahm sich wie die Sonne, die die meisten Menschen kennen. Sie stand am Firmament und wanderte sehr gemächlich um die Erde herum. Zumindest hatten das die Menschen im Mittelalter geglaubt, bis man herausfand, dass alles ein immerwährendes Drehen und Fließen war. Selbst die sogenannten Fixsterne waren da keine Ausnahme, wenn man sie nur lange genug beobachtete. Wenn sich aber alles um alles und zugleich um sich selbst dreht, war es doch kein Wunder, dass viele Menschen durchdrehten. Es lag vermutlich allein an dieser kosmischen Gesetzmäßigkeit des zwanghaften Drehimpulses, dass es so schöne Kliniken wie diese gab. Vielleicht war er auch durchgedreht. Er wusste es nicht. Aber hier zu sein, war schön. Das erlebte er. Was man erlebt, muss man nicht noch zusätzlich erklären.

Karl hatte Durst und bediente sich an Tee und Säften. Hier war man fürstlich versorgt. Seine Gedanken waren nicht mehr ganz so trübe und er erinnerte sich nach und nach, wo und warum er hier war. Er versuchte sich auch daran zu erinnern, ob Viktoria ihn hier schon einmal besucht hatte, und wie viel Zeit überhaupt vergangen war, seit ihm im Polizeipräsidium so schlecht geworden war. All diese Ereignisse bekam er nicht mehr ordentlich sortiert. Man würde ihm sicher dabei helfen, alles zu rekonstruieren. Was er als Einziges ganz klar wusste, war, dass er zum Schreiben ins Gefängnis gewollt, einen Überfall erfolgreich durchgeführt und es geschafft hatte, das Geld für die Familie sorgsam anzulegen. Hier waren die Erinnerungen völlig ungetrübt. Was ihm fehlte, war nur das kleine Stück zwischen einer im Zimmer herumhüpfenden Sonne und der Übelkeit im Präsidium, als er am Boden lag. Wie und warum er dort lag, wusste er nicht mehr. Totaler Blackout. Eine gänzlich neue Erfahrung, die mit in seine Werke einfließen würde. Eine spannende Filmriss-Geschichte. Aber erst einmal musste er einen klaren Kopf bekommen. Er fühlte sich zwar schon ein wenig besser, aber immer noch schwach.

Erstmalig sah er sich genauer in seinem Krankenzimmer um. Dabei schweifte sein Blick über die Äste mächtiger Bäume, die nach seinem Fenster zu greifen schienen. Im Stil eines englischen Landschaftsparks hatte ein Gartenkünstler eine wunderschöne Anlage geschaffen. Die Bäume standen friedlich herum wie Wächter, die auf ihre kleinen dummen Menschenkinder aufpassten. Eine ältere Dame saß allein auf einer der Parkbänke. Karl bemerkte, dass sie die Lippen bewegte. Hin und wieder sprach sie zu jemandem, der aber für Karl nicht sichtbar war. Ob sie mit sich selber sprach oder ob sie wie er die Fähigkeit hatte, sich nach Belieben eine eigene Menschheit zu erschaffen, wusste Karl nicht. Aber es war faszinierend, und so unglaublich natürlich. Ein Mensch, der zu sich selber sprach oder zu einem Unsichtbaren. Karl verstand das sehr gut. Auch er war manchmal viele. In einer Ecke des Parks standen zwei Raucher. Einer war jung, um die zwanzig. Der andere war fast doppelt so alt. Sie rauchten schweigend. Da also waren zwei, die hätten sprechen können, aber es nicht taten. Zwei, die niemand waren? Die kein Gespräch suchten, obschon sie doch zwei Münder hatten? So merkwürdig war die Welt gestrickt.

Zwei Frauen in unbestimmbarem Alter hatten sich untergehakt und gingen spazieren. Die eine führte die andere und sprach immerzu weiter auf sie ein. Und diese nickte hin und wieder und schaute zu Boden. Sie schienen gar keinen Blick für die Schönheit dieses Parks zu haben. Auch hatte man als Beobachter ein wenig das Gefühl, dass die andere nicht zu Wort kam, selbst wenn sie das Bedürfnis danach gehabt hätte. Hin und wieder nickte sie und ließ sich weiter führen, als könne sie nicht alleine gehen. Aber das glaubte Karl nicht wirklich. Ihre Führerin war augenscheinlich stark und dominant. Vielleicht eine gesunde Freundin auf Besuch bei einer Patientin? Oder waren sie beide Patientinnen? Vielleicht würde er es irgendwann herausfinden. Jedenfalls wollte er hierbleiben. Möglichst fünf Jahre. Hier war es wirklich schön.

Es klopfte. Karl erschrak. Er war so in die Parkszenerie vertieft, dass er seine eigene Anwesenheit vollkommen vergessen hatte. Als hätte er durch ein Schlüsselloch in eine fremde Welt geschaut, die ihn persönlich nicht das Geringste anging, jedoch eine fesselnde Wirkung auf ihn ausübte. Das Geräusch an der Tür machte ihm schlagartig bewusst, dass er hier in der Psychiatrie war, und dass es gerade klopfte. Daraus war zu schließen, dass jemand etwas von ihm wollte und gleich vor ihm stehen würde. Alles ging noch langsam in seinem Kopf vonstatten. Das Öffnen der Tür erfolgte von außen, weil er ja in der geschlossenen Abteilung war. Oder irrte er? Er hatte es ja noch nicht einmal probiert, ob er sie auch von innen hätte öffnen können.

Sven stand wieder vor ihm. Den Namen hatte er erstaunlicherweise behalten können. Vermutlich weil der Junge so sympathisch war und kaum ein Wort verlor. Außerdem war der Name in blauer Schrift auf den weißen Kittel gestickt. Sven Langner. Sven. Sven hatte sich ihm wohl schon mehrfach vorgestellt, wie Karl sich zu erinnern meinte. Vermutlich sprach man sich hier mit Vornamen an. Für die Ärzte würde das aber sicher nicht gelten. Sven hatte das Blutdruckmessgerät in der einen Hand. Mit der anderen bugsierte er seinen Medikamentenbauchladen, und er hatte offenbar gute Laune. Er informierte Karl darüber, dass in einer halben Stunde für ihn die erste große Arztvisite anstand, wo man auch das erste intensive Gespräch mit ihm führen wollte. Ob er sich dem gewachsen fühle. Das wusste Karl nicht. Er hatte keine Lust zu Sprechen. Er wollte nichts wissen. Eigentlich wollte er nur schön versorgt in diesem hellen Zimmer mit Blick auf den Park bleiben. Er wollte von hüpfenden Sonnen träumen und sich nicht rechtfertigen müssen. Und er mochte auch weiter die Spaziergänger beobachten dürfen. Hier oben aus dem Zimmer. Nicht zu nah. Er wünschte, Sven würde wieder gehen und ihn hier einriegeln. Aber das sagte er nicht. Das dachte er nur, während Sven seine guten Blutdruckwerte bestätigte. Keine Zigaretten, kein Alkohol, Normalgewicht – wo sollten auch schlechte Körperwerte herkommen. Mit der seelischen Gesundheit würde man sehen. Was das anging, war Karl insofern unsicher, da ihm entscheidende Informationen fehlten, und auf seine Erinnerungsfähigkeit derzeit tatsächlich kein Verlass war.

Auf dem Weg zum Arztzimmer stieg plötzlich Panik in ihm hoch. Was, wenn er hier nur einige wenige Tage verbringen durfte und dann wieder nach Hause entlassen würde? Eine Horrorvorstellung nach allem, was er in den letzten Monaten durchgemacht hatte. Er wollte nicht mehr zurück. Nicht mehr zu seiner Familie und erst recht nicht mehr in die ihm unerträglich gewordene Bank. Er hatte doch nun wirklich alles getan und vorgesorgt. Sie mussten doch auch ohne ihn klarkommen können. Die Einzelheiten der finanziellen Versorgung konnte er aus dem Effeff abspulen, und musste dies auch immer wieder zwanghaft tun, um sich selbst zu beruhigen. Sie waren versorgt! Er durfte gehen! Er konnte auf keinen Fall zu ihnen zurück. Das hieß, so folgerte er schnell, bevor er das Arztzimmer betrat: Ich muss ein so braver Patient sein, dass ich hier nicht negativ auffalle. Ich muss aber auch ein so kranker Patient sein, dass sie mich nicht rausschmeißen können! Keine komischen Dinger. Nur nicht auffallen. Schön krank bleiben. Unauffällig und krank. Solange es geht.

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